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Fünfzehntes Kapitel.

Für die Gäste des Angleterre, welche ebenfalls an dem Korridor der Osseckschen Wohnung logiert waren und sich nicht eines ausnahmsweise gesunden Schlafes erfreuten, war es heute eine unruhige Nacht. Der alte Mister Swalwell hatte, nachdem er wiederholt aufgewacht war, zuerst gemeint, es sei der Champagner, den er gestern abend reichlich getrunken und notorisch nicht vertragen konnte, bis er zu dem sicheren Resultat kam, daß das Knarren einer Diele unmittelbar vor seiner Thür keineswegs eine Sinnestäuschung sei, sondern von menschlichen Fußtritten herrühre. Mister Swalwell war entschlossen, sich diesen Eingriff in seine nächtliche Ruhe nicht gefallen zu lassen. Er zog einen Schlafrock an, öffnete die Thür gerade in dem Moment, als die Diele wieder einmal knarrte, leuchtete dem ertappten Frevler mit ein paar zornigen Worten, die er für Französisch hielt, ins Gesicht und hätte beinahe vor Schrecken das Licht fallen lassen.

Großer Gott, sagte er, ich dachte, es wäre ein Kellner.

Ich bitte um Verzeihung, sagte Adalbert; ich habe gewiß gestört. Aber mein Kind ist krank, sehr krank –

Kommen Sie herein! sagte Mister Swalwell; trinken Sie ein Glas Sodawasser mit Kognak!

Ich danke, sagte Adalbert; ich habe keinen Augenblick – es soll in die Apotheke – gehe lieber selbst– habe dadrinnen doch keine Ruhe –

Er eilte davon. Mister Swalwell starrte noch eine halbe Minute auf die Stelle, wo er unter dem dicken Läufer die knarrende Diele vermutete und schloß nachdenklich die Thür.

Wie bleich und verstört der stattliche Baron ausgesehen hatte! Er hätte wirklich erst ein paar Tropfen Kognak trinken sollen; das Kind würde deshalb nicht gestorben sein. Aber, wenn es stürbe! Guter Gott, die schöne kleine Frau! sie war heute abend noch so lustig gewesen! Und die Mädchen, die das Kind so liebten – was würden sie sagen, wenn er ihnen morgen beim Frühstück mitteilen müßte, es sei in der Nacht gestorben! Guter Gott, was war das für eine Welt!

Der alte Herr war wieder in sein Bett geklettert, obgleich er meinte, daß er nun auch eben so gut aufbleiben könne, denn aus dem Schlaf würde es doch nichts mehr werden. Es war drei Uhr; ob die Lichter wohl bis morgen früh aushielten? oder wie lange wohl?

Mister Swalwell schloß die Augen, über das Problem nachzudenken. Als er sie wieder öffnete, waren die Lichter allerdings abgebrannt; dafür schimmerte die Morgensonne durch die Spalten der Gardinen und die Uhr wies auf neun. Er erschrak heftig. Wenn das Kind nun gestorben war!

Er drückte krampfhaft auf den Klingelknopf über seinem Bett. Die Thür wurde in demselben Moment geöffnet, und wieder, wie gestern abend, war es nicht der Kellner, sondern der Baron, der vor ihm erschien.

Guter Gott! rief der alte Herr und wagte nicht weiter zu sprechen: der Baron sah noch bleicher und verstörter aus als heute nacht – es war also tot – das liebe Kind!

Sie hatten die Thür nicht verschlossen, sagte Adalbert; ich habe schon zweimal hereingesehen – Sie schliefen so fest – es steht gut, sehr gut – Escheburg sagt: sie ist außer aller Gefahr.

Hurra! rief der alte Herr.

Herzlichen Dank! sagte Adalbert, die dargebotene Hand ergreifend, Sie sind sehr gut und ich bin Ihnen gewiß dankbar für Ihre Teilnahme – gewiß!

Der alte Herr blickte ihn verwundert an: das war so wenig freudig herausgekommen – dazu das verstörte Gesicht. Diese Deutschen waren doch eine seltsame Nation.

Wir sehen uns noch im Laufe des Tages; sagte Adalbert, sich erhebend. Das heißt, wenn – aber ich muß jetzt fort. Nochmals herzlichen Dank!

Auf dem Korridor begegnete er Kora, die eben aus dem Krankenzimmer kam. Sie hatte das Gesellschaftskleid, in welchem sie die ganze Nacht verblieben war, mit ihrem gewöhnlichen dunklen Kleide vertauscht und den Hut auf, im Begriff auszugehen: nach einer Krankenwärterin, welche Escheburgs Kollege auf das wärmste empfohlen hatte.

Ich weiß eigentlich nicht, weshalb wir eine Hilfe brauchen; sagte sie. Wozu bin ich denn da? aber Escheburg will es, und vielleicht ist es besser so. Ich bin bald wieder hier.

Du bestes Mädchen; murmelte Adalbert, mit einem starren Blick in ihre Augen.

Jedenfalls besser als das von gestern, sagte Kora mit flüchtigem Lächeln. Die Person ist übrigens schon weggeschickt. Wundre Dich also nicht, wenn Du heute ein neues Gesicht siehst.

Adalbert hatte offenbar nicht gehört, was sie gesagt hatte. Er sah sie nur, ohne etwas zu erwidern, immer mit denselben starren Augen an.

Versuche ein wenig zu schlafen, sagte Kora; ihr Männer vertragt so etwas nicht. Du kannst ganz ruhig sein. Escheburg hat vorhin noch einmal gesagt, es ist keine Spur von Gefahr mehr.

Ist Escheburg drinnen?

Er ist vorhin auf sein Zimmer gegangen. Ich muß fort. Adieu solange!

Sie nickte Adalbert, der regungslos stehen blieb, freundlich zu, eilte die Treppen hinab, nahm unten in der Halle den Glückwunsch des alten Portier entgegen und verließ das Haus.

Es war ein wundervoller Morgen; und Kora, als sie so rasch dahinschritt, atmete mit Lust die mildwarme, vom Tau der Nacht herrlich erfrischte Luft ein. Auf dem Platz an der Post das Gewimmel der Marktleute, der Duft der Feldfrüchte und des Obstes in den aufgestapelten Körben, die Wagenburgen ländlicher Gespanne, bei denen die wegmüden Ochsen in breiter Behaglichkeit wiederkäuend ruhten, und die trippelnden pickenden Tauben sich leichtbeschwingt vor ihren Füßen hoben, um sich alsbald wieder niederzulassen und weiter zu trippeln und zu picken, – nun, jenseits des Platzes, die engen Treppengassen, in denen noch kühler Schatten lag, während der goldne Sonnenschein um die verwitterten Giebel, die grauen Mauern der alten Häuser spielte; die kleinen Kaufläden, deren ganzen Inhalt man mit einem Blicke übersehen konnte – hinter dem Ladentisch die rüstig-geschäftige Verkäuferin in eifrigem Gespräch mit den feilschenden Kunden – wie war das alles so frisch und schön nach der bangen, dumpfen Nacht! Und sie durfte sich der schönen Welt freuen, der das süße Kind heute nacht kaum noch angehört hatte und nun wieder angehörte – Dank dem Himmel und Escheburgs Kunst! Und ein wenig auch ihr! Wo wäre Escheburg gewesen, wenn sie ihn gestern nicht gehalten hätte! Nein, sie nicht! sie hatte ihn ja schlecht behandelt, hart gescholten, zwei-, dreimal weggeschickt. Und er war doch geblieben in seiner Gutheit und Bravheit und wieviel mehr war er noch als bloß ein guter und braver Mann! Wie hatte ihr Blick heute nacht an seiner schönen weißen Stirn gehangen, an seinen ernsten festen Augen! Wenn sie hatte verzweifeln wollen, als das Kind im Todeskampfe zu röcheln schien, da waren ihr von der Stirn und aus den Augen des Mannes Trost und Hoffnung in die bange Seele zurückgekehrt, wie damals, als sie gemeint hatte, sterben zu müssen, und er ihr sagte, daß er todkrank sei, wie sie, und doch weiter leben wolle, seine Pflicht zu erfüllen. Freilich, ein Mann! der Pflichten hat – so große, heilige! Und es mit diesen Pflichten so heilig ernst nimmt. Mit diesen bloß? den Pflichten seines Berufes? Mit jeder Pflicht, mit allem, was er für seine Pflicht erkannt. Er würde mit der Ehe kein frivoles Spiel treiben, oder halt- und ratlos den Launen einer verwöhnten, eigensinnigen Frau gegenüberstehen! Ob sie wohl so geworden wäre als seine Frau? Aber sie ist ja nicht so geworden; sie ist nie anders gewesen: hinreißend, wenn sie ihren souveränen Willen hatte, tödlich beleidigt, sobald einmal etwas nicht nach ihrem Köpfchen ging. Und doch hat er sie geliebt, der kluge, großherzige Mann, und liebt sie noch, wie ich Adalbert liebe! Nein, das ist nicht mehr Liebe, was ich fühle. Das ist nur noch Mitleid mit seiner Güte, seiner Schwäche, seiner Hilflosigkeit dem Jammer gegenüber, an dem er selber mitschuldig ist – schon früher vermutlich und jetzt ganz gewiß. Wie er mir an jenem ersten Abend sein Leid klagte, und eine Stunde später – daß sie beide auch gerade in diese Gesellschaft geraten mußten: die denkbar schlechteste! dieser verlebte Oberst, dem die Ruchlosigkeit aus den kalten, frechen Augen sieht! diese schamlose Kokette, die eben nur noch den alleräußerlichsten Anstand bewahrt! Dieser gelehrte, frechplumpe Geck! dieser unverwüstliche Kourmacher von Leutnant – aber der ist nicht schlecht, der ist ein leichtsinniger, liebenswürdiger und, ich glaube, im Grunde braver Mensch, der nur auch schlecht wird in der schlechten Gesellschaft. Doch wäre es ein Glück, käme er nie wieder in Hildes Nähe. Aber wie ihn los werden, ihn und die andern? Ich kann ihnen doch nicht sagen: geht! wie gern ich's thäte!

Kora hatte die steile, nur hier und da von Absätzen unterbrochene Steintreppe des schmalen Gäßchens erstiegen und stand aufatmend still. In der breiteren Gasse, die nun vor ihr lag, rechter Hand mußte das von ihr gesuchte Haus sein, und da – in einiger Entfernung – erglänzte ja auch in einem Sonnenstreifen, der seinen Weg zwischen den grauen Mauern in das Gäßchen gefunden, das ihr von Escheburgs Kollegen als Wahrzeichen genannte Barbierschild.

Ein recht altes Haus, vor dem sie nun stand, bedeutend größer und stattlicher als die benachbarten, mit einer steinernen Bogenthür, die in eine Art von Halle führte, deren Decke von einem mächtigen Stein-Pfeiler getragen wurde. Eine Treppe von altergeschwärztem Eichenholz, welche auf halber Höhe in eine, über die ganze Breite der Hinterwand laufende hölzerne Galerie mündete, führte, an den Enden der Galerie sich teilend, nach oben in die bewohnten Räume. Die Gelasse unten in der Halle wurden offenbar nur zur Aufbewahrung von Sachen benutzt. Ein Mensch, den sie hätte fragen können, ließ sich nirgends blicken. So wandte sie sich, als sie bis zu dem Treppenabsatz gelangt war, auf gut Glück nach links, einer Thür zu, an welcher sie eine Karte bemerkte – jedenfalls die der Frau Klump. Im Begriff an die Thür zu klopfen, warf sie einen flüchtigen Blick auf die Karte und prallte zurück; sie hatte trotz des Halbdunkels sehr deutlich: »Dr. Philipp Gönnich, Privatdocent« gelesen. Schnell, als ob die Thür sich sofort öffnen und der verhaßte Mensch auf der Schwelle erscheinen würde, eilte sie die Treppe weiter hinauf und stand nun auf dem oberen Flur mit lautklopfendem Herzen, sich kindisch scheltend und doch furchtsam rückwärts nach unten blickend, froh, daß die Sache so gut abgelaufen war. Es wäre doch greulich gewesen, dem Menschen in das Zimmer zu geraten, ihm Rede und Antwort stehen zu müssen. Gott sei Dank!

Auf dem oberen Flur waren wenigstens ein halbes Dutzend Thüren; aber überall konnte der Mensch nicht wohnen. So pochte sie, ihren Mut zusammennehmend, an die erste nächste.

Sie hatte zum Glück gleich die richtige getroffen. Eine kleine, dicke Frau mit einem Gesicht, in welchem das furchtbar schielende rechte Auge noch nicht das Häßlichste war, öffnete und fragte – zu Koras nicht geringem Erstaunen in unverfälschtem Berliner Dialekt – nach ihrem Begehr. Kora brachte ihre Kommission vor, bei dem Geschmetter von mindestens einem halben Dutzend Kanarienvögel, die im Zimmer frei herumflogen, ihre eigenen Worte kaum verstehend. Frau Klump, die ihren vornehmen Besuch zum Sitzen genötigt hatte, war freilich zu ihrem größten Bedauern und zu ihrer tiefsten Beschämung noch, wie das gnädige Fräulein sehe, – mit Respekt zu sagen, – in ihrem Morgenschunschel, werde aber in einer Viertelstunde sich die Ehre und das Vergnügen machen. Kinder zu pflegen sei ihre Passion, seitdem ihr ihre Zwillinge – die einzigen Kinder – vor drei Jahren an der Bräune gestorben. Es sei ihr doch sehr nahe gegangen, wenn das eine auch einen Wasserkopf gehabt und mit fünf Jahren noch kein sterbendes Wörtchen gesprochen hatte außer Pa und Ma, und das andre – das Mädchen – mit der Bright'schen Krankheit Akute oder chronische Nierenentzündung; der im Text benutzte Name ist im deutschen Sprachraum nicht mehr gebräuchlich. behaftet war, aber wie! so! na, unsereiner kriegt das gar nicht mehr fertig. Nun sind sie tot die lieben Kinderkens und ich sage Ja und Amen. Malheur ist Malheur; dagegen kann der Mensch nichts. Mit meinem Alten habe ich auch nur Malheur gehabt. Gott, was war das für einer, als ich ihn vor zehn Jahren in Berlin heiratete – so ein Prachtsmensch von einem Krankenwärter – der kann jeden Tag Doktor werden, sagten die Herren in dem Klinik! aber wer kann in die Menschen hineinsehen, gnädiges Fräulein – niemand nicht! Und nun gar in die Männer! bodenlos, sage ich Ihnen, gnädiges Fräulein, bodenlos! Und wären wir in Berlin geblieben! aber er wollte ja partout zurück in das Nest hier, weil er hier zu Hause war. Na, und da hatten wir die Bescheerung! Jetzt ist er schon zwei Jahre tot; Gott hab' ihn selig! Ich komme auch ohne Mann durch; das Haus ist mein Haus mit samt dem Barbierbecken über der Thür, darum lasse ich es auch ruhig hängen. Ich könnte auch barbieren, wenn ich wollte; der Mensch kann alles, wenn er will. Na, vorläufig habe ich die Barbierstube vermietet an einen feinen jungen Herrn – das heißt, eigentlich ist er ein verdrehter Knopf – aber wollen das gnädige Fräulein schon wieder weg? Ist richtig. Das Kindeken will ja eine Wartefrau haben. Na, es soll nicht lange warten; in einer Viertelstunde ist Frau Klump zur einen Thür 'rin und die Krankheit zur andern 'raus – aber was fehlt denn eigentlich dem lieben Kindeken –

Kora blieb die Antwort schuldig; sie hatte bereits längst an der Thür gestanden und schlüpfte jetzt hinaus, glücklich, der dumpfen Luft und der schielenden Frau endlich entronnen zu sein, in deren Geschwätz die flatternden Kanarienvögel unaufhörlich hineingeschmettert hatten.

Die muß sie wenigstens zu Hause lassen, sprach Kora bei sich; und auch so wird sie einen schweren Stand mit der aristokratischen Hilde haben.

Sie hatte beim Herabsteigen die rechte Treppenflucht gewählt, um nicht wieder an Gönnichs Thür vorüber zu müssen. Als sie an den Absatz gelangte, und eben um den starken Holzpfeiler biegen wollte, der hier, wie ein zweiter auf der andern Seite, die obere Galerie trug, glaubte sie zu bemerken, daß die Thür drüben sich bewegte; im nächsten Momente kam auch Gönnichs Kopf zum Vorschein. Er schien einen prüfenden Blick auf die Treppe und in den Hausraum zu werfen; offenbar hatte er sie, die klopfenden Herzens dastand, nicht gesehen, obgleich der Pfeiler sie keineswegs ganz verbarg. Ehe sie sich entschließen konnte, ob sie so bleiben oder weitergehen sollte, geschah etwas, das ihr für den Augenblick jede Kraft des Entschlusses und der Bewegung raubte. Durfte sie ihren Augen trauen? War die weibliche Gestalt in dem koketten Morgenpromenadenanzuge, die sich jetzt schnell an dem Mann vorüber durch die nur halb geöffnete Thür drängte, Poly? Gönnich war jetzt ebenfalls ganz herausgetreten. Sie mußten sich völlig sicher fühlen. Mit einer brutalen Vertraulichkeit legte er den Arm um ihre Hüfte und führte sie zu dem Ansatz der unteren Treppe, bis er plötzlich aufschreckte und, seiner Begleiterin etwas zuraunend, das diese offenbar nicht verstand, mit langen Schritten die Galerie hinab nach seinem Zimmer eilte, dessen Thür er hinter sich zuschlug. Jetzt erst nach der Seite blickend, wohin die erschrockenen Augen ihres Liebhabers gerichtet gewesen waren, entdeckte sie, was ihn in die schmähliche Flucht getrieben. Sie stieß, gegen das Geländer schwankend, einen leisen Schrei aus; schien unentschlossen, ob sie ihrem Liebhaber nacheilen oder zum Hause hinaus fliehen sollte, und that dann das letztere, indem sie, die Treppe hinab, durch den unteren Raum und die offene Hausthür auf die Straße lief.

Zögernd folgte Kora, das Herz voll von Scham und Ekel. Gestern die Scene mit dem Oberst und seiner Tänzerin, heute dies! Und diesem Weibe hatte Adalbert vor ihren Augen seine Huldigungen dargebracht – gleichviel in welcher Laune, aus welcher Stimmung heraus! Haben denn die Männer keine Empfindung für die moralische Häßlichkeit im Weibe? ist ihnen die schöne Maske alles? Ach, und wie häßlich hatte die hier ausgesehen mit dem grinsenden Lachen in dem hochroten Gesicht, und hernach der Schreckensblick! Ein einziger Trost: der Blick war zu flüchtig; sie hat in dem Halbdunkel eben nur sehen können, daß sie ertappt war, nicht, von wem.

Kora war, ohne die Augen vom Boden zu heben, eilig dahingeschritten, und hatte bereits die Treppengasse erreicht, als sie das Rauschen eines Kleides hörte, das rasch näher kam und jetzt hinter ihr war. Also auch dieses sollte sie noch erdulden. Mochte es denn sein.

Ein wenig Raum gebend auf den schmalen Stufen, schritt sie etwas langsamer weiter; im nächsten Moment war Poly an ihrer Seite und sagte mit atemloser Stimme:

Verzeihen Sie, daß ich Sie aufhalte, Fräulein von Remberg; ich muß Sie sprechen.

Kora erwiderte nichts – sie fand eben keine Worte.

Sie halten mich für sehr schlecht, hob Poly wieder, mit jetzt schon etwas festerem Tone, an, und der Schein ist ja auch gegen mich; aber ich bin überzeugt, Sie, gerade Sie, werden mich nicht ganz verurteilen, wenn Sie mich gehört haben.

Sie schien eine Antwort zu erwarten, die aber ausblieb. So begann sie von neuem, indem sie ihr Tuch unter dem schwarzen Halbschleier an die Augen führte:

Nur der Unglückliche versteht den Unglücklichen; auch Sie sind nicht glücklich, oder es müßte mich alles täuschen. Aber was ist Ihr Unglück, was kann es im Vergleich zu dem meinen sein? Ihnen ist die stille Kraft der Entsagung gegeben; ich habe nicht zu entsagen gelernt, trotzdem man mir das Herz tausendfach zerrissen hat. Mein armes Herz wollte nicht aufhören, nach Glück zu lechzen. Ich habe versucht, es mit der Poesie zur Ruhe zu bringen – es gelang mir nicht, – und so – so ist es dann gekommen. Ich weiß ja, daß es unwürdig – mehr noch, daß er nicht der Mann ist, auf dessen Liebe ein Weib stolz sein kann. Aber er gab mir die Illusion der Liebe: ich konnte nicht widerstehen.

Das Spitzentuch war wieder nach dem Schleier in Bewegung, aber auch jetzt kam die erwartete Antwort nicht. Das sah schlimm aus. Diese Festigkeit hatte sie der scheinheiligen Person nicht zugetraut. Was sollte sie thun? Wenn die nun so hinging und alles erzählte – das mußte sie verhindern – um jeden Preis!

Bis heute! rief sie – und jetzt hatte sie die lange gesuchten Thränen in der Stimme, wenn es auch nur Zornesthränen waren, – bis heute! ich schwöre es Ihnen, Fräulein Kora! o, lassen Sie mich Sie noch einmal mit Ihrem sanften Namen nennen! Von heute werde ich die Kraft finden, ja, ich habe sie bereits gefunden – aus Ihrem Schweigen, das mich zermalmt, aus Ihrer Verachtung, die mich erdrückt. Ich flehe Sie an, seien Sie barmherzig! stoßen Sie die reuige Sünderin nicht zurück, ins Elend zurück! legen Sie mir eine Buße auf, die schwerste, die Sie finden können! Ich will sie mit Freuden erfüllen – ich schwöre es Ihnen bei allem, was mir heilig ist!

Es war alles Phrase. Kora wußte es, und sie war entschlossen, sich auf die schlechte Komödie nicht einzulassen. Aber sich und ihre Lieben schützen vor der traurigen Komödiantin – das durfte sie, und das wollte sie.

Sie waren fast an das Ende der einsamen Treppengasse gelangt, da, wo dieselbe in die breitere untere, belebte Straße mündete. Kora blieb stehen und sagte, zum erstenmal mit flüchtigem Blick das von Aufregung entstellte Gesicht ihrer Begleiterin streifend:

Ich habe weder ein Recht, noch den Wunsch, mich in Ihre Angelegenheiten zu mischen. Aber ich habe einen anderen Wunsch, der Ihnen vermutlich sehr sonderbar klingen wird: den, daß Sie abreisen.

Mit tausend Freuden; rief Poly; das ist ja, worüber ich schon während unserer ganzen Unterredung gesonnen habe. Aber es ist unmöglich. Mein Mann kommt heute. Er hat seine Dispositionen so getroffen, daß wir vierzehn Tage hier zusammen bleiben wollen. Ich wüßte keinen Vorwand, der überdies nichts fruchten würde – er ist ein entsetzlicher Pedant. Aber ich begreife, daß Sie mich verstoßen, nicht mehr in Ihrer Gesellschaft sehen wollen – das ist eben meine Buße, die ich erfüllen muß und erfüllen werde; ich und meine Gesellschaft, – will sagen: mein Mann, wenn er hier ist; ich, natürlich; mein armer Bruder, der trostlos sein wird, und – der Oberst? gut! auch der! Was Sie wollen, liebes Fräulein! Sie sehen: ich bin zu allem bereit. Hier ist ein Vorwand leicht gefunden – sagen wir: der gestrige Abend – gekränkte Eitelkeit! Sie haben mir ja schon in den Ohren gelegen, daß ich mich gekränkt fühlen müsse: der Oberst und Gönnich –

Der Name war ihr so entschlüpft; sie führte, sich räuspernd, das Taschentuch unter den Schleier, diesmal nach dem Munde.

Sie hatten vorhin diesen Herrn zu erwähnen vergessen, sagte Kora.

Aber das ist selbstverständlich, rief Poly; er kommt nicht wieder in Ihre Nähe.

Wird wenigstens er abreisen? sagte Kora.

Er muß abreisen, das versteht sich; rief Poly; ich will ihn nie wiedersehen, nie! Aber auch er – ja, mein Gott, wie soll das nun werden? wie machen wir das nur?

Was? fragte Kora ungeduldig, als ihre Begleiterin jetzt schwieg und mit einem Ausdruck, der verlegen war, oder verlegen sein sollte, die Blicke umherschweifen ließ, als suche sie etwas an der grauen Mauer neben ihnen.

Es ist, daß – mein Gott, ich darf es nicht verraten! aber es muß ja sein – Ihnen bin ich die Wahrheit schuldig – er und Osseck – gestern nacht im Klub – er ist furchtbar aufgeregt gewesen, der thörichte Mensch – um meinethalben. Und er ist so jähzornig – ein wahrer Raufbold – er hat als Student unzählige Mensuren gehabt – scharfe Schläger; aber die Pistole ist seine Lieblingswaffe –

Das darf nicht sein! rief Kora heftig.

Gewiß nicht, versicherte Poly. Ich bitte Sie, liebes Fräulein, ängstigen Sie sich nicht! Mein Gott, Sie sind ja ganz blaß geworden!

Sie mißverstehen mich völlig, sagte Kora; und ich weiß nicht, wie mein Schwager es nehmen würde, wenn er erführe, daß ich mich da hineingemischt habe. Gleichviel! Ich will nicht, daß er sich mit diesem – Herrn schlägt.

Es wird schwer halten, sagte Poly mit einem lauernden Blick in Koras noch immer blasse Mienen. Er ist fürchterlich in seinem Zorn; aber er muß zurücktreten, revozieren – lassen Sie mich nur machen! Und nun, liebes Fräulein, darf und will ich Sie nicht länger aufhalten. Haben Sie tausend Dank, mein Schutzgeist, mein guter Engel, mein –

Sie hatte Koras Hand ergriffen und wollte einen Kuß darauf drücken; Kora machte sich mit einer entschiedenen Bewegung los und eilte, ihre Begleiterin auf der Stelle stehen lassend, die letzten Stufen hinab in die breitere Gasse.

Poly blickte ihr mit rachegierigen Augen nach, vor Wut weinend und lachend zu gleicher Zeit, während die widerwärtigsten Gedanken durch den verstörten Sinn hasteten. Gönnich mußte fort. Das war kein Zweifel, wenn es auch mit dem Duell blauer Dunst war, wie sie ihn kannte. Der dumme Mensch! sie so bloßzustellen! Warum machte er seine Augen nicht auf! Auskratzen müßte man sie ihm! Wie die Tugendheldin da vor ihr gestanden war mit der hochmütigen Miene! Sie sollte es büßen – sie und ihre ganze Sippe. Ein Glück, daß sie wenigstens sich selber nicht hatte vertreiben lassen! Aber für den Augenblick mußte sie gehorchen, wollte sie sich nicht der offenbarsten Gefahr aussetzen. Das mußte auch Philipp einsehen. Es würde eine fürchterliche Scene geben – gleichviel!

Und Poly begann, erst langsam, dann immer schneller die Steintreppen, die sie eben mit Kora herabgekommen war, wieder hinaufzusteigen.



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