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Es war in der Frühnachmittagsstunde eines der letzten Septembertage, als aus dem Portal des Hotel d'Angleterre in Baden-Baden eine junge Dame trat, ihren gewohnten Spaziergang zu machen. Sie zögerte einen Moment auf der obersten Stufe, warf einen Blick nach dem wolkenlosen Himmel, aus dem die Sonne von links her glühende Strahlen sandte, knöpfte den obersten Knopf an ihrem Handschuh zu und spannte den Schirm auf. Der alte Portier, der in der Thür gelehnt und sich, als er die junge Dame erblickte, schnell aufgerichtet und sie ehrfurchtsvoll gegrüßt hatte, trat an sie heran. Ich hoffe, das gnädige Fräulein ist mit den Zimmern für die erwarteten Herrschaften zufrieden? sagte er.
Ich danke Ihnen, erwiderte die junge Dame; es ist alles, wie Mama und ich es nur wünschen können.
Es war nicht leicht, fuhr der Mann fort; es sind für heute noch sechs weitere Bestellungen da; wir werden drei abweisen müssen.
Um so mehr danke ich Ihnen; sagte die junge Dame.
Keine Ursach', gnädiges Fräulein, erwiderte der Alte mit höflich wohlwollendem Lächeln; man hat ja seine Gäste, für die man sorgt. Wir bekommen zu morgen noch ein ganz hübsches Zimmer in derselben Etage, freilich auch nach dem Hofe; aber das gnädige Fräulein brauchte dann doch nicht immer die vier Treppen zu steigen, und –
Nein, nein, sagte die junge Dame hastig; ich danke Ihnen; ich bin gern da oben – sehr gern. Der Zug kommt um fünf – nicht wahr?
Zehn Minuten nach fünf; es ist jetzt halb vier.
Dann muß ich mich beeilen.
Die junge Dame nickte freundlich, stieg die Stufen hinab und wandte sich links nach der Brücke. Der Alte kraute sich in dem kurzen grauen Haar, bevor er die Mütze wieder aufsetzte und zu seinem Lieblingsplatz am rechten Thürpfosten zurückschritt.
Wieder ein bischen Cour geschnitten? sagte der Oberkellner, der aus dem Vestibül die kleine Scene beobachtet hatte und sich jetzt an den andern Pfosten lehnte.
Seien Sie nur still! brummte der Alte.
Weil ich Ihnen Konkurrenz mache? sagte Jean, an seinem Kotelettbart zupfend; na ja: sie ist auch nett; das heißt: hübsch ist sie eigentlich gar nicht. Ich möchte nur wissen, weshalb sie partout da oben zwischen den Passanten bleiben will; ich habe ihr nun schon viermal ein anderes Zimmer angeboten. Na, meinetwegen. Haben Sie den Wagen an die Bahn bestellt? auch einen Gepäckwagen?
Bekümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten! sagte der Alte.
Jean richtete sich in den Hüften auf.
Sie denken, weil Sie vierzig Jahre hier sind –
Just so, sagte der Alte.
Ein hochgewachsener Engländer, der, seine Dame am Arm, die Stufen zum Portal herauf kam, war plötzlich stehen geblieben, winkte seiner Begleiterin mit den Augen nach dem jungen Mädchen, das eben langsam über die Brücke schritt, und fragte dann, sich zu dem Oberkellner wendend, auf englisch: Wer ist die Dame?
Jean beeilte sich, Mister Douglas zu berichten, daß die Dame Fräulein Kora von Remberg heiße und mit ihrer Mutter, der Frau Generalin von Remberg, seit drei Wochen in dem Hotel wohne. Die Herrschaften erwarteten in einer Stunde ihre Verwandten, den Herrn Baron Osseck-Ossecken und dessen Frau, welche eine Tochter der Frau Generalin sei. Der Herr Baron hätte die Zimmer bereits vorgestern telegraphisch bestellt, und das sei der Grund, weshalb Mister Douglas mit dem zweiten Stock –
Thank you, sagte der Engländer. Er hatte, während Jean sprach, unverwandt der Davonschreitenden nachgestarrt, die nun, nachdem sie die Brücke passiert, nach links in die Promenade einbog und hinter dem Buschwerk verschwand.
Well? sagte er zu seiner Begleiterin.
Very ladylike, erwiderte diese.
She is a lady, sagte der Engländer mit Nachdruck. Ueber das schöne stille Gesicht der Dame flog ein Schatten; aber sie erwiderte nichts, als sie nun neben ihrem Begleiter die Treppe vollends hinaufstieg und mit ihm in das Portal trat.
Unterdessen hatte Kora nur wenige Schritte in der Lichtenthaler Allee gemacht, als sie wieder umkehrte und den Weg einschlug zwischen den Verkaufsbuden des Kurgartens und dem Theater. Die Promenade war heute noch belebter, als es wohl sonst um diese Stunde der Fall war, und Kora verlangte heute noch mehr als sonst nach Einsamkeit. Die aber, wußte sie, würde sie auf der schönen Seitenstraße finden, die vor dem Meßmer'schen Hause sich von der Kaiserstraße abzweigt. Nun wandelte sie langsamer aufwärts zwischen den prächtigen Villen und Villengärten zur Rechten und den herrlichen Anlagen der Promenade zur Linken. Niemand begegnete ihr; die tiefe Stille rings umher schien ein seltener Vogellaut aus den Bäumen zu ihren Häupten, aus den Büschen an der Wegseite nur noch stiller zu machen. Sie hätte sich jetzt ungestört die Scene des Wiedersehens, die ihr nun so nahe bevorstand, ausmalen, über die Verhältnisse, wie sich dieselben in dem Zusammenleben für alle Beteiligten gestalten würden, nachdenken können; aber sie vermochte es nicht zu klaren Bildern, zu festen Gedanken zu bringen, während sie so, gesenkten Hauptes, sinnend dahinschritt und nun, der vergeblichen Anstrengung müde, mit großen umflorten Augen durch eine Parkpforte auf grüne, sonnenüberglänzte Rasenhänge, schattige Bosketts und eine Villa starrte, die da oben zwischen düstern Tannen weißlich hervorschimmerte.
Plötzlich zuckte sie zusammen: auf dem Balkon der Villa, trotz der Entfernung ihren scharfen Augen wohl erkennbar, war aus der offenen Fensterthür eine Dame herausgetreten, die ein kleines Kind auf den Armen trug und so auf dem Balkon langsam hin und her zu gehen begann. Ein Herr erschien in der Thür, sich an den Pfosten lehnend. Die Dame mit dem Kinde blieb vor ihm stehen; der Herr bog sich wieder und wieder zurück, so daß das zappelnde Kind mit den Händchen anstatt in seinen Bart in die Luft griff, bis er sich dann endlich fassen und zausen ließ. Durch die sonnige Stille drang das lustige Krähen des Kindes hell bis zur einsamen Schauerin an der Parkpforte.
Für sie aber war in dem Moment ein dichter Schleier über das liebliche Bild gesunken; sie hatte sich hastig abgewandt, ihren Weg fortsetzend, unwillig die Thränen zwischen den Wimpern zurückdrückend. – Schämst du dich nicht? sprach sie zu sich selbst; ist das die Festigkeit, die du dir gelobt hast? Der Gleichmut, den du dir, den du den geliebten Beiden schuldig bist und bewahren mußt, komme, was komme, sollen sie nicht dein Geheimnis entdecken, dir zur Qual, ihnen zum tiefsten Kummer? Dein Geheimnis? Aber es ist ja nicht mehr deines; du teilst es ja mit einem andern, der dir dafür freilich auch seines preisgegeben hat! Gott sei Dank, daß es in seinem edlen Herzen sicher geborgen ist, wie seines in dem meinen! Aber mein Herz ist nicht edel – nein! unedel, egoistisch, neidisch. Wie könnte es sonst jetzt übergeflossen sein! Was soll geschehen, wenn du nun nicht das Abbild ihres Glückes an fremden Leuten – wenn du sie selbst sehen, ihr Glück vor Augen haben wirst Tag für Tag, Stunde für Stunde?
Sie stand am Ende der Straße. Ursprünglich hatte sie dieselbe auch für den Heimweg benutzen wollen; jetzt aber scheute sie sich, die Stelle abermals zu betreten, auf der sie schaudernd hatte entdecken müssen, wie schwach ihr Herz sei, das sie für so stark gehalten. Von der Straße links ab führte eine Steintreppe zwischen Weimuthskiefern in die breiten Anlagen, die sich rechts neben der Allee und der Promenade hinziehen. Auch die Anlagen pflegten um diese Stunde belebt zu sein, doch minder als die Promenade selbst, auf der sie zuletzt nur noch wenige Schritte bis zu ihrem Hotel hatte. Sie stieg die Treppe hinab, innerhalb der Anlagen, in welche sie nun gelangte, die einsamsten Pfade wählend, ohne freilich vermeiden zu können, daß sie hier und da einzelnen Spaziergängern begegnete. Sie fühlte sich von dem kurzen Gange, völlig gegen ihre Gewohnheit, matt und erschöpft und hätte gern ein paar Minuten geruht. Aber die wenigen Bänke, welche sie traf, waren von Kinderwärterinnen mit ihren Schützlingen besetzt; sie hoffte, daß der Herr, der ihr in dem schmalen Gange entgegenkam, an der einzigen leeren Bank, welche sie endlich entdeckt hatte, vorübergehen würde. Das war nicht der Fall. Der Herr hatte sich, während sie noch eine ziemliche Strecke entfernt war, bereits niedergelassen; jetzt nahm er den breitrandigen Hut ab, fuhr sich mit dem Taschentuche über die Stirn und saß, Hut und Tuch auf den Knieen, still da, vor sich niederblickend, ohne der sich Nähernden zu achten.
Ein jäher, halb freudiger, halb angstvoller Schrecken durchzuckte Kora: der zwischen den breiten Schultern nach vorn geneigte Kopf, das dichte, glänzend dunkle Haar, die breite weiße Stirn, der kurze schwarze Vollbart – es mußte Professor Escheburg sein!
Er würde, in Sinnen verloren, nicht aufgeschaut haben; er that es erst, als sie, neben ihm stehen bleibend, mit vor Erregung zitternder Stimme seinen Namen nannte. Jetzt aber sprang er empor, beide Hände, denen Hut und Tuch entfallen waren, nach ihr ausstreckend, während die Freude aus seinen schwarzen Augen leuchtete und ein herzliches Lächeln die unregelmäßigen Züge seltsam verschönte.
Sie hier, Fräulein Kora? ja, darf ich wirklich meinen Augen trauen? Wie kommen Sie denn hierher?
Er hatte ihre Hände ergriffen und kräftig gedrückt. Dann hatten sie, indem er sie losließ, um Hut und Handschuhe wieder aufzuraffen, beide auf der Bank Platz genommen. Er schaute sie noch immer mit Augen an, vor deren Glanz sie die ihren, wie schuldbewußt, senkte.
Aber sagen Sie mir, wie in aller Welt kommen Sie hierher? wiederholte er; ich glaubte Sie sicher bereits in Berlin; oder allenfalls noch in Gastein. Aber hier? Warum sind Sie denn nicht wenigstens noch in Gastein geblieben? Ich sagte Ihnen doch: je länger Sie dableiben würden, desto besser.
Kora hob die Augen; es wurde ihr nicht leicht, den glänzenden Blick auszuhalten; aber sie zwang sich dazu und sagte:
Wir sind gar nicht in Gastein gewesen.
Ah! sagte der Professor.
Und auch nicht vorher in Karlsbad.
Oh! sagte der Professor.
Für einen Moment war seine Miene ernst, fast düster geworden; als er aber in das verlegene Gesicht des jungen Mädchens sah, über dessen sonst so klaren, blaugrauen Augen es wie ein trübender Schleier lag, lachte er kurz und hell und sagte, dann sofort wieder ernsthaft werdend:
Nun, Fräulein Kora, was ist's denn weiter? Wir beide sind doch gewohnt, daß von der Seite unsern besten Absichten ein Widerstand entgegengesetzt wird, gegen den Sie, als Tochter, machtlos sind, und ich, als Arzt und Hausfreund, wie Sie sehen, auch nicht viel, oder, sagen wir, gar nichts vermag. Ich will nur wünschen, daß die Unbotmäßigkeit keine üblen Folgen gehabt hat, oder noch hat. Sind Sie die ganze Zeit hier gewesen?
Nein, wir waren vier Wochen in Kissingen.
O weh!
Es ist Mama sehr schlecht bekommen.
Das will ich meinen.
Hier, wo wir seit drei Wochen sind, geht es ihr entschieden besser: sie nimmt die Bäder und trinkt den Brunnen.
Vortrefflich. Ich hätte ihr Baden nicht geraten; indessen unser Wissen ist eben Stückwerk und unser Ordinieren Tappen im Dunkeln. Nun, möge Ihrer Frau Mutter die Quelle hier eine wahre Heilquelle werden, und auch Ihnen, Fräulein Kora. Ich will Ihnen nur gestehen, daß ich mit Ihrem Aussehen gar nicht zufrieden bin.
Mir geht es gut, ganz gut, erwiderte Kora mit unsicherer Stimme; es geht mir ja immer gut. – Und dann, offenbar um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, fuhr sie hastig fort, indem sie niederblickte und mit der Spitze ihres Sonnenschirmes in dem Sande kritzelte:
Aber jetzt weiß ich noch immer nicht, wie Sie Ihr Weg über Baden geführt hat. Sie wollten doch Ihre ganzen Ferien in der geliebten Schweiz zubringen und dann direkt nach Hause zurückkehren.
Die Cholera hat mir das Rezept verdorben, sagte der Professor. Ich konnte, als ich in Genf war, der Versuchung nicht widerstehen, einen Abstecher nach Marseille und Neapel zu machen. Sie sehen, Kochs Lorbeeren lassen mich nicht schlafen. Leider hat er uns nur noch wenige zu pflücken gelassen.
Leider?
Nun ja. Trauen Sie mir keinen Ehrgeiz zu? und daß ich es bitter empfinde, wenn ein anderer ein Ziel, das ich so heiß erstrebt, auf einem andern, das heißt dem richtigen Wege so weit vor mir erreicht?
Nein, oder Sie wären nicht der selbstlose, uneigennützige Mensch, der Sie sind.
Sie sehen, meine Moral hat gelitten, seitdem ich von Ihnen entfernt gewesen bin, erwiderte der Professor heiter. Sie müssen mich wieder in die Schule nehmen; und da segne ich meinen Einfall, der mich von Straßburg, wo ich zuletzt war, den Weg hierher nehmen ließ – so recht, um nichts zu suchen. Aber dann findet man ja bekanntlich immer das beste!
Es war ihm aus vollem Herzen gekommen, und er hatte ein Lächeln freundlicher Zustimmung von Kora erwartet. Es nahm ihn ein wenig wunder, daß sie, als hätte sie seine Worte gar nicht vernommen, ohne zu antworten, mit einer halb zerstreuten, halb bekümmerten Miene noch immer vor sich nieder starrte, jetzt den Schirm, mit dem sie bis dahin gespielt, unbeweglich in der Hand haltend.
Sie haben etwas, das Sie bekümmert; sagte er nach einer kleinen Pause. Wollen Sie es dem Freunde nicht mitteilen? Wir haben ja doch sonst vor einander keine Geheimnisse.
Ein tiefer Atemzug hob ihren Busen. Und dann mit augenscheinlich gewaltsamem Entschluß sich zu ihm wendend und ihm in die Augen blickend, sagte sie leise und hastig:
Hilde und Adalbert kommen mit dem nächsten Zuge.
Ah!
Er hatte sich halb von der Bank erhoben, ließ sich aber sogleich wieder sinken und starrte nun, wie sie vorhin, mit einem gespannten, fast finsteren Ausdruck vor sich nieder.
Um nichts zu suchen; murmelte er. Das hätte ich freilich am allerletzten zu finden erwartet oder – gewünscht. Gott sei Dank, noch hat mich niemand gesehen, als Sie allein, und Sie allein wissen, weshalb ich spurlos, wie ich gekommen, wieder gehe.
Und ich?
Eine dunkle Röte schoß ihm in die braunen Wangen bis in die weiße Stirn.
Sie haben recht, sagte er, verzeihen Sie! Es wäre unmännlich, es wäre eine elende Feigheit, wollte ich fliehen, wo Sie bleiben müssen. Ich hatte gehofft, es möchten noch Jahre vergehen, in denen die Wunde ausheilen sollte. Aber bei Menschen, wie wir beide, heilen solche Wunden schwer; wer weiß, ob je. Dennoch haben Sie recht: was Ihnen auferlegt wird, und was Sie, wie ich Sie kenne, geduldig zu tragen entschlossen sind, das darf auch mir nicht zu schwer sein, soll ich nicht Einbuße leiden an Ihrer Achtung, an Ihrer Freundschaft. Das ertrüge ich freilich nicht. Und nun, Fräulein Kora –
Er streckte ihr die Hand entgegen; sie reichte ihm die ihre, ihm jetzt mit offenem Blick in die dunklen Augen sehend, als er mit leise bebender Stimme fortfuhr:
Und nun lassen Sie uns den alten Bund erneuern. Haben wir damals unsere Herzen gebändigt und nach Kräften zu dem Bau des Glückes der geliebten Beiden mitgeholfen, so wollen und müssen wir auch die Kraft haben, uns ihres Glückes rechtschaffen zu freuen. Wann, sagten Sie, daß sie kommen?
Mit dem Fünfuhrzuge.
Es ist jetzt vier.
Er hatte erst jetzt ihre Hand losgelassen, um nach der Uhr zu sehen, indem er sich zugleich mit ihr erhob. Sie gingen auf dem schmalen, sich zwischen den Bosketts hinschlängelnden Pfad der Promenade zu.
Wir werden uns beeilen müssen, wenn wir sie an der Bahn empfangen wollen, sagte der Professor.
Ich werde im Hotel bleiben, erwiderte Kora; Mama wünscht es so.
Ich verstehe, sagte der Professor lächelnd; nur um Himmelswillen keine Konzessionen! keinen unnötigen Schritt entgegen! Auf der Schwelle des eigenen Salons – das ist das Wahre! Wissen Sie, Fräulein Kora, dann gehe ich auch nicht. Das sähe jetzt wie eine Demonstration aus, und ich will mir einmal einbilden, daß es eine angenehme Ueberraschung für Ossecks ist, wenn sie mich post festum auch noch vorfinden. Wo wohnen Sie denn übrigens?
Kora sagte es; der Professor lachte und rief:
Das trifft sich merkwürdig: im Angleterre bin auch ich heute mittag, wenn nicht in Gnaden, so doch aufgenommen, nachdem man mich an drei oder vier andern Stellen mürrisch abgewiesen. Sie sehen, Fräulein Kora: Gott will es, wie die Kreuzfahrer sagten. Und nun erzählen Sie mir: wie hat sich denn das alles so gemacht? Vor acht Wochen dachte man in Ossecken doch noch gar nicht an Reisen, und am wenigsten hätte ich geglaubt, daß man eine so weite unternehmen würde – am Ende gar mit dem Kinde? Nun sehen Sie: das scheint mir, offen gestanden, ein wenig gewagt. Zoppot hätte es auch gethan; ich hatte es ihnen eventuell als das bei weitem Geeignetste vorgeschlagen; ich merke, meine Autorität gilt nichts mehr in Ihrer Familie.
Ich war ebenfalls verwundert über den plötzlichen Entschluß, erwiderte Kora. Hildes Brief kam erst vorgestern – bereits aus Berlin und eine Stunde später auch die Depesche, in welcher sie sich bestimmt Quartier bestellten. Wir müssen doch annehmen, daß es ihr schon lange besser gegangen ist, als wenigstens Adalbert zugeben wollte. Ihre Briefe lauteten ja immer zuversichtlicher und in der letzten Zeit manchmal recht ungeduldig.
Jedenfalls, sagte der Professor, freuen wir uns, daß es endlich so weit ist. Sechs Monate still zu liegen, nachdem man bereits vorher fast eben so lange gelegen, und alles innerhalb zweier Jahre – das ist ein hartes Stück, zumal für ein so blutjunges, lebhaftes und lebenslustiges Wesen, wie Hilde, und schließlich auch ein wenig für Osseck, der doch gerade kein Kopfhänger ist. Ich kenne manches junge Ehepaar, dessen Liebe für solche Prüfung nicht ausgereicht hätte. Bei diesen ist sicher das Gegenteil eingetreten: ein Windstoß, der eine schwache Flamme ausbläst, schürt die kräftige nur zu hellerer Lohe an. Hoffentlich haben sie die lange Reise in kleinen Etappen gemacht, schon des Baby wegen. Lassen Sie sehen – es muß in diesen Tagen acht Monate werden – da kann man noch keine großen Sprünge machen.
Kora mußte innerlich lächeln, wie tiefernst ihr auch zu Mute war. Der Freund hatte zuletzt in einem Ton gesprochen, dem sie deutlich anhörte, wie bei ihm inzwischen vor dem beseligenden Gedanken, die Heißgeliebte wiedersehen zu dürfen, alle andern Empfindungen verblaßt waren. Was er jetzt in einer halben Stunde hatte durchleben müssen: von dem ersten jähen Schrecken bis zu der süßen Bangigkeit, die doch eigentlich nur verschämtes Sehnen war nach dem Anblick der teuren Züge, nach der Berührung der lieben Hand, – ach, sie hatte freilich drei Tage und Nächte dazu Zeit gehabt, aber das Ende war ja ganz dasselbe. Und jetzt glaubte sie auch den Mut zu haben, den schmerzlich süßen Tagen, die bevorstanden, mit heiterer Stirn zu begegnen: sie hatte ja nun einen Kameraden, mit dem sie alles würde teilen dürfen, die Freude und auch den Schmerz. Aber es sollte jetzt nicht mehr von Leid die Rede sein, nur von Freude – heute, morgen und alle Tage!
Dazu gehört freilich, daß Sie hier bleiben; sagte sie aus dem Zusammenhang ihrer Gedanken heraus.
Gewiß, erwiderte er; bis meine Ferien aus sind. Ich muß doch meine schändliche Feigheit von vorhin abbüßen. Das gestehe ich Ihnen freilich offen: ohne Sie, ohne Ihr Beispiel – ich weiß nicht, ob ich aus dem eigenen Herzen den Mut dazu schöpfen könnte. Warum lachen Sie?
Weil Sie genau – aber genau denselben Gedanken aussprechen, den ich soeben gehabt – bloß umgekehrt. Ist das nicht merkwürdig?
Gar nicht. Dasselbe wollen und dasselbe nicht wollen, darin eben besteht die Freundschaft, erklärt Sallust. Er hätte auch sagen können: dasselbe denken und dasselbe nicht denken.
Sie mußten nun doch aus den Anlagen heraus über die Fahrstraße in die Promenade einbiegen, die gerade jetzt von Spaziergängern wimmelte. Escheburg bemerkte, daß sehr viele von den ihnen Begegnenden Kora fixierten, um dann auch ihm einen flüchtigen Blick zu gönnen. Er machte scherzend seine Begleiterin darauf aufmerksam.
Man ist seit drei Wochen gewohnt, mich allein zu sehen, erwiderte Kora; nun freut man sich, daß die Einsame doch endlich auch einen Kavalier gefunden hat.
Den man zweifellos für den Vater der einsamen Schönen halten wird.
Sie sollen nicht immer mit den paar Jahren kokettieren, die Sie vor mir voraus haben.
Fünfzehn Jahre sind keine paar Jahre, das ist ein halbes Menschenalter.
Zwischen Adalbert und Hilde liegen siebzehn.
Die Liebe gleicht alle Differenzen aus, auch die der Jahre.
Warum den Umstand, daß wir nur Freunde sind, so scharf markieren, Herr Professor?
Wieso, mein gnädiges Fräulein?
Indem Sie eine Differenz, die zwischen Hilde und Adalbert bedeutungslos ist, hoch und breit wie eine chinesische Mauer zwischen uns aufzutürmen suchen.
Recht so, Fräulein Kora; Sie können bereits wieder scherzen. Und so lassen Sie uns bleiben: scherzhaft und herzhaft, daß wir mit uns zufrieden sein können, wenn die Kampagne vorüber ist!
Also eine Kampagne doch?
Liebe Freundin, darüber dürfen wir uns keine Illusionen machen: eine Kampagne, in der es manchmal hart hergehen wird. Aber das wissen Sie so gut wie ich. Ist das nicht unser Hotel?
Sie standen vor dem Angleterre. Der Professor blickte nachdenklich zu den Fenstern hinauf.
Ihre Mama wird sich nicht übermäßig freuen, wenn sie hört, daß ich hier bin, sagte er.
Wir wollen ja brav sein.
Freilich.
Sie stiegen die Stufen hinauf; im Vestibül trat ihnen der Portier, der sie hatte kommen sehen, entgegen, Kora eine Depesche überreichend: Soeben! sagte er, und die Frau Generalin haben schon verschiedene Male herunter geschickt, ob das gnädige Fräulein noch nicht zurück seien.
Kora hatte die Depesche mit zitternder Hand geöffnet.
Sie kommen nicht? sagte der Professor.
Doch.
Sie reichte ihm die Depesche zu großer Verwunderung des alten Portier, in dessen Augen der Herr auf No. 97 eine plötzliche ungeahnte Wichtigkeit erhielt.
»Bitte einen Blumenstrauß in Hildes Zimmer«, las der Professor.
Daran habe ich nun wirklich nicht gedacht, sagte Kora, und jetzt muß ich zu Mama. – Sie wandte sich zum Portier.
Können Sie noch schnell Blumen auf das Zimmer meiner Schwester besorgen?
Gewiß, gnädiges Fräulein.
Nein, nein! rief der Professor eifrig. Ich werde das thun. Nicht wahr, Sie erlauben es mir? Ich kenne Hildes Lieblingsblumen; ich werde Ihnen keine Schande machen. Also, auf Wiedersehen!
Er hatte es so eifrig gesagt und eilte davon, ohne Koras Antwort auch nur abzuwarten.
Darf ich dafür sorgen, daß der Herr an der Table d'hote zu Ihrer Gesellschaft kommt? fragte der Portier.
Ich bitte darum.
Langsamen Schrittes stieg Kora die Treppe hinauf.
Er liebt sie noch immer, sprach sie bei sich. Wie könnte es auch anders sein? »In Herzen, wie die unsern, heilen solche Wunden schwer; wer weiß, ob je.«
Sie stand vor der Thür zu ihrer Mutter Zimmer, holte noch einmal tief Atem und öffnete.