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Zwölftes Buch

Den Ammen Mexicos gab man, wenn sie Knaben säugten, einen kleinen rubinroten Wurm zu essen, den Izcahuitl oder »Blutwurm«, welcher im Schlamm der Lagune lebte und von dem die Sage ging, er färbe sich mit dem Blut der Ertrunkenen. Fischer versicherten, sie hätten auf dem Seeboden Leichen gesehen, wie umhüllt von einer beweglichen, sich schlängelnden Purpurdecke, gewirkt aus den biegsamen Leibern vieler Tausender solcher Tiere. Lang wie ein Finger war der Blutwurm, hatte keinen Kopf, und sein Schweif war gespalten. In Stücke geschnitten und gesotten, wurde er von den Ammen verzehrt.

Als einst der Kriegsgott, der blaubemalte Von-der-Jungfrau-Geborene, eine ellenbreite, weithin duftende weiße Silberreiherblume in der Hand haltend, den in der siebenten der Urmenschenhöhlen zurückgebliebenen Azteken befohlen, das Reiherland zu verlassen und denselben Weg einzuschlagen, den vor ihnen die Tolteken, Chalken, Tepaneken, Culhuas, Tlalhuiken und Tlascalteken gezogen waren, hatte er ihnen, während sie an Tula vorbeikamen, das Land der Verheißung und den silbernen von Weiden, Pappeln und Sadebäumen umbordeten Schilfsee Mexicos vor die Augen gezaubert. Alsbald fingen die Azteken dort auf dem Zaubergewässer Seeraben und Blauflügelenten, und sie fanden in ihren ausgeworfenen Netzen außer Fischen, Krabben und Eptli-Austern auch karminrotes Gewürm. Da vernahmen sie die grausige Stimme des in einer Lade verborgenen Stammgottes:

»Ich bin Huitzilopochtli – niemand kommt mir gleich! Ich bin der Blutwurm! Des Blutwurmes Fleisch ist mein Fleisch, sein Blut ist mein Blut, sein Körper ist mein Körper! Wer den Blutwurm verzehrt, stärkt sich mit meinem Mut und meiner Kraft! ...«

Doch nur wohlhabende Frauen und bezahlte Ammen genossen den Izcahuitl. Das niedere Volk und die zahllosen Sklaven Tenuchtitlans hatten sich immer geekelt vor dem zweischwänzigen Tier. Und jetzt verabscheuten sie es mehr denn je, sie waren erwacht seit der Nacht der Schrecken. Wohl hatte diesmal noch Quetzalcoatl vor den finstern Göttern weichen müssen. Doch seit das Palladium Mexicos, die vom Überwältiger gestiftete Goldmaske, auf dem Schlangenberg mit offenem türkisumringten Munde und mit leeren aufgerissenen Augenlidern auf die Wasserstadt niederblickte, hatten Schlag auf Schlag Unglücksfälle die Ohnmacht des Blutwurmes Mexico offenbart. Bei Otompan hatten die Heerscharen eine schmachvolle Niederlage erlitten, dem geplanten Bund der indianischen Völker waren Tlascala, Huexotzinco, Cholula und Chalco nicht beigetreten, die geraubte Witwe des Überwältigers hatte nicht zurückgeholt, die Steinigung des Alten Wickelbärs nicht gerächt, der Kriegsrüstung der Staaten Am-Kolibri-Wasser und ihrer weißen Zwingherren nicht Einhalt geboten werden können. Und während nunmehr – wenige Wochen vor der Wintersonnenwende – Tenuchtitlan das Panquetzaliztli, das Emporheben-der-Fahne, das Hauptfest des Furchtbaren Huitzilopochtli, feierte, senkte sich wie ein schwarzer Nebel der Schrecken auf die Tanzenden herab, ließ sich doch die Unheilsbotschaft dem Volke nicht mehr verheimlichen, daß das Heer der Gelbhaarigen wieder an den Schilfsee gelangt war und daß die Hauptstadt Acolhuacans, Tezcuco – durch Verrat der Anhänger der Schwarzen Blume –, ihre Tore dem Grünen Steine geöffnet hatte. Nur mit Mühe waren König Ohrring-Schlange und seine Mutter, die Herrin von Tula, der Gefangennahme entronnen, waren heimlich bei Nacht über den See herüber geflohen.


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