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Nord und Süd

Verschiedene Menschen reisen zu verschiedenen Zwecken; auch pflegt jeweilen der Zweck der Reise von dem Grund der Reise verschieden zu sein. Man hat irgend etwas durchaus Nötiges an einem bestimmten Orte der Welt zu tun, allein die unabweisbare Notwendigkeit stellt sich hauptsächlich dann ein, wenn sich die Lust nach einer Ortsveränderung meldet. Ferner lehrt diese Erfahrung, daß der Mensch an kurzweiligen Punkten der Erde durchschnittlich mehr und namentlich länger zu tun hat als an langweiligen. Hauptsächlich nach Paris laufen die meisten Geschäftsfäden der Männerwelt; alles kauft man dort am besten, dorthinüber gehen die direktesten Schnellzüge, die bequemsten Verbindungen, wenn schon anscheinend das Kursbuch das Gegenteil lehrt.

Schließlich kommt es weit weniger darauf an, weswegen und zu welchem Zweck einer sich aufgemacht hat, als darauf, was er bemerkt und beobachtet, mit einem Wort, was ihn unterwegs interessiert.

Mich interessiert es nun vor allem, die Naturbedingungen kennen zu lernen, unter welchen der Mensch an verschiedenen Punkten der Erde lebt, also das Klima, oder genauer ausgedrückt: Licht und Farbe, Wärme und Kälte, samt ihrer Rückwirkung auf die Seelenstimmung; und diese Rückwirkung ist gewaltig, vielleicht entscheidend für das Wohlbehagen des Menschen. Wir brauchen bloß unsere Stimmung an einem kalten, trüben Regentage mit derjenigen bei freundlichem Sonnenschein zu vergleichen, um die ausschlaggebende Bedeutung der genannten Faktoren näher zu ermessen.

Nachdem ich nun diesen Sommer allerlei Ausfahrten nach Norden und Süden unternommen habe und dabei unter anderm binnen vier Wochen von der Nordsee bis nach Neapel geschaukelt bin, haben sich meinem Blick einige Ergebnisse aufgedrängt, die ich nach langem Zaudern doch glaube mitteilen zu sollen, auf die Gefahr hin, vielleicht in Einzelheiten zu irren. Immerhin pflege ich zu sehen, was ich sehe; und mit dem einzig möglichen Mittel, nicht zu irren, nämlich mit dem Schweigen, ist den Tatsachen nicht gedient.

 

Jeder weiß, daß Nordeuropa durchschnittlich im Vergleich zu Südeuropa licht-, sonnen-, farben- und pflanzenarm ist. Aber daß der Unterschied ein so ungeheurer wäre und daß er stetig, von Breitegrad zu Breitegrad deutlich wahrgenommen werden könnte, daß ferner alle entgegenwirkenden Faktoren wie Golfstrom, Höhe über dem Meer, geschützte Lage und so weiter, nur wenig in Betracht kommen, das hätte ich nie geglaubt, ehe ich es durch gespannte Aufmerksamkeit auf diese Dinge erfuhr. Ein einziger Grad mehr südlich oder nördlich macht für die Beleuchtung, Besonnung und Färbung des Himmels und der Erde, sowie für das Fortkommen der Pflanzenarten schon einen wichtigen Unterschied, und zwar einen Unterschied, der durch nichts aufzuheben ist, nicht durch die Tiefebene, nicht durch die raffinierteste Spalieranlage. Das ist das Hauptergebnis meiner diesjährigen Reisen, und wenn das auch manchem nicht interessant vorkommen sollte, so ist es gewiß den meisten so neu, wie es mir war, so neu, daß ich lebhaften Widerspruch befürchte.

Ich muß mich daher mit der üblichen, gegenteiligen Ansicht auseinandersetzen.

Nehmen wir einmal den berühmten Golfstrom, seine bekannten, allzubekannten klimatischen Segnungen, die er über Nordeuropa, also Nordfrankreich, Belgien und Holland, England, Dänemark und die Küsten der Ostsee ausstreut. Wenn man die Schilderungen der Londoner Gärten von Pückler-Muskau liest, so wäre Südengland eine zweite Riviera. «Paris hat überhaupt keinen Winter», heißt es in den Korrespondenzen deutscher Journalisten. «Ja, Paris, das hat trotz seiner etwas nördlicheren Lage ein viel milderes Klima als die Schweiz», so sagen bei uns die Gärtner. Dasselbe wird von Belgien verkündet und zum Beleg dafür die Gärtnerstadt Gent ausgespielt. Für Holland müssen die Tulpenzwiebeln beweisen, für Dänemark und Holstein die prachtvollen Buchenwälder.

Nachdem ich mir nun aber Paris und Belgien extra auf den Golfstrom hin angesehen, bin ich zu dem überraschenden Ergebnis gekommen, daß das meiste, was man sich hierüber erzählt, Legende ist. Wohlverstanden, ich bestreite keineswegs, daß Nordwesteuropa ohne die mildernde Wirkung des Golfstroms noch unendlich viel rauher wäre; aber ich behaupte, daß Nordwesteuropa trotz dem Golfstrom selbst an seinen bevorzugtesten Punkten Mitteleuropa, also zum Beispiel der Schweiz und Süddeutschland, nicht gleichkomme, ich behaupte im besondern, daß wir Paris und Belgien trotz der Tiefenlage, trotz dem Golfstrom beträchtlich überflügeln, aus dem einzigen Grunde, weil wir um einige Grade südlicher wohnen.

Zum Beispiel Gent, dessen zahllose Gärtnereien der Stadt einen so hohen klimatischen Ruf eingetragen haben! Nun, an Ort und Stelle bei dem Gärtnerkönig van Houtte habe ich folgendes erfahren: Zwanzig Grad Kälte und mehr jeden zweiten oder dritten Winter, so daß einige Pflanzen, die wir in Luzern im Freien haben, in Gent sogar im Glashause erfrieren! Das ist der Golfstrom von Gent. Der einzige Erklärungsgrund für die Genter Gärtnerei ist der Sandboden, nicht das Klima.

Oder das gepriesene Brüssel mit seinem weltberühmten Botanischen Garten, mit seinem famosen Araukarienwäldchen im Bois de la Cambre. Ja, ich habe sie gesehen, die Araukarien Brüssels; sie sind wirklich da; aber wie sehen sie aus! Alle Äste von unten bis an die Krone abgefroren! Denn im botanischen Garten von Brüssel wächst allerdings alles Mögliche und Unmögliche. Zum Beispiel eine Thuja gigantea. Aber wie hoch ist diese gigantische Thuja? Nicht zehn bis zwanzig Meter wie bei uns, sondern zwei bis drei Fuß hoch. Oder ein Miniatur-Juniperus Sabina unter Glas und Rahmen in einem Käfig! Oder eine wahrhaftige meterhohe italienische Zypresse. Soll ich meinen Augen trauen? Ja, aber das Exemplar geht jeden Winter zugrunde und wird durch ein neues ersetzt, zu welchem Zwecke gleich ein halbes Dutzend Zypressen, in Töpfe gepflanzt, im Glashause aufgestapelt stehen. Auch den Kirschlorbeer hat Brüssel, es ist wahr, allein von der Höhe unseres Buchses, so daß er zur Einfassung von Blumenbeeten benutzt wird. Und Nordstürme! In dem gesegneten Brüssel! Nordstürme! Von solchem Nordwind haben wir in der Schweiz keinen Begriff.

Nun das milde nahe Paris. Paris hat freilich Magnolia grandiflora (weil es Gärtner ersten Ranges hat), aber die Magnolia kommt nicht zur Blüte. Es hat Evonymus, wie wir ihn auch in den geschützten Höfen von Riesenpalästen haben könnten. Dagegen Kirschlorbeer gedeiht in Paris äußerst kümmerlich, und die edleren Koniferen, vorab die Zedern sehen schon viel geringer aus als bei uns in der Schweiz. Ein temperierter Norden ist eben noch kein Süden.

Nein, Golfstrom hin und Golfstrom her, er kann nicht bessern, daß die Sonne im Norden schräger auffällt, daß dort die Nächte im Herbste und Winter länger sind, daß der Winter früher beginnt und später aufhört. Dagegen hat Belgien und Holland allerdings durch den eigenartigen großen Ozean-Wolkenzug mit seinen gedämpften Lichtern eine echt malerische Durchleuchtung, wie das dampfende Paris sie nicht hat. Das Bois de Boulogne ist bloß eine Masse von Bäumen, dagegen das Bois de la Cambre und die Gartenanlagen von Holland, zum Beispiel von Harlem, vom Haag und so weiter bilden stimmungsvolle Landschaften voller malerischer Motive.


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