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Einundzwanzigstes Kapitel.

Langsam schritt Hilde den Korridor hinab, auf dem heute der Dunkelheit wegen die Lampen brannten. Vor einem der Spiegel blieb sie stehen und blickte ein paar Sekunden in ihr Gesicht. Aber sie wußte nicht, wie sie ausgesehen hatte. Sie wußte auch nicht eigentlich, was sie wollte. Es war ihr, als ob eine Kraft, die sie erfaßt hatte, und die viel stärker war, als sie, sie immer vorwärts schob, so daß sie nur die Füße zu heben brauchte, bis sie vor einer Thür am Ende des Korridors anlangte. Da war es einen Augenblick, als ob die Kraft von ihr weichen wollte; nur einen Augenblick. Dann pochte sie mit festem Finger.

Herein! sagte seine Stimme.

Im nächsten Moment war sie in seinem Zimmer, ohne daß sie hätte sagen können, wie sie hinein gekommen war, und sah ihn. Eigentlich nur seine Augen, aus denen sonst immer seine Seele offen sprach. Heute war es, als ob ein Schleier drüber läge, und was daraus hervor blickte, deuchte ihr nichts weniger als ermutigend. Aber zurück konnte sie nun nicht mehr, und wollte sie auch nicht.

Was führt Dich zu mir? fragte er, indem er ihr zugleich einen Stuhl bot, während er selber stehen blieb. Ist es etwas mit dem Kinde?

Nein, antwortete sie; es handelt sich auch nicht um mich.

Davon bin ich überzeugt, sagte er ruhig.

Das Blut schoß ihr in die Wangen. Das war ein dummer Anfang gewesen, und dabei hatte sie nicht einmal die Wahrheit gesagt. Es handelte sich allerdings – und ach Gott, wie ernsthaft! – auch um sie. Wenn er sie abwies, wenn er »nein« sagte, kein Mitleid hatte mit der Unglückseligen, würde er mit ihr auch keines haben, die es so viel weniger verdiente, als jene. Aber jetzt galt kein Säumen. Da drüben, ein paar Zimmer entfernt, saß die Aermste, für die sie zu sprechen gekommen war, und der jede Sekunde, die sie länger ausblieb, zur Folter wurde. Sie hätte ihm so gern gesagt, daß er sich doch setzen möge; sie glaube, dann besser sprechen zu können. Nun mochte es so sein.

Und sie fing an zu sprechen und erzählte ihm ohne Einleitung, was sie soeben gehört hatte. Sie wunderte sich selbst, wie gut sie alles behalten; sie hätte es zumeist Wort für Wort wiederholen können. Doch das wäre zu lang geworden. So faßte sie denn alles kurz zusammen; nur wenn sie aus seinen Augen, in die sie immerfort blickte, las, daß er etwas nicht verstanden hatte, wurde sie ausführlicher. Bei der Pariser Episode ließ sie den Namen des Oberst Krell fort; sie hatte das bestimmte Gefühl, daß da etwas liege, woran man nicht rühren dürfe. Zuletzt sagte sie, wieder in den wenigsten Worten, daß sie der Unglücklichen gern helfen möchte, ihr zu helfen auch versprochen habe; daß sie aber wohl fühle und wisse, wie sie selbst, allein, das durchzuführen nicht im stande, und wie sie deshalb zu ihm gekommen sei.

Er hatte ihr, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen, zugehört. Nun hob er den Kopf und sagte so ruhig, als ob es sich um etwas sehr Einfaches und Alltägliches handele:

Natürlich mußt Du ihr helfen, und ich will Dich gern dabei unterstützen. Die Hauptsache scheint mir, daß sie mit dem Manne nicht wieder zusammen trifft. Nach dem, was zwischen ihnen geschehen ist, wäre es zu schmachvoll für sie. Man weiß ja auch nicht, zu welcher Brutalität der Mensch fähig ist. Also fort muß sie und das sogleich. Laß sehen!

Er hatte ein Büchlein vom Tische genommen, in welchem speziell für Baden die ankommenden und abgehenden Züge verzeichnet standen. Er blätterte eine Zeitlang in demselben, dann legte er es wieder hin.

Nein, sagte er, das geht nicht. Wenn sie die Eisenbahn benutzt, wird es schwer sein, ihm zu verbergen, wohin sie sich gewandt hat, falls er es wissen und sie aufsuchen will, was ja doch möglich, ja wahrscheinlich ist. Einem solchen Menschen ist alles zuzutrauen, sobald es ihm darauf ankommt, sich des Schweigens einer Frau, die ihn in ihrer Gewalt hat, zu versichern. Daß er nicht weiß und wissen kann, wohin sie gegangen ist, muß man ja auch schon ihrethalben wünschen, damit sie vor dem Gedanken, er könne sie verfolgen, Ruhe hat. Also nicht die Eisenbahn. Man darf auch im Hotel vorläufig nicht merken, daß sie abreist; sie muß nur eine Spazierfahrt zu machen scheinen. Das Wetter sieht nicht nach Spazierfahrten aus, aber das geht niemand etwas an. Ich möchte Gernsbach vorschlagen. Das ist nicht weit – zwei Stunden, und von dort ist Eisenbahn. Aber wohin weiter? Laß sehen, laß sehen! Berlin? Aber an wen sie da adressieren? Langens, Rabenows, Klasewitz – die würden sie alle gern aufnehmen, obgleich, wenn hernach – und dann, sie leben alle in zu großen Kreisen. Das spricht sich herum. Ich möchte Escheburg fragen; vielleicht, daß er –

Und er ging bereits nach der Thür. Hilde erhob sich rasch.

Nein, nein; sagte sie schnell; kein Dritter, wenigstens nicht für jetzt! Nur Du und ich – wir beide allein!

Er hatte sich wieder zu ihr gewandt; ihre Blicke trafen sich; dann sahen sie zu gleicher Zeit niederwärts.

Wie Du willst; sagte er mit unsicherer Stimme; es ist auch wohl besser so. Also nicht Berlin. Ein kleinerer Ort und weiter weg, auf dem Lande vielleicht. Wie wäre es mit Ossecken?

Ja, ja! rief Hilde: Ossecken! Da kann sie so lange bleiben, wie sie will.

Gewiß; sagte Adalbert.

Es ist nur eines, sagte Hilde: die lange Reise! Und sie spricht kein Wort deutsch. Vielleicht wenn – erlaubst Du, daß ich ihr Lisette mitgebe? Ich kann ganz gut ohne sie auskommen; und Lisette ist sehr gewandt. Sie wird sich auch ordentlich benehmen, schon der Aussteuer wegen, die wir ihr versprochen haben, und um die sie sich eigentlich gebracht hat.

Es ist mir recht, sagte Adalbert; ich dachte an Friedrich; aber Lisette ist ihr freilich nützlicher.

Und dann muß ich wenigstens mit nach Gernsbach fahren; sagte Hilde eifrig. Schon damit es wirklich wie eine Spazierfahrt aussieht. Wir nehmen einen kleinen Reisesack mit für etwas Wäsche – nur das Nötigste – natürlich! Ich will das schon so machen, daß es niemand auffällt. Oder noch besser: wir steigen auch nicht hier am Hotel in den Wagen, sondern nehmen uns einen vom Stand. Ebenso werde ich, wenn ich heute abend zurückkomme, irgendwo vorher aussteigen. So erfährt hier niemand, wohin wir sie gebracht haben, wenn es zur Sprache kommt, daß sie abgereist ist. Ist Dir das alles recht?

Ganz recht. Ich würde Euch begleiten; aber das würde peinlich für sie sein. Und dann: ich muß doch dem Herrn Douglas – falls er mit dem Fünfuhr-Zuge –

Um Gotteswillen, nein! rief Hilde, beide Arme wie abwehrend ausstreckend.

Aber das ist absolut notwendig, sagte Adalbert; der Herr muß doch wissen, woran er ist.

O, das ist furchtbar, furchtbar! murmelte Hilde, die Hände ringend.

Es wird nicht angenehm für den Herrn sein; aber ich kann es ihm nicht ersparen.

So nimm jemand mit Dir: Escheburg oder Wolfsberg, oder beide; ja beide!

Oder noch ein halbes Dutzend? Du sagtest doch selbst, es sollte zwischen uns bleiben? Du und ich allein?

Daran habe ich nicht gedacht.

Es gehört zu dem andern.

Er hatte das alles ganz ruhig gesagt und bei den letzten Worten gelächelt, so furchtlos stolz und so gütig zugleich – Hilde hatte nur ein Verlangen: vor ihm niederzustürzen und ihm die Hände zu küssen. Aber ein Gefühl der Scham, daß sie unwürdig sei, sich diese Gnade erst verdienen müsse, hielt sie wie in ehernen Banden. Kaum daß sie stammeln konnte: Ich danke Dir! ich danke Dir von ganzem Herzen!

Keine Ursache, sagte er; ich würde es für jede thun, die in so trauriger Lage ist.

Ich weiß es; murmelte sie.

Wie lange glaubst Du, daß Ihr braucht Euch fertig zu machen?

Eine Stunde höchstens.

Gut; je schneller, je besser. Noch eines: es wäre mir lieber, wenn ich mich nicht von ihr zu verabschieden brauchte. Aber vielleicht wünscht sie es. Es ist am besten, Du stellst es ihr anheim.

Wie Du willst.

Adieu denn so lange! Ich werde unterdessen das Geld zurecht machen und nach Ossecken schreiben.

Er hatte sich bereits nach dem Sekretär gewandt. Sie ging still aus dem Gemach, um erst draußen, als sie über den Korridor nach dem Zimmer Ellinors zurückeilte, die strömenden Thränen abzutrocknen, während sich doch zugleich in ihrem Herzen ein Jubel regte, daß sie laut hätte aufjauchzen mögen. Aber das war noch zu früh!

Eine Stunde später verließen die Baronin Osseck und Missis Douglas das Hotel in einfachen Hüten, festen Schuhen, Regenmänteln und mit Schirmen, wie ein Spaziergang bei diesem Wetter erheischte, das sich übrigens momentan etwas aufgeklärt hatte. Fünf Minuten nach den Damen schlüpfte auch Lisette zu einer Seitenpforte hinaus. Sie trug in einem Reisesack Kinderzeug zur Wäscherin. So hatte sie wenigstens Jean, der ihr auf dem Korridor begegnet war, gesagt, und einen Gruß an ihren Friedrich aufgetragen, falls sie ihn vor heute abend nicht sehen sollte.



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