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Trotz der bald hereinbrechenden Dunkelheit setzte das Christenheer den Weg fort, um nicht im Schnee übernachten zu müssen: das Hospiz hätte ja doch nur wenigen Schutz bieten können. Ein schlichtes Holzkreuz wurde, Lares zum Gedächtnis, am Wegrand errichtet.
Der Abstieg, nicht weniger klippenreich als der Aufstieg, war erschwert durch den schmelzenden Schnee und das schwimmende Dämmerlicht.
Doch der Vollmond erglühte, als es Nacht wurde, metallblank und übergroß im Südosten, den Hohlweg beinahe taghell versilbernd.
Ein seltsames Gerufe irrte fernher durch die Mondnacht. Längere Zeit wußte das langsam abwärts steigende Heer sich diese wilden Laute nicht zu erklären. Aus der Tiefe schienen sie emporzutönen, wo die Arkebusiere der Vorhut, eben die lange Felsschlucht verlassend, auf einen freien Wiesenabhang getreten waren. Wie ein unbändiges Freudengeschrei klang es. Zuweilen verstummte es, doch immer von neuem, sobald weitere Scharen zur Felsschlucht hinausfluteten, erhob es sich mit verstärkter Macht.
»Was rufen die dort vorn?« fragte Velazquez de Leon.
»Ich errate, was sie rufen!« sagte Cortes. »In Xenophons Anabasis habe ich es gelesen! Die Griechen jubelten damals: Thalatta! Thalatta ...!«
Das gesamte Christenheer befand sich jetzt auf der weiten, mit wildem Rhododendron und wilden Azaleen umwachsenen Hochwiese am Westabhang des Gebirgsstockes und starrte verwirrt – selig und angstvoll – auf das mondbeschienene Tal Anahuac hernieder. Es war der erste Blick in das Land der Verheißung. Ein Panorama, wie es auf Erden seinesgleichen nicht hatte. Berauschend herrlich glänzte das Hochtal im schleirigen Licht – aber auch bedrohlich, beklemmend durch die hinter dieser Traumschönheit geahnte grimme Wehrhaftigkeit seines raubgezüchteten Überreichtums. Der aufbegehrende Prunkstolz all der Pyramiden, Stadtmauern und Türme war auf einem blutgeschwängerten Boden erwachsen.
Fünf große Landseen, dreißig hochummauerte Städte. Und Tausende von Dörfern, dichtgedrängt an den Seeufern, verstreut über die Ebene, sich verlierend in den jenseitigen Porphyrbergen. Alles Land bebaut, jedes Fleckchen Erde ausgenutzt, strotzend überall Getreide, Gemüse und köstlichstes Obst – gepflanzt von Menschenhänden, gereift unter einem segensvollen Gestirn. Nicht umsonst sprachen die Mexikaner vom Garten Anahuac.
Habgier, Abenteuerlust, Tatendurst glomm in den strahlenden Augen derer, die beim Anblick dieser zaubervollen Welt Freudenrufe ausgestoßen hatten, doch in allzu vielen Augen auch schwelte Wut oder Hoffnungslosigkeit und Verzagtheit.
»Wohin wollt ihr euch noch führen und verführen lassen?« rief der Narr Madrid erbittert. »Nicht wahr – ins gelobte Land, wo die rote Milch fließt? Nicht wahr – ins selige Land, geradeswegs in die Eingeweide der Azteken? Aber freilich, die Herde trottet nach, wenn der Hammel ins Schlachthaus läuft ...!«
Gefährlicher als je zuvor erhob sich die Rebellion. Ein Teil des Heeres verweigerte den Gehorsam, bedrohte die Offiziere, beschimpfte die andersdenkenden Kameraden, stieß wüste Verwünschungen aus und erhob die Anklage: die Macht und Größe Mexicos sei vom General-Kapitän geflissentlich den gemeinen Soldaten verheimlicht und vertuscht worden. Das Ansinnen wurde an Cortes gestellt, umzukehren, nach Kuba heimzukehren. Und sogar Besonnene erklärten, sich weiter vorzuwagen, hieße den Kopf in des Löwen Rachen legen. Das würde Frevelmut, Vermessenheit, eine Herausforderung Gottes sein. Und richtiger wäre es, erst nach Tlascala zurückzukehren und dort abzuwarten, bis das Heer sich durch neue Bundesgenossen oder durch die Landung anderer Europäer vergrößert habe.
Eine Weile ließ Cortes den Sturm sich austoben. Erhöht stand er auf einem Geröllblock, und mit unsäglicher Verachtung blickte er nieder auf die johlenden Meuterer. Durchschauten sie, daß er ein Spieler war? Er wußte es – doch sie durften es nicht wissen. Nur blinder Glaube kann Wunder tun. O diese selbstmörderischen Zweifler! War dies der Dank dafür, daß er eine neue Welt erschlossen hatte? Wunder über Wunder waren geschehen, die schwersten Hindernisse, Völker und Gebirge waren überwunden worden, und jetzt – so dicht vor der Schwelle des höchsten Erfolges – wollten diese Elenden ihre eigene ruhmbekränzte Siegesfahne aus Kleinmut zertreten und zerfetzen ... Doch er bezwang seine Menschenverachtung, wie er sie stets zu bezwingen und verborgen zu halten verstand. Heiteren Blickes beruhigte er Marina und seine Hauptleute: der Anfall von Mutlosigkeit sei eine Krankheit ohne schlimme Folgen, hervorgerufen durch Höhenluft, Kälte, Nässe und Übermüdung. Und dann begab er sich mitten unter die Schreier und verblüffte sie, entwaffnete sie durch seine unbezwingliche Leutseligkeit, fing sie ins Netz seines Willens, durchzitterte sie mit einer wie Orgelklang schwingenden Begeisterung. Er wies mit seiner schlanken, handschuhbedeckten Hand hinab auf das mondbeglänzte Hochtal Anahuac. Schon in Tlascala, in Cholula und Huexotzinco waren ihm geographische Karten aus Agavepapier vorgelegt worden, auf denen alle umgrenzenden Berge, alle Seen, Städte und Ortschaften gemalt waren. Er kannte jeden Namen, wußte Bescheid über die Lage der Tore und Türme jeder Stadt, konnte Auskunft geben, durch welche Erzeugnisse und Kunstfertigkeiten ihre Bewohner sich hervortaten. Meilentief unterhalb der Hochwiese blinkten, wo die Ausläufer des Popocatepetl in der Ebene sich verliefen, die beiden länglichen westwärts sich erstreckenden Süüwasserseen von Chalco und Xochimilco, getrennt durch einen breiten Damm, in dessen Mitte die von zwei Seiten seeumspülte Stadt Cuitlahuac lag. Zahllose Pfahldörfer umsäumten die Ufer, und auch in den am Süßwasser gelegenen Städten Chalco, Iztapaltzinco, Ayotzinco, Cuitlahuac, Culhuacan und Xochimilco – der Blumenstadt – waren ganze Stadtviertel auf Pfählen ins Wasser gebaut. Die Chinampaneca, die Pfahlwerkerbauer, hießen die Umwohner dieser Seen, einst ein mächtiges freies Volk und erst vor einem halben Jahrhundert von König Himmelspfeil grausam unterjocht, haßten sie Mexico und lechzten danach, die Ketten brechen und an den räuberischen Unterdrückern Rache nehmen zu können. Das nordwestliche Ende des Sees von Xochimilco bog sich nach Norden und floß über in den großen salzigen Schilfsee von Tenuchtitlan, an dessen Südufer die Städte Coyoacan, Mexicatzinco, Huitzilopochco und Iztapalapan lagen, dann Chapultepec, Popotla und Tlacopan am Westufer, Tepeyacac am Nordufer, Chimalhuacan, Tezcuco und die Gärten von Tezcotzinco am Ostufer – gleich befestigten Vorwerken rings um die Wasserburg Tenuchtitlan, deren Leuchtturm Unserer-Großmutter-Holz, wie auch die ewigen Feuer ihrer Pyramiden, auf die mondblaue Lagune zinnoberroten Glimmer spiegelten. Und noch zwei andere Seen sah man jenseits der Lagune im Norden blinken, den Xaltocansee und den noch weiter entfernten Tzompancosee, den See am Schädelgerüst, und ebenso nebelfern, nur dichter herangerückt an die Kordillerenkette, dort wo die Höhenzüge von Otompan das Hochtal umklammerten, dämmerte das Pyramidenfeld von Teotihuacan, Wo-die-Götter-niedersteigen, aus dem Schleierdunst der Mondnacht hervor.
Otompan war kürzlich von der Schwarzen Blume den Mexikanern entrissen worden, die Bergvölker waren noch immer aufständisch. In Tezcuco war Cacama verhaßt, weil er als Freund Mexicos galt. Und auf Leichenhügeln des durch Mexico zertrümmerten Tepanekenlandes war die Stadt Tlacopan zu einer Scheinblüte aufgesproßt. Nur eines Beschwörungswortes bedurfte es, und die Leichen erhoben sich zu neuen Kämpfen.
Nachdem Cortes die Morschheit der auf Gewalt gegründeten, durch Gewalt sich erhaltenden Tyrannenmacht beleuchtet hatte, zeigte er seinen Soldaten Tenuchtitlan, die »Stadt im Kolbenrohr«, und malte sie so herrlich schön, wie er sie in seinen Träumen zu sehen pflegte. Das war die Königin aller Städte, der Stapelplatz unermeßlicher Reichtümer, der Wohnsitz jenes sagenhaften Mannes el Dorado, jenes goldstarrenden Königs, der, allnächtlich in den See steigend, sich den Goldstaub von Kopf und Gliedern abbadete, um allmorgendlich von neuem vergoldet zu werden. Vasco Nuñez de Balboa, Ojeda, Nicuesa, Pedrarias und Zehntausende mit ihnen waren elend gescheitert, als sie den Goldmann suchten. Jetzt aber – endlich, endlich – hatte mit des Erbarmers Beistand eine kleine Schar beherzter Männer das Tor der Sierra Nevada zu öffnen vermocht. Nur wenige Tage noch, und eintreten würden sie, weltbeneidete Konquistadoren, in den Kristallpalast Montezumas, seine Zwingherrschaft zu brechen, Blutaltäre in Kirchen zu verwandeln, Berge Goldes zu erwerben – wie sie noch niemals von sieghaften Soldaten erworben wurden ...
Ein Zauberer war Cortes. Unwiderstehlich bannte seine Feuerrede. Auch die Übelwollenden erlagen ihr. Der Mut war wieder aufgerichtet, das Heer war ihm zurückgewonnen. Stürmische Beistimmung lohnte ihm. Gegner, die eben noch einander bedroht hatten, umarmten sich.
Auf der Hochwiese übernachtete das Heer. Vor Überfällen war man selbst in Alpenhöhen nicht sicher. Schildwachen wurden aufgestellt. Und als Parole für diese Nacht wählte Cortes die Worte: Der schönste Blick der Welt.
Gegen Mitternacht knatterten die Musketen der Wachtposten. Das ganze Heer, aus dem Schlaf geschreckt, griff zu den Waffen, lief durcheinander. Doch sogleich schon wurde beschwichtigt: die Schießerei sei ohne Belang, nur fünf Mexikaner seien getötet worden ...
Vielleicht waren es neugierige Gebirgsbauern gewesen. Nie ließ es sich aufklären, warum sie sich in Schußweite herangewagt hatten.
Alle, mit Ausnahme der Wachtposten, legten sich wieder zur Ruhe, da keine Gefahr im Verzuge war.
Und dennoch schwebte in dieser Nacht das kleine Kastilierheer in einer Gefahr, mit welcher verglichen alle bislang überstandenen sich wie Kinderspiel ausnahmen. Nichtsahnend schlummerten die Soldaten, während das Schicksal zu ihnen emporklomm, sie zu vernichten, sie führerlos und ratlos den Feinden auszuliefern. Doch das lachende Glück des Cortes siegte auch in dieser Nacht über das wahllos zutappende, blindwaltende Geschick.
Um zwei Uhr, als der Mond untergegangen war und die Sonne noch nicht begonnen hatte, den Sternhimmel bleich zu färben, machte Cortes die Ronde. Als er an eine Wache herantrat und kaum drei Schritte von ihr entfernt stand, hörte er das Spannen eines Hahnes, und im selben Augenblick sah er den Lauf einer Muskete auf seine Brust gerichtet. Er hatte gerade noch Zeit, die Losung: »Der schönste Blick ...« zu rufen. Schon war es zu spät, – der Wachtposten drückte los. Ein hartes Knacken ließ sich vernehmen. Doch das Gewehr versagte – das Pulver war genäßt.
Der Wachtposten hatte, während er abdrückte, die Parole vernommen und die Stimme des General-Kapitäns erkannt, war aber nicht mehr imstande gewesen, den Finger vom Hahn zu lösen. An allen Gliedern zitternd und schlotternd warf er die Muskete ins Gras, stürzte vor Cortes auf die Knie, weinte und küßte ihm die Hände.
»Gott hat es abgewendet! Gelobt sei der Allmächtige!« schluchzte er, halb irr vor Schrecken und Beglückung darüber, daß Cortes unversehrt vor ihm stand.
»Seid Ihr nicht Martin Gutierrez, der Schiffbaumeister?« fragte Cortes.
»Der bin ich, Señor Capitan! Gebe Gott, daß ich einst gutmachen kann, was ich heute verbrach ...«
»Ihr habt Eure Pflicht getan, mein Sohn! Die Schuld lag an mir, daß ich Euch nicht früher anrief.«
Cortes ging weiter, bis er in der Finsternis allein war mit seinem Gotte. Schrecken zitterte in ihm nach, und Dankbarkeit durchschütterte ihn. Im Schlachtgewühl hatte er sich nie geschont – jetzt aber fühlte er, daß seine Lippen blutleer waren. Und auch er kniete nieder und weinte Freudentränen – niederblickend auf Anahuac zu seinen Füßen und auf die ewigen Sterne über seinem Haupte.
Immer häufiger, fast täglich, wurde Montezuma vom Schweifenden Haupt heimgesucht. Irrte er durch die Palastsäle, so kam es durch Saaltüren hinter ihm dreingeflogen, schloß er sich ein, so zwängte es sich durch Mauern und Wandverkleidungen hindurch, sprang aus einer Saalecke hervor, umkreiste ihn, grinste ihn an. Selbst ins schwarze Haus der Trauer, wo er ganze Tage vor dem Kristallschädel kniend verbrachte, schwebte es herein, dörrte ihm das Blut in den Adern.
Träge und geräuschlos war der Flug des Schweifenden Hauptes, dem Flug einer Eule ähnlich. Es war ein bloßes Knochenhaupt, körperlos, fleischlos, ein gelber Schädel, leer und hohl wie eine trockene Kalebasse. Es prallte an Montezumas Schenkel, und wie ein Ball prallte es ab, kollerte auf den Marmorplatten des Fußbodens hin, mit dem hohlen Geräusch eines rollenden Schädels ...
Da Tempel- und Palastmauern keinen Schutz boten, floh Montezuma, als das furchtbare Gespenst ihn wieder einmal umwirbelte, ächzend und stöhnend auf die Dachterrassen des Huei-Tecpan hinauf. Und seltsamerweise folgte das Haupt ihm dorthin nicht nach, stellte sich auch später nicht ein, gleichsam als wäre es an die Nähe des Erdbodens gebunden. Seitdem weilte Montezuma Tag und Nacht auf dem Palastdache. Um gegen Sonnenglut und nächtliche Winde geschützt zu sein, ließ er Dachgezelt aufrichten für sich, seine Krüppel und Narren und die jüngsten Schönen aus dem Haus der Vierhundert Frauen.
Vom Gespenst war er befreit, von der Sorge nicht, die immer malmender lastete. Das Unentrinnbare wälzte sich heran, war nicht mehr durch Schneegebirge den Blicken entzogen. Schon waren die Söhne der Sonne ins Hochtal Anahuac herabgestiegen, schon hatten sie den See von Chalco erreicht, schon näherten sie sich Iztapalapan am Schilfsee, von wo aus der große Steindamm ins Herz von Mexico führte. Und zunichte geworden waren alle Rettungspläne, hatten sich in ihr Gegenteil verkehrt, hatten das Verhängnis, statt es abzuwenden, noch mehr verdüstert und ergrimmt. Nicht nur mißglückt war der Hinterhalt in Cholula – abschreckend für andere Lehnsstaaten mußte es sein, daß Cholula die Gefügigkeit, mit der es mexikanischen Befehlen nachgekommen war, durch das furchtbare Blutbad gebüßt hatte. Jedermann war es bekannt, daß Felsblöcke gelockert und die Gebirgsstraßen mit Steinen und gefällten Baumstämmen versperrt worden waren, – nur noch vermehrt war dadurch das Ansehen der weißen Götter, und vor aller Welt war nun dargetan, daß sie sich von keinem Hindernis, von keiner Schranke abhalten ließen und fähig waren, das Ungangbare gangbar und das Unauseenkliche möglich zu machen. War doch einer dieser Götter bis ins Herz des Rauchenden Berges hinabgestiegen, sich den Tanz der dreizehn Felssteine anzusehen. Und wie sie allkönnend waren, so waren sie allwissend, den falschen Montezuma hatten sie entlarvt, und nicht dem Tode, nur ihrer Strafe und Verhöhnung hatte sich der Tempel-Feger durch den Sprung in den Abgrund entzogen.
Den letzten, den einzigen Freund hatte Montezuma verloren. Daß es ein Feind gewesen, begriff er um ihn klagend so wenig, wie daß er selbst sein schlimmster Feind war. Eines freilich wurde er inne, daß er freundlos war und gänzlich verwaist. Das Schwelende Holz, sein Lebensretter, weilte fern in der Huaxteca. Der Annalenschreiber Feuer-Juwel verstand doch bloß von toten Völkern zu reden und hatte, ein honigzüngiger Höfling, nie ein kühnes Wort auf den Lippen. Der Spinner war zwar ein sorgenscheuchender Trinkgenosse gewesen, fesselnd durch die Anmut seiner Gedichte, belebend durch seine lustige, schlagfertige Redegewandtheit – doch allen Nachforschungen zum Trotz war er in Tenuchtitlan nicht mehr aufzufinden. Und immer wieder schweiften jetzt Montezumas Gedanken zurück zum Zauberer Zacatzin, dem Geächteten, der Rache Entschlüpften ... Ungeheuerlich und doch lockend war es, ihn sich als Freund vorzustellen, als Berater und Lenker im Gewissenssturm – ihn, der die Gabe besaß, zu geißeln durch mannhafte Worte, aufzupeitschen, zu ermannen, aufzurichten ... Vergebene Hoffnung, daß er wieder auftauchen werde aus seiner Verschollenheit, daß er den morschen Thron zu stützen bereit sein könnte. Denn hätte er die Zaubermacht, sich schadlos vor des Weltherrn Antlitz zu wagen, so würde er nicht mehr Donner sein wie bisher, sondern zündender Blitz. Und aus Liebe zum Volk Anahuacs würde er zertrümmernd den Thron nicht schonen, würde er auf Trümmern neu aufbauen wollen ...
Verwaist war Montezuma. Nur noch Musik war seine Freundin, freie, ungebundene, kühne Musik. Und hingezogen fühlte er sich zu dem Künstler, der ihn ins Traumreich der Töne entführte. Scheinfreund wurde ihm sein Musikmeister, ein grauhaariges, schon etwas alterblödes Männchen, das die vielerlei Chöre der Sänger, Sängerinnen, Schildkrötenpanzerschläger und Flötenspieler leitete und trotz seiner Bejahrtheit mit blendender Taktsicherheit die gebräunte Affenhaut der am Boden liegenden Holzpauke erdröhnen machte. Er hieß Quecholcoatl, Löffelreiher-Schlange, einst ein Prinz von Amaquemecan-Chalco, lebte er seit mehr als fünfzig Jahren am Hofe von Tenuchtitlan und war schon unter König Wassergesicht, König Kreideweiß und König Molch Musikmeister gewesen. Für einen Schmuck des Huei-Tecpan, ererbtes Eigentum, kaum mehr als ein Ding und versklavt wie die Krüppel und Narren und alles, was den Glanz der Krone Mexicos mehrte in der Welt, hatte Montezuma diesen Mann stets betrachtet, erst die Vereinsamung lehrte ihn die schlichte Einfalt schätzen, die um Gold und Auszeichnungen nicht käuflich war.
An käuflichen, besoldeten Freunden, Ratgebern und Kundschaftern fehlte es freilich dem Zornigen Herrn nicht – verringert hatten sie sich nicht in diesem Unglücksjahre Eins-Rohr, eher hatten sie sich sogar vermehrt. Sie brüsteten sich mit ihren Verdiensten um den Thron, und ihre stolzen Worte glichen gierig ausgestreckten Bettlerhänden. Doch ekelte es ihn zwar – er konnte ihrer nicht entraten. Er konnte vor allem auf die Kundschafter nicht verzichten. Durch sie wurde er über die Stimmung in den Residenzen des Drei-Städte-Bundes – Tlacopan und Tezcuco – und in den vielen Vasallenstaaten immerzu aufgeklärt, auch in manchen Palästen Tenuchtitlans unterhielt er Späher und ließ sich jede mißfällige Äußerung, jedes Drohwort des grollenden Adels hinterbringen.
Erkauft mit seinem Golde, verklagten Kinder ihre Eltern, Diener ihre Herren. Sein Gold tilgte Liebe, Dankbarkeit und Treue aus.
Schon seit Jahren leistete eine Dienerin der Herrin von Tula, eine frühere Amme und Wärterin der Prinzessin Perlmuschel, dem König Kundschafterdienste. Sie war es, die ihn hatte wissen lassen, daß Abgesandte des Volkes von Tezcuco im Palast ihrer Herrin angelangt seien, Menschen-Puma als König der Acolhuas zu huldigen. Und ebenfalls durch sie war er benachrichtigt worden, welche Gefahr ihm vom Edelsteinfisch drohte, so daß der Mordversuch vereitelt werden konnte.
Nach der Befreiung der Prinzessin Perlmuschel aus dem »Ort der Schergen«, dem königlichen Kerker, hatte sich die Wärterin sofort nach Tezcuco begeben. Und die ahnungslose Prinzessin kannte kein Geheimnis vor ihr, liebte sie wie eine zweite Mutter und war allzusehr geneigt, ihren Ratschlägen Gehör zu schenken. Sie ließ sich von ihr auch begleiten, als sie mit ihren Brüdern Ohrring-Schlange und Schwarze Blume an den Südwassersee von Chalco kam, Cortes vorgestellt zu werden und die Taufe zu empfangen.
Wenige Tage darauf war die Spionin wieder in Mexico. Und sie wurde die Treppe empor auf die Dachterrasse des Huei-Tecpan geführt. Als sie, gehüllt in einen grauen Agavehanfmantel, das königliche Prunkzelt betreten, Kügelchen aus Kopalharz in ein Kohlenbecken geworfen und, mit drei Verbeugungen sich nähernd, »Großer Herr! Großer Herr! Erhabener großer Herr!« gesprochen hatte, entfernte sich alsbald das Gefolge, da der Zornige Herr sie ohne Zeugen anzuhören wünschte.
»O Herr, o König!« sagte die Wärterin. »Die Prinzessin Perlmuschel hat sich in einen schnellfüßigen Hirsch verwandelt, doch deiner Strafe entlaufen, deiner Strafe entgehen konnte sie nicht! Viele gleiten aus vor deinem Goldthron, keiner entkommt dir! Sei froh in deiner Herrlichkeit: ich habe den versuchten Mord gestraft, ich habe dich gerächt an der Prinzessin und habe sie zur zerknitterten Schmuckfeder gemacht!«
Da ließ sich Montezuma erzählen, wie Perlmuschel zur verwelkten Quetzalfeder wurde.
Die Wärterin begann ihren Bericht mit dem abendlichen Tanzfest in Tezcotzinco und der Aussöhnung der drei Söhne des Herrn des Fastens. Die Schwarze Blume hatte sich zuerst geweigert, war zornig in den Garten hinausgeeilt, doch Perlmuschel, die ihm hinaus gefolgt war, hatte ihn schließlich umgestimmt, so daß er zurückkehrte und den Edlen Traurigen umarmte. Indes nur einen Tag lang herrschte Eintracht. Nach Cacamas Abreise eröffnete die Schwarze Blume der Mutter und den Geschwistern, was er in Gegenwart Cacamas verschwiegen hatte: er habe sich mit heiligem Wasser begießen lassen, sei ein Anhänger des ans Kreuz genagelten Gottes geworden, und er habe dem Führer der Sonnensöhne, welchen die Tlascalteken den Grünen Stein nannten, seine Schwester Perlmuschel als Weib versprochen, außerdem habe er sich verpflichtet, am Ufer des Chalcosees wieder zum Heer zu stoßen und seine Mutter, seine Schwester und seinen Bruder mitzubringen, damit sie gleichfalls sich taufen ließen.
Erst widersetzten sich die Mutter und die Geschwister und brachten durch ihre Absage die Schwarze Blume zur Raserei. Als er einsah, daß er mit Drohungen wenig ausrichtete, begann er zu überreden, flehte und beschwor und gemahnte an den Herrn des Fastens, seinen Vater: wie sehr er den Blutdurst der Götter Anahuacs verabscheut habe und daß es seine Verheißung und Hoffnung gewesen sei, der weiße bärtige Quetzalcoatl werde wiederkehren und die Opfer abschaffen. Obgleich Ohrring-Schlange und Perlmuschel im Herzen der Schwarzen Blume zustimmten, scheuten sie sich doch, durch ihren offenen Übertritt der Herrin von Tula einen Schmerz zu bereiten. Denn die Witwe des Herrn des Fastens mißbilligte wohl die Opfer und ersehnte wie einst der tote König die Rückkehr der milden Herrschaft des toltekischen Gottes, hielt aber dennoch den alten heimischen Göttern die Treue.
Zwei Tage lang währte der Hader. Der Leidenschaftlichkeit der Schwarzen Blume gelang es schließlich, den Widerstand seiner Geschwister zu brechen. Perlmuschel erklärte sich – ebenso wie Ohrring-Schlange – bereit, an den Chalcosee zu kommen und den neuen Glauben anzunehmen. Sie willigte auch ein, des Grünen Steines Weib zu werden, vorausgesetzt, daß dieser durch Versprechen sich binde, die blutende Wunde des Blütenbaumes von Yuquane zu rächen und Menschen-Puma dem Zornigen Herrn zu entreißen.
Die Erwartung der Geschwister, die Mutter werde im letzten Augenblick vor Antritt der Reise sich ihnen doch noch anschließen, erfüllte sich nicht. Zu einem in den Gärten Tezcotzincos befindlichen kleinen Tempel flüchtete die Herrin von Tula, sperrte sich ein und weigerte sich, ihr Asyl zu verlassen. Da ließ die Schwarze Blume, sinnlos vor Wut, Brennholz herbeischaffen und zündete den Tempel an vier Ecken an. Stolz trat die Königin aus dem schon brennenden Tor, und sie beschimpfte die weißen Götter und nannte es erbärmlich, daß ihr Sohn sich von einem winzigen Häuflein fremder Eindringlinge einfangen und verknechten ließ. Die Schwarze Blume aber schrie: Wäre sie seine Mutter nicht, er würde ihr für diese Worte den Kopf vom Rumpfe trennen ...
Die Herrin von Tula blieb in Tezcotzinco. Und als ihre Kinder von ihr Abschied nahmen, sprach sie den Mutterfluch über die Schwarze Blume aus.
Und weiter erzählte die Wärterin, wie sie zugegen gewesen sei, als in der Stadt Chalco die Schwarze Blume seine Geschwister dem Grünen Stein zuführte. Alle Könige des südlichen Wassergaus waren mit reichen Geschenken gekommen, den Gott ihrer Ergebenheit zu versichern, ihm mit prachtvollen Kriegstanz-Vorführungen und Gesängen zu huldigen und über den Zornigen Herrn Klage zu führen, nur Miccacalcatl Tlaltetecuintli, König der Stadt Huixtoco-Tecuanipan-Amaquemecan-Chalco, war nach Tenuchtitlan geflohen, und selbst der achtzigjährige Frierende Adler und der Frauen-Sucher – der neun Jahre alte König von Panohuayan – hatten sich eingefunden und führten Tänze auf. Und auch die musikbegabten Einwohner Chalcos tanzten dem Grünen Stein zu Ehren den Tapir-Reigen. Doch der Grüne Stein sah die Reigenden nicht, er sah nur die Prinzessin. Und Malintzins Augen waren wie die Augen eines pfeildurchbohrten Hirsches, als sie die Schönheit der Prinzessin gewahrte. Und während sie die Reden der Prinzessin verdolmetschte, flatterte ihre Stimme wie eine gefangene verschreckte Schwalbe hin und her. Perlmuschel erbat sich die Zusage vom Grünen Stein, daß er die blutende Wunde der Blume von Yuquane am Mörder des Prinzen Grasstrick räche und Menschen-Puma, der nach der Schädelschlacht zum König ausgerufen war, auf den Thron Tezcucos setze – und wenn er das täte, wolle sie sein Weib werden! – In Gegenwart all der Könige sagte sie das, mit glorreicher Schamlosigkeit bot sie sich an, schmerzlich stolz, als weihe sie sich für die Opferblutschale Unseres Herrn des Geschundenen. Und Malintzin übersetzte ihre Worte und wagte den Gott nicht anzublicken. Er aber schlug ihretwegen die Prinzessin aus. Und da es ihm schwer wurde, sagte er gequält und finster: »Ich habe nie Liebe gekauft, Prinzessin, und habe mir meine Taten nie bezahlen lassen, auch ohne deinen Lohn der zu hoch ist – da du zu hoch stehst –, werde ich für die rote Blume Vergeltung üben und den Knaben zum König von Tezcuco machen!«
Und als am Abend die Prinzessin allein war, schluchzte sie, weil sie ihre Schönheit verschmäht sah. Und sie gestand der Wärterin ein: sie wisse jetzt, daß sie den Grünen Stein liebe, seit sie ihn verloren. Sein Weib zu werden, sei ihr nun für immer versagt. Nie stillbar sei ihre Sehnsucht. Denn wenn ihr Herz ihr auch gestatten würde, seine Geliebte zu werden, so verbiete das ihr Stolz und die Rücksicht auf ihre königlichen Brüder ...
Und während am südlichen Seeufer das Heer von Chalco bis Cuitlahuac – der Stadt zwischen den beiden Süßwasserseen, wo der zweiköpfige Hirsch verehrt wurde – und dann bis zur Blumenstadt Xochimilco vordrang, war nun die Prinzessin mit dem Grünen Stein und Malintzin täglich zusammen. Und schmerzvoll war ihr Zusammensein, die beiden Frauen haßten sich nicht, sie bemitleideten sich, aneinander leidend.
Und nun berichtete die Wärterin, wie sie den Plan ausführte, die Prinzessin zu verderben.
Der Garten des Palastes, wo der Grüne Stein in Xochimilco wohnte, war vom See umspült. Das Ufer war felsig, und in einer Basaltgrotte schlürften schäumig die tiefblauen Wellen. Im See, dicht vor der Grotte, befand sich – kaum anderthalb Fuß unter dem Wasserspiegel – die liegende Steinfigur einer Acihua, einer Seejungfrau. Diese war der Schutzgeist des Seevolkes, und an gewissen Festtagen kamen aus den Pfahldörfern der Umgebung Hunderte von Booten angerudert, und Mädchen versenkten als Opfergaben für die Seejungfrau kleine goldene Eidechsen und Edelsteinnasenstäbe. Unterhalb des Bildwerkes war auf dem Seeboden eine heiße Quelle, deren spärliches Wasser, durch den halboffenen Mund der Seejungfrau sickernd, sich mit den Gewässern des Sees vermengte. Das Volk von Xochimilco glaubte, daß jedem, dem es gelänge, den heißen Strudel von den Lippen der Seejungfrau zu trinken, der sehnlichste Wunsch sich erfüllen müsse, – aus Furcht, sich zu verbrühen, schreckten freilich die meisten zurück
Auf diesen Glauben baute die Wärterin ihren Plan. Sie stellte der Prinzessin in Aussicht: ihr sehnlichster Wunsch werde in Erfüllung gehen.
Als aber Perlmuschel nachts sich ans mondbeschienene Gartenufer begeben hatte und sich von zwei Sandalenbinderinnen in der Basaltgrotte entkleiden ließ, eilte sie – die Wärterin – zum Grünen Stein. Und da man wußte, daß sie die Freundin der Prinzessin sei, wurde sie sogleich vorgelassen. Und sie sagte: unrecht sei es von den Leuten, die sich eben erst mit heiligem Wasser begießen ließen, daß sie heimlich den Göttern Mexicos opferten. Und wie der Grüne Stein sich weigerte, das zu glauben, erbot sie sich, ihm es zu beweisen. Doch bestand sie darauf, er müsse ohne Begleitung und auch ohne Malintzin ihr in den Garten folgen. Da hieß der Grüne Stein Malintzin zurückbleiben und kam zur Grotte ans Ufer.
Dort kniete die Prinzessin nackt auf dem Leibe der liegenden Seejungfrau. Mit den Händen stützte sie sich auf die Schultern des Steinbildes. Ihr offenes schwarzes Haar fiel über die Stirn mähnig in die Wellen. Die abwärts gerichteten Brustwarzen berührten das Wasser. Die obere Hälfte der Schenkel ragte schlank und sehnig aus der Flut. Und dann tauchte sie mit dem Kopfe langsam hinab, küßte die Seejungfrau auf den halb offenen Mund, schlürfte ihr den heißen Trank von den steinernen Lippen, während ihr schwarzes Haar auf den Seewogen flutend mondumschimmert glitzerte.
Strahlend, von Wasserperlen träufelnd, erhob sie sich und stand aufrecht da in ihrer sieghaften Blöße. Jetzt erst erblickte sie den Grünen Stein und stieß einen seligen Verzweiflungsschrei aus, als wäre ihr ein Traumbild erschienen. Die Sklavinnen entflohen, und die Wärterin verbarg sich hinter Gestrüpp.
Die Liebenden konnten sich nicht verständigen. Doch auch Worte hätten sie voreinander nicht mehr retten können. Mit traurigen, brennenden Augen sahen sie sich an. Langsam kam Perlmuschel ans Ufer, kniete vor dem Grünen Stein hin, hob flehend die Hände. Sie selbst hoffte kaum noch auf seine Großmut. Er schüttelte den Kopf, hob sie auf seine Arme und trug sie in die Grotte.
Montezuma schlug auf eine goldene Trommel, Höflinge stürzten ins Zelt.
»Ergreift diese Kupplerin!« schrie er. »Sie soll der Göttin Sieben-Schlange geschlachtet werden!«
Und nachdem die Wärterin weggeführt war, gab Montezuma Befehl, Menschen-Puma der Prinzessin Perlmuschel zuzusenden und ihr zu melden: Der Knabe sei des Großkönigs Lohn für ihre Hurerei, vom Grünen Stein werde sie geringeren Lohn empfangen!