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Die Spiegelungen des Klöntalersees

In der Meinung, es sei nicht überflüssig, Bekanntes zu gelegener Zeit in Erinnerung zu bringen, und in der Hoffnung, es werde nicht als Unbescheidenheit ausgelegt werden, wenn ein Neuling mit frischer Bewunderung von altvertrauten Naturherrlichkeiten redet, erlaube ich mir, einen der allererlesensten Landschaftsgenüsse, die es auf Erden gibt, ins Gedächtnis zurückzurufen. Ich meine die berühmten Spiegelungen des Klöntalersees.

Das Thema ist doppelt aktuell, in örtlicher wie in zeitlicher Hinsicht. Das erstere, weil man von Zürich aus an einem Sonntag hin und zurück gelangen kann. Fährt einer mit dem Zehnuhrschnellzug ab, so kann er, nachdem er in Netstal zu Mittag gegessen, nicht bloß den See, sondern, was wichtiger ist, das jenseitige Ufer des Sees erreichen und zum letzten Zug, welcher sieben Uhr sechzehn Minuten in Netstal abfährt, wieder zurück sein. Aufstieg zum See: anderthalb bis zwei Stunden; Gang längs des Sees: eine Stunde. Vom Ende des Sees zurück nach Netstal: zwei und ein viertel Stunden, wenn man frisch geht. Summa: fünf Stunden Weg auf sechs Stunden Zeit.

Die vorgerückte Jahreszeit aber ist dem Ausflug keineswegs hinderlich, im Gegenteil günstig, da das eigentliche Ziel, nämlich die Spiegelung bei Sonnenuntergang, je länger desto mehr vorrückt, also in den Bereich des Spaziergangs fällt. Freilich wird nächstens die Witterung ihr gebieterisches Veto einlegen: nicht bloß der Frost, sondern auch die übrige Unbill, welche der Winter auf seinem reichhaltigen Programm hat. Ist bei ungünstiger Witterung überhaupt der Aufenthalt in einem Alptal ein fragliches Vergnügen, so muß man dort im Glarnerlande, bei den Gemsen und ‹Munken› noch Steinschlag und Lawinen gewärtigen. Der Weg mit seinen gewaltigen Schuttmassen und ‹Röseli› (Runseli) zu beiden Seiten erzählt deutlich genug davon, was einem etwa passieren kann, wenn es ‹leid› ist, das will sagen: bei schlechtem Wetter. An einem wolkenlosen Herbsttag aber längs dem Klöntalersee zu wandeln, halte ich für einen unvergleichlichen Genuß, der die kühnste Phantasie überbietet und die berühmtesten Veduten übertrifft; Grindelwald und Engelberg zum Beispiel gelten mir als minderwertig im Vergleich zum Klöntal, vom künstlerischen Standpunkt betrachtet, oder mit andern Worten: nach dem Stimmungsgehalt beurteilt. Es ist eine Vereinigung von Größe, Klarheit und Einfachheit, wie sie kaum wiedergefunden wird; in ihr beruht das Geheimnis jener nachhaltigen Überzeugungskraft, welche das Gedächtnis überwältigt, so daß, wer ein einziges Mal die Klöntaler Einsamkeit bei günstigem Lichte geschaut, das Bild zeitlebens nicht mehr vergessen kann. Kehrt man eben frisch von dort zurück, so gemahnt einen jedes andere Gebirg an Unkraut.

Der Aufstieg zur Nachmittagszeit ist lästig, selbst im Oktober, weil man der Sonne entgegengeht. Freilich glüht der Löntsch, welcher über Terrassen in die Waldschluchten niederbraust, buchstäblich wie flüssiges Silber, das sich mitunter zu metallischem Staub über die Baumwipfel erhebt. Und jeder Schritt lohnt durch größere Nähe des Glärnisch. Zuerst flankiert man die Drei Schwestern, dann dehnt sich das Vrenelisgärtli mit seinen Gletscherfeldern immer breiter; zur Rechten am Deyenstock zeichnet sich mit zunehmender Deutlichkeit das Profil des ‹Louis Philippe›. Trotz der erhabenen Barriere, trotz dem Waldesgrün, trotz dem Leuchten und Brausen des Baches erscheint einem der Weg, da er im ganzen und großen stets das nämliche Bild bietet, einförmig und lang, bis endlich die Höhe überwunden ist und ein azurblauer Streif den Seespiegel andeutet. Da liegt der See vor uns, schön, still und ruhig, doch im ersten Augenblick nicht eben überwältigend, weil der Blick, an Größe bereits gewöhnt, das Maß verloren hat. Die niedrigsten Kuppen haben zwar Pilatushöhe; allein das nimmt man da wie Hügel gleichmütig hin, und vom Glärnisch meint man, nur so mit der Hand den Schnee wegnehmen zu können. Bald empfindet man jedoch den eigentümlichen Frieden dieser großartigen Einfachheit.

Zuerst spürt das Auge in den grünen Kulissengeheimnissen der den Horizont abschließenden Berge umher, in den duftigen Waldmassen, welche nach dem Pragel hinaufführen; das schiebt sich rätselhaft durcheinander, und darüber zieht sich eine fortlaufende Kette von trotzigen Felszacken hin. Wir besteigen ein Boot, vielmehr einen flachen, plumpen Nauen, und jetzt prüfen wir auch die Wahrheit der famosen Spiegelung. Allerdings, da unten im Wasser sehen wir das Vrenelisgärtli so deutlich wie oben in der Luft; jede Linie, jede Farbe, jedes Gehölz des Glärnisch ist genau zu erkennen. Es ist schön; immerhin ertappt man sich über dem Gefühl, man mache vielleicht des Aufhebens allzuviel davon. Der See ist vermöge seiner Kleinheit und Abgeschlossenheit ruhiger als ein anderer; warum sollte er also nicht spiegeln? Das ist gewissermaßen sogar seine Pflicht. Und da der Glärnisch daneben steht, muß er wohl den Glärnisch spiegeln. Überraschend indessen wirkt es, wenn ein anderes Schiffchen vorbeifährt. Eine solche Farbenhelligkeit des Widerbildes im Wasser hat man nirgends noch gesehen, das bezeugt das unwillkürliche Staunen, das einen dabei ergreift. Wir marschieren nach Vorauen und kehren dort ein. Nebelfeuchtigkeit erfaßt uns beim Rückweg. Es ist Abend geworden, und die Sonne hat sich zurückgezogen, nur wenige gelbe Flecken im sumpfigen Bödeli zurücklassend. Das Profil des Glärnisch ist von einem breiten Sonnenschein halbiert, welcher allmählich glühende Farben annimmt, jetzt golden, jetzt rötlich. Das ist abermals schön, doch ist es wiederum nichts, was das Klöntal von andern Alpengegenden auszeichnet. Damit gelangen wir zum zweitenmal an den See, der mit allen seinen Ufern schon tief im Abendschatten liegt. Und plötzlich erfaßt uns ein unnennbares Entzücken. Die tiefgrüne Fläche ist mit Diamantfeldern, Rosengärten und Goldpalästen unterbrochen, in der Weise, daß die Feenherrlichkeit beinahe das ganze Wasser einnimmt, welches nur die samtenen Schatten liefert, um die Leuchtkraft des Bildes zu heben. Gegenwärtig, im Herbste, sind einzelne Schatten vermöge der vergilbten Wälder rostig, im Hochsommer, wenn die Forsten ihr dunkles Laub besitzen, muß der Gegensatz noch gewaltiger sein. Die Diamant- und Goldfelder liefert hauptsächlich der Glärnisch mit seinen Gletschern und Felsen, dessen Widerbild über den ganzen See ragt, bis an das Ufer, so daß man sich über das Bord bücken muß, um die höchsten Spitzen zu bemerken. Die Rosen stammen vom Mürtschenstock, welcher in unglaublicher Farbenzartheit sich quer über den See legt. Der Mürtschenstock vor allem ist es, wie wir jetzt gewahr werden, der den märchenhaften Reiz der Spiegelung ausmacht, indem er den See in die Quere halbiert, so daß er in seiner ganzen Breite wie rosenfarbiger Atlas in dem finsteren Wasser prangt. Gleichzeitig kommt uns auch zum Bewußtsein, wie stolz oben in der Luft der Horizont durch den Mürtschenstock und den Fronalpstock abgeschlossen wird. Mit jeder Sekunde wechselt die Färbung, und wir sind uneins mit uns selber, welche der beiden Projektionen die beseligendere sei, ob die vertikale in der atmosphärischen Luft oder die horizontale Spiegelung. Der blaue Himmel kommt dabei gar nicht in Betracht; seine Farbe erscheint matt und blaß im Vergleich mit dem Felsenpurpur. Jeder Tritt, jeder Blick während einer langen Stunde, die uns am Seeufer entlang führt, bringt neues Staunen und neue Bewunderung; aber immer mehr gewinnt der rosengoldene Mürtschenstock, der über und neben dem Fronalpstock herüberschaut, den Vorrang über den Glärnisch. Am Fronalpstock seinerseits entdeckt das Auge, nachdem es sich etwas von dem Juwelenglanze des Nachbarn erholt, allmählich einen fast widernatürlichen Duft und Schmelz. Der Stock ist bald zart rehbraun, bald dünnockerfarben, als hätte man in die genannten Farben weiß gemischt; die Wälder des Stockes sind aber nicht etwa grün und schwarz, sondern bald halbviolett, bald hellblau. Und dieser Lasurhauch auf dem Fronalpstock neben der Rosenglut des Mürtschenstocks ist die Krone des Ganzen. Sollte auch das sich widerspiegeln?

Wahrhaftig, da liegt es in umgekehrter Projektion im Wasser, nicht um den geringsten Schmelz ärmer als oben in der Luft. Inzwischen ist der Glärnisch erloschen und nimmt grünliche Ockertinte an; allmählich entseelte sich auch der Mürtschenstock. Vorbei. Was war es nun? Worin beruht das Geheimnis, mit nüchternem Verstande erforscht? Es beruht, kurz und unvollständig gesagt, darin, daß die Spiegelung nicht etwa bloß den Rand des Sees behauptet, sondern sich über den ganzen See erstreckt, daß sie von drei Seiten geschieht, daß neben einem matten, dem Deyenstock, zwei glänzende Gebirge daran teilnehmen, die im Winkel zu einander stehen, daß das eine derselben den See halbiert und folglich dem Wanderer der Breite nach entgegenfunkelt, daß ein majestätisches Dunkel riesiger, doch weich bewachsener Felswände über und unter der Wasserfläche die düstere Folie für das wunderbare Juwelenleuchten bildet; daß der Horizont in erhabener Höhe dem zu Tal steigenden Wanderer einen einfachen klassischen Kreis und Abschluß bietet, den einzigen Einschnitt der Löntschschlucht mit zwei gleichwertigen Gebirgen füllend, deren Ferne neuen Duft und andere Farben bringt.

Um das aber alles als Gesamtbild aufzufassen, muß man gleich dem Kind und dem Künstler die zersetzende Einmischung des topographischen Urteils fernhalten. Es handelt sich ja nicht darum, jedem Stock seinen Namen, seine Distanz und seine geographische Identität zuzumessen, sondern zu schauen, was da ist, und alles, was sich vorschiebt, ins Bild aufzunehmen. Hat man die ästhetische Kraft, naiv zu sehen, was man erblickt, dann ist es keine poetische Ausschmückung, wenn einer behauptet, Gebirge von Gold und Silber und Rubinen, Teppiche von blauem Samt und schwarzer Seide über und unter dem Wasser zu sehen. Denn das alles ist für das Auge da; daß der Verstand einem zuflüstert, das ganze Eldorado beruhe auf vorübergehender Sonnenwirkung, tut nichts zur Sache. Ob auch das Bild nicht hafte, so ist es doch keine Täuschung. Sonst müßte ja ein Vogel ebenfalls eine Täuschung sein, weil wir wissen, daß er davonfliegen wird.

Während wir uns solches nach Kräften klar zu machen suchen, fängt der Glärnisch wieder an sich zu färben, darauf der Mürtschenstock, und wir werden inne, daß wir das Alpenglühen vergaßen. Sterne und Mond werden wohl ebenfalls keine verächtlichen Lichtspender sein, allein wir müssen fort, um den Zug zu erreichen. In finsterer Dämmerung und bald auch in völliger Nacht folgen wir der Straße, wohl darauf bedacht, nicht über ein Bord herunterzustraucheln. Oben blitzen die Sterne, unten tost der Löntsch mit seinem weißen Gischt. Aus der Tiefe funkeln größere, gelbere Sterne, erst einer, dann ganze Haufen. Das ist Riedern, dann Netstal und Mollis.

Was bleibt nun lange zu philosophieren? Der Klöntalersee gehört zu den unglaublichen Naturschönheiten, die kein Traum errät.


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