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Begraben unter dem Getrümmer und dem Schutt des eingestürzten Yacacalco lagen viele Hundert teils toter, teils mit dem Tode ringender Frauen und Mädchen. Aber wie bei der Einäscherung des Hauses der Trauer der kristallene Totenschädel der Vernichtung entging, so blieben wie durch ein Wunder auch im Yacacalco zwei Wesen völlig unversehrt: Königin Silber-Reiher und ihr steter Begleiter, der Höfling Coxtemexi. Freilich verging längere Zeit, ehe sie sich ihrer Unversehrtheit bewußt wurden und, erwachend aus der anfänglichen Betäubung, daran denken konnten, sich in Sicherheit zu bringen. Die in der Gasse begonnenen Kämpfe zwischen den zu Hilfe gekommenen Mexikanern und den von Tapia und Hernandez geführten Christen waren durch den Einsturz der Dachterrasse unterbrochen worden: der haushohe Schutt sperrte die Gasse, trennte die Fechtenden. Und gleich darauf wurden Angreifer sowohl wie Verteidiger auf den Platz der Steinernen Schildkröte gerufen, wo die Entscheidungsschlacht tobte.
Das Kriegsgeheul zog mit den Abziehenden nordwärts, ebbte ab, klang nur noch aus weiter Ferne. Um so deutlicher vernehmbar wurden die Jammerschreie und das Gewimmer der verletzten Frauen. Weißer Staub hatte – aus der emporgeflogenen Kalkwolke niederrieselnd – die Trümmerstätte gleich weichem Dünensand überdeckt und schimmerte rotweiß im Flammenschein der beiden Königsschlösser. Coxtemexi half der neben ihm liegenden Königin Silber-Reiher sich aufrichten, nachdem er ihr rechtes Bein unter einem Dachbalken hervorgegraben hatte. Sie hinkte ein wenig, hatte aber nur Hautabschürfungen am Knie und am Nacken. Gestützt auf seinen Arm, kletterte sie mit ihm über das Gewirr von Quadern, Sparren und Leichen. Sie schritt über die Leichen wie ebenfalls über die noch lebenden, stöhnenden, um Hilfe schreienden Frauen, mochten sie Dienerinnen oder Prinzessinnen sein. Aber vor einer der Leichen blieb sie mit einemmal stehen und beugte sich über sie.
»O Herrin, wen blickst du an?« fragte ihr Begleiter.
»Lebt sie noch?« fragte Coxtemexi.
»Die Mutter des Dichters!« sagte Silber-Reiher.
»Wenn sie noch lebt, müssen wir sie mit uns forttragen! ... Sie scheint tot zu sein ... Sieh nach!«
Coxtemexi kniete im Schutt neben der Mutter des Spinners nieder, legte sein Ohr an ihren Mund, lauschte, ob sie noch atme, dann tastete er an ihrem Körper entlang.
»Sie ist tot«, sagte er. »Ihr Kopf ist zertrümmert.«
Und er zog der Alten die graublaue Baumwollkopfbinde vom rotverharschten weißen Haar ab und zeigte eine klaffende Gehirnwunde.
Stumm biß sich Königin Silber-Reiher die Lippen. Dann tauschte sie mit einer jüngeren Toten die Kleider und raubte einer anderen einen dichten Kopfschleier.
Coxtemexi fragte nicht, warum sie das tat.
Schweigend krochen sie weiter. Schließlich erreichten sie die ebene Gasse und bald andere Gassen. Einem toten Azteken nahm Coxtemexi Bogen und Pfeil ab. An einem Kanal fanden sie ein leeres Boot und stiegen hinein.
Weiter weg vom Kampfgetöse ruderte Coxtemexi.
»Wo ruderst du hin?« fragte die Königin.
»Wo niemand uns hören, wo niemand uns sehen kann!«
Er hielt unterhalb einer breiten Kanalbrücke. Das Kanoe tauchte in den schwärzesten Schatten dicht beim Ufer.
»O Königin, wo willst du eine Zuflucht suchen! Montezumas Palast ist nicht mehr deine Wohnstätte.«
»Laß uns überlegen!« sagte sie.
Und lange Zeit überlegten sie hin und her. Das Nächstliegende wäre gewesen, sich zur Herrin von Tula zu begeben, welche eine Heirat ihres Sohnes Ohrring-Schlange mit der Witwe des Edlen Traurigen plante und dieser sehr zugetan war. Doch unerkannt von der dem König Ohrring-Schlange treuen Dienerschaft zu ihr zu gelangen und bei ihr zu wohnen, war unausführbar. Verborgen aber mußten sie künftig leben, als Flüchtlinge, seitdem sie wußten, daß die Mutter des Spinners tot war. Daran war ja nicht zu zweifeln, daß der Dichter seinen verschlossenen Mund nunmehr auftun und bald schon den Herabstoßenden Adler aufklären werde, wer Blutfeuerstein im Mumienbündel ihm zugesandt hatte. Und dann würden sie als Giftmörder verfolgt werden ...
Der Aufschrei der Heerscharen beim Anblick der geraubten Maske unterbrach dieses Zwiegespräch. Wieder erscholl fernes Waffengeklirr, Kriegsgeheul und Kanonendonner. Aber auf dem Kanal regte sich nichts.
Coxtemexi machte der Königin den Vorschlag, sie in den Tecpan des Handelsherrn und Mitglieds des Hohen Rates Tlotli zu bringen. Der Mann sei ehrgeizig, sagte er, habe sich, als Sohn eines armen Obsidianarbeiters geboren, zum reichsten Händler Tlatelolcos emporgearbeitet und wolle noch höher hinaus. Es werde ihm schmeicheln, einer Türkisgebürtigen, einer Tochter Montezumas, eine Freistätte bieten zu können, und wenn sie ihm ihre Hand heuchelnd in Aussicht stelle, werde er ihr wie ein Hund ergeben sein, werde hassen, was sie hasse, werde lieben, was sie liebe, und ihr Versteck niemand verraten.
Silber-Reiher willigte ein. Und Coxtemexi stieß das Kanoe aus dem Schatten der Brücke in den brandroten Kanal. Er mußte, da die Straße der blauen Erdscheibe von neuem zum Schlachtfeld geworden war, einen großen Umweg machen und durch unzählige Kanäle des nordwestlichen Stadtteils Cuepopan und des nordöstlichen Atzacoalco rudern, bis er schließlich – etwa nach einer Stunde Fahrt – in den südöstlichen Stadtteil Teopan gelangte, wo außer den Königen von Tezcuco und Tlacopan und anderen Größen des Reiches auch der wohlhabende Arbeitersohn einen Palast besaß. Der Kriegsgott hatte inzwischen die Hauptstraße verlassen und tobte weit weg auf dem Damm von Itztapalapan.
Mitten auf einem kleinen Kanal stieß Silber-Reiher einen erstickten Ruf aus und zeigte auf die steinerne Brücke. Coxtemexi wandte sich um und erschrak, nach der Brücke hinschauend, nicht weniger als die Königin. Ein Tzitzimitl, ein böser Dämon, stand auf der Brücke und starrte mit Funkelaugen auf die Rudernden.
Es war der Büffel. Die Tierherde, die ihm aus dem brennenden Garten gefolgt war, hatte sich längst in den Gassen verloren und war größtenteils durch Pfeilschüsse niedergestreckt worden. Auch die Flanken des Büffels waren mit Pfeilen bespickt, aber alle Schüsse hatten ihm nichts anhaben können. Gemächlich trabend kam er auf die Brücke, blieb stehen, scharrte, grölte, und sein Atemhauch stieg aus Maul und Nüstern wie eine kleine Rauchwolke in die kühle Morgenluft. Den bärtigen Riesenkopf noch tiefer senkend, trabte das schwere Tier mit leichten tänzelnden Schritten weiter.
Um das Geschenk des Königs von Michuacan hatten sich, seit der bei Nacht erfolgten Rückkehr des Behandschuhten, nur die Wärter des königlichen Tierparkes gekümmert. Selbst Guatemoc hatte sich den Büffel nie vorführen lassen, von Sorgen überhäuft, wie er war. So wußten auch Königin Silber-Reiher und Coxtemexi nichts davon, daß ein Tier von solcher Größe und so blutfinsterem Aussehen in Tenuchtitlan weilte. Daher erstarrte ihnen das Blut beim Anblick des grausam bösen, klafterhoch über ihnen aufragenden Ungetüms, dessen steilnackiger Gliederbau als gewaltige Silhouette brandschwarz in den von Frührot und Feuersbrunst geröteten Himmel emporwuchtete.
Vor Schrecken hatte Coxtemexi aufgehört zu rudern. Das Boot glitt unter die Brücke, und er befestigte es an einem Pfahl, an der dunkelsten Stelle, in der Hoffnung, den Funkelaugen des höllischen Ungeheuers dort entgehen zu können. Zwar hatte es die Brücke bereits verlassen, doch es konnte wiederkehren, dem davonrudernden Kanoe nachspringen, es schwimmend erreichen ... Die Königin war in Ohnmacht gesunken, und Coxtemexi mußte sich um sie bemühen, ihr Gesicht mit Wasser besprengen. Als er nach langem Warten glaubte annehmen zu können, daß der böse Dämon nicht mehr wiederkehren werde, begann er das Boot vom Brückenpfahl loszubinden, um weiterzurudern, unterließ es dann aber plötzlich, da eben ein größeres Boot in den Kanal einbog und sich der Brücke näherte. In dem Boot saßen drei Männer und eine Frau. Zwei der Männer waren als mexikanische Krieger gekleidet. Während das große Boot dicht bei der Brücke war, konnten Silber-Reiher und Coxtemexi – ohne selbst in ihrem dunkeln Versteck gesehen zu sein – die Gesichter der Vorbeifahrenden deutlich erkennen. Die beiden Männer in Kriegertracht waren Feuer-Juwel und der Spinner, der dritte war ein christlicher Priester; und die Frau war Königin Maisblüte.
Als das Boot durch die Brücke gerudert war und in einen Seitenkanal einbog, starrten sich Silber-Reiher und Coxtemexi wie verschreckte Magier nach einer Geisterbeschwörung an.
»O Königin, das war deine Schwester! ...«
»Ja, Maisblüte! ... Wie ist das möglich? ... Und der Dichter! ... Du hast Bogen und Pfeile ... Schicke ihm einen Pfeil nach ... Auch ihr! ...«
»Nein, Herrin – nur ihm! ... Sie ist bereits eine Pfeildurchbohrte, denn sie kommt aus Copalco ... sie hat Montezuma beigesetzt ...«
»Das wäre gut! ... Doch wie weißt du das?«
»Ich werde es dir rudernd erzählen, Königin. Jetzt müssen wir ihnen nachfahren, um zu sehen, wo sie landen!«
Er ruderte dem großen Boote nach und berichtete der Königin, was er die Nacht zuvor auf der Begräbnisinsel Copalco erfahren hatte, wohin er von der flüchtigen Giftmischerin zu einem Stelldichein bestellt worden war.
Nach Copalco – dem »Weihrauchsort« – pflegte ein weißgekleideter Priester das für den Toten erbetene Boot zu steuern, wenn das Totentribunal im Haus der Fledermäuse einen Freispruch verkündet hatte. In den Fels gehauene Kammern, auf deren bemalten Wänden die Wanderung des Toten durch die neun Höllen dargestellt war, beherbergten die Mumienbündel der Türkisprinzen und Könige. Neben der Landungsstelle erhob sich ein kleiner violetter Tempel, auf dessen Spitze sich eine aus Dolerit gemeißelte Schlange ringelte, die einen Puma verschlang. Statt der Giftmischerin hatte Coxtemexi den Annalenschreiber Feuer-Juwel dort angetroffen, der wie fast alle männlichen Bewohner Tenuchtitlans seit Beginn der Belagerung Kriegsdienst tat und vor der Behausung der Toten als Wachtposten aufgestellt war. Verdacht schöpfend – denn einen kriegerischen Zweck konnte die Bewachung der heiligen Insel durch einen einzigen Mann schwerlich haben – hatte Coxtemexi ihn begrüßt und war mit ihm ins Gespräch gekommen. So erfuhr er denn, ihn aushorchend, daß auf ausdrücklichen Wunsch des Herabstoßenden Adlers Feuer-Juwel und der Spinner abwechselnd die Begräbnisstätte bewachten, um einen Mann und eine Frau festzunehmen, welche schon vor etlichen Tagen versucht hatten, die Beerdigungszeremonien im Haus der Fledermäuse an Montezumas Überresten zu vollführen. Damals seien sie gestört worden, und nun schien – das ging aus Feuer-Juwels Worten hervor – Guatemoc zu fürchten (oder zu hoffen), daß der Versuch sich wiederholen, daß die Zeremonie beendet, das Mumienbündel nach Copalco gebracht werden könne, wenn die von ihm gleichfalls im Haus der Fledermäuse aufgestellten Wachen durch Kämpfe am Stadttor und im südlichen Moyotla vertrieben werden sollten.
»Das ist heute geschehen«, endete Coxtemexi seinen Bericht. »Während der Große Palast brannte, wird Königin Maisblüte den Zornigen Herrn bestattet haben. Als sie aber sein Mumienbündel auf der heiligen Insel beisetzen wollte, ging sie in die ihr gestellte Falle ...«
»Das ist keine Falle!« knirschte Silber-Reiher. »Als einst der Herabstoßende Adler vom Zornigen Herrn verbannt worden war, waren der Spinner und Feuer-Juwel seine treuesten Freunde. Und wenn er jetzt Copalco durch diese Freunde bewachen ließ, so ahnte er, wer Montezuma zu bestatten versuchte. Und er wollte Maisblüte (die er immer noch liebt und um derentwillen er mich verstoßen hat) gefangennehmen, nicht um sie hinrichten zu lassen, sondern um sie vor dem Volk Mexicos und den Priestern zu verbergen, um ihr Leben zu retten!«
»O Königin, es ist so, wie du sagst! ... Da, schau, sie legen am Palast des Königs von Tlacopan an!«
»Schieß, eh es zu spät ist!« drängte Silber-Reiher. Sie hatte schon mehrmals während der Fahrt dazu gedrängt. Aber das große Boot war immer weit voraus gewesen, und Coxtemexi, der kein guter Schütze war, hatte die Tat jedesmal verschoben, in der Hoffnung, besser zielen zu können, wenn der Spinner an Land gehen werde.
»Er darf nicht leben!« flüsterte Silber-Reiher.
Da legte Coxtemexi den Pfeil auf den Bogen. Einen Augenblick zauderte er. Denn er sah: aus dem Portal des Palastes traten bewaffnet – staubig und blutbespritzt nach der bei Tagesgrauen erst beendeten Schlacht – der Durch-Zauber-Verführende mit dem Herabstoßenden Adler heraus, die Gefangenen zu bewillkommnen. Hier also hatte der Herr der Welt Zuflucht nehmen müssen, nachdem sein Palast eingeäschert war ... Und trotzdem und trotz der Bresche am Südtor, trotz der unheilvollen Straßenschlacht, trotz dem geraubten Palladium strahlte Jubel auf Guatemocs Antlitz ...
Coxtemexi spannte die Sehne, zielte auf den Spinner und schnellte den Pfeil ab. In der Erregung hatte er schlecht gezielt. Der Dichter blieb unversehrt. Der Pfeil aber durchbohrte die Brust der Königin Maisblüte.
Unerkannt entkamen Silber-Reiher und Coxtemexi. Die ihnen nachgeschleuderten Speere zischten in das hochaufspritzende Kanalwasser, die ihnen nachgesandten Boote erreichten sie nicht und verloren ihre Fährte.
Die folgenden Tage ruhten die Waffen. Die Kastilier pflegten ihre Wunden, heilten sie mit Salben oder Zaubersprüchen, flickten ihre zerfetzten Harnische und Schilde, gossen Bleikugeln,, schnitzten Bolzen – kurz, sie nahmen, zufrieden mit ihrem Erfolg, sich Zeit und überhasteten nicht die Vorbereitungen zu einem neuen Sturm. Die Mexikaner aber bargen, verbrannten, beweinten ihre Toten und geisterten verstört umher, das Unbegreifliche ihres Schicksals nicht begreifend.
Die Bedrücktheit war maßlos. Die Könige und die Adlerfürsten blickten so scheu wie die niedrigsten Knechte, – und die Frage nach einer Schuld und einem Schuldigen lauerte hinter jedem der Blicke. Der Kopf des weißen Kindes war ja der Wassergöttin zugeworfen worden ... Gab es etwa noch mehr zu sühnen in Tenuchtitlan? ...
Und da niemand einen Schuldigen nennen konnte, wurde beschlossen, die Götter zu belustigen, sie heiter zu stimmen. Die Götter wurden eingeladen, der öffentlichen Aufführung eines Schauspieles beizuwohnen. Die Bühne von Tenuchtitlan – ein aus Steinquadern erbautes Podium – befand sich auf einem der kleinen Marktplätze, dem »Kopalmarkt«. Dort aber hätten die Götter und das gesamte Volk nicht Zuschauer sein können, darum errichteten Zimmerleute ein hölzernes Schaugerüst auf dem Huei-Tianquitzli, dem Großen Markt von Tlatelolco.
Am fünften Tage nach dem Raub der Goldmaske wurden die juwelenbedeckten Idole – funkelnd wie Gestirne in einer Frostnacht – von den Götterträgern aus ihren Tempeln auf den Großen Markt getragen und in die vorderste Reihe der Zuschauer gesetzt. Mit steinernem Lächeln auf den von Blut geröteten Mündern und mit glotzenden rundäugigen Blicken schauten die Götzen dem wundersamen Spiel auf der Schaubühne zu. Hinter ihnen saßen auf hohen Sesseln die Könige, die Prinzen, der hohe Klerus, die Staatsbeamten, die Kriegshäuptlinge. Dahinter stand dichtgedrängt das Volk. Hunderttausende füllten den Marktplatz und seine Seitengassen, andere Hunderttausende blickten von den Dachaltanen der Häuser und von den Terrassen der benachbarten Stufenpyramiden herab. Tiefleuchtend wie aus Schmelzglas war das Bild des federbunten Gewühls von Menschen, von Fächern und von Fliegenwedeln, und so weit das Auge reichte, schrillten und überschrien sich die Farben, wie einst in den glücklichsten Zeiten des alten Mexico.
An jene Zeiten gemahnte das von berufsmäßigen Gauklern gespielte Drama. Dargestellt wurde eine Episode aus dem – bald hundert Jahre zurückliegenden – Eroberungskriege Mexicos gegen Chalco.
Ein Bruder des Königs Himmelspfeil hatte in einer Schlacht den König von Chalco getötet, war aber gleich darauf in Gefangenschaft geraten. Statt ihn als Kriegssklaven zu opfern, beschloß das Volk von Chalco, ihn seiner Tapferkeit wegen zum König zu erwählen und ihm die Tochter des in der Schlacht gefallenen Königs zum Weibe zu geben. Als man diesen Beschluß dem Prinzen mitteilte, lachte er und erklärte sich einverstanden, doch verlangte er, daß ein hoher Mast errichtet und auf dessen Wipfel ein Brettergerüst gezimmert werde, damit er, vor der Verehelichung mit der Prinzessin und der Weihung als König, von steiler Höhe herab zum Volke reden könne. Im Glauben, dies sei eine mexikanische Sitte, erfüllten ihm die Chalken sein Begehren. Nachdem der mit einer hölzernen Plattform gekrönte Mastbaum aufgestellt war, versammelten sich rings um ihn her alle gefangenen Mexikaner, der Adel von Chalco mit der Königstochter und das Volk. Der Bruder des Königs Himmelspfeil stieg auf Leitersprossen empor, tanzte oben einen feierlichen Kriegstanz und rief dann den ihm zu Füßen stehenden Mitgefangenen diese Worte zu: »Mexikaner! laßt uns unsere Herzen der Sonne weihen! Laßt uns diesem Volke zeigen, wie sehr es irrte, als es annahm, ein Mexikaner könne für eine Königstochter und eine blaue Stirnbinde seine Heimat verraten! Schaut her – ich zeige diesem Volke, wie wir Mexikaner solche Anmaßungen beantworten! Möge der Anblick meines herrlichen Todes eure Herzen standhaft machen, o ihr Mexikaner!«
Dies rufend, stürzte er sich hinab. Als die Chalken die zerschmetterte Leiche des Prinzen sahen, schlachteten sie sogleich seine jubelnden Mitgefangenen ...
Mehr als die Hälfte dieses Schauspiels war bereits gespielt worden, da wurde plötzlich die Aufführung durch das gelle Angstgeschrei eines Wahnsinnigen unterbrochen. »Tonatiuh, Tonatiuh!« brüllte der Mann.
Der Sonnengott hieß Tonatiuh – »der erhitzend kommt«, aber auch Pedro de Alvarado wurde von den indianischen Völkern Tonatiuh genannt. Den Damm von Tepeyacac beherrschte Alvarado, und wohl war es denkbar, daß er – so wie kürzlich Cortes im Süden – einen Einfall in den Norden der Wasserstadt unternehmen und Tlatelolco überrennen konnte.
Der Wahnsinn rief neuen Wahnsinn, der Angstschrei rief andere Angstschreie hervor.
»Die Gelbhaarigen kommen! Flieht, flieht!« erscholl es von überallher.
Von einer unbeschreiblichen Panik ergriffen, barst und stob die Menge auseinander. Die Hunderttausende fluteten in die engen Seitengassen. Eine der Gassen führte über einen Kanal, dessen Brücke unter der Last der Fliehenden zusammenbrach. Das Geschrei der Ertrinkenden wurde von der eingezwängten, eingekeilten Menschenmenge auf dem Großen Markte nicht gehört: – sie war eine einzige Fleischmasse geworden, beherrscht von einem einzigen wahnwitzigen Willen. So preßte und drängte sie unaufhaltbar weiter, bis die eingestürzte Brücke durch eine Totenbrücke ersetzt war, über welche der Menschenstrom hinwegfluten konnte ...
Die Götter, die Könige und die Priester waren auf ihren Sitzen geblieben. Nach geraumer Weile begannen die Massen auf den Marktplatz zurückzuströmen, beschämt darüber, daß sie von blindem Lärm sich hatten so würdelos verjagen lassen: – denn von den Tempelterrassen aus ließ sich feststellen, daß die Christen außerhalb der Mauern weilten und zur Zeit an keinen Angriff dachten. Jetzt erst wurde bekannt, daß zahllose Männer, Frauen und Kinder in einem Kanal umgekommen waren. Die Zahl der Niedergetretenen und Ertrunkenen war erschreckend. Und die Kunde wirkte um so erschütternder, als der Unfall beinahe in unmittelbarer Nähe der versammelten Götter Mexicos sich ereignet hatte. Um die Götter zu erheitern, hatte man sie zum Schauspiel eingeladen. Dies also war ihre grauenvolle Heiterkeit! Und wieder stieg in allen Herzen das Mißtrauen hoch: wer unter uns ist der Schuldige? ...
Die Könige von Mexico, Tezcuco, Tlacopan und der Behandschuhte – der König von Cuitlahuac – begaben sich an den Schreckensort. Nur der König von Matlatzinco verließ seinen mit Jaguarfellen bedeckten Thronsessel nicht. Dick, alt, glotzäugig glich er den vor ihm sitzenden Götzenbildern.
Kurz vor der Zerstörung des Aquädukts war er nach Tenuchtitlan gekommen und hatte eine Hilfstruppe von etlichen tausend Mann mitgebracht. Als nach der großen Bußprozession Guatemoc auf Anraten des Behandschuhten die Könige der Maya in Yucatan und Guatemala und den Cazonci von Michuacan als Hilfsgenossen aufgerufen hatte, war von ihm auch sein Oheim, der König von Matlatzinco, aufgefordert worden, dem Bund aller indianischen Völker beizutreten, – obgleich dieser eitle Sohn des Königs Kreideweiß und Gatte der Montezumatochter Nephrit kurze Zeit nach Montezumas Gefangensetzung die im Seeschloß Tezcotzinco bei Tezcuco zusammenkommenden Verschwörer an den Vom-Himmel-Gestiegenen und damit an die Kastilier verraten hatte und Schuld trug, daß die Könige von Tezcuco, Tlacopan, Itztapalapan, Coyoacan und Prinz Ohrring-Schlange an eine Eisenkette geschmiedet, daß der Edle Traurige und der König von Coyoacan im Kerker erdrosselt wurden.
Hatte in der Not Guatemoc von einem alten Gegner Hilfe erbeten, so war das weniger befremdlich, als daß dieser, seinen Haß hinter scheinbare Versöhnlichkeit verbergend, sich bereit gefunden hatte, auf Seiten der Belagerten zu kämpfen. Er tat es, weil er zuversichtlich an die Unvernichtbarkeit Mexicos glaubte. Manche Kriege hatten ja mit Niederlagen begonnen und mit Siegen geendet. In den bisherigen Mißerfolgen sah er nicht Zeichen eines Zusammenbruches, sondern Zeichen der Unfähigkeit des jugendlichen Machthabers. Er hoffte, das Volk werde sich über kurz oder lang gegen den zwar gewählten, aber noch nicht gekrönten König erheben und sich dann seiner entsinnen, der als Sohn eines früheren Herrn der Welt und als Gatte der Montezumatochter Nephrit der vornehmste Anwärter auf den Thron des Aztekenreiches war.
Seitdem er in Tenuchtitlan weilte, hatte er fast täglich Zusammenkünfte mit dem Mexikaner-Priesterchen und mit dessen getreuem Parteigänger, dem Kaufherrn Tlotli, dem Sperber. Auch jetzt, nachdem die vier Könige sich zur Kanalbrücke begeben hatten, flüsterte er mit dem neben ihm sitzenden Hohenpriester und zog auch den Sperber in ein Gespräch. Dieser schaute sich mehrmals um und stellte sich auf den leerstehenden Sessel des Behandschuhten, um über die Köpfe der Menge hinwegzublicken. Er schien jemand zu erwarten.
Ein Mensch drängte sich durch die Volksmenge und gelangte schließlich zu den Zuschauerreihen der Götter und der Könige. Er war es, den der Sperber und der König von Matlatzinco erwartet hatten, er war ein Diener des Händlers, als Krieger verkleidet.
Auf der Bühne befanden sich keine Schauspieler mehr: sie waren gleich, als der Wahnsinnige den Ruf »Tonatiuh!« ausgestoßen hatte, mit der Menge geflohen. Jetzt bestieg der König von Matlatzinco, begleitet vom Diener des Sperbers, das Proszenium und hob den fetten braunen Arm, als wollte er reden. Die Hunderttausende verstummten und lauschten. Und der König von Matlatzinco sprach (die Schläfenadern schwollen ihm an, so laut krächzte er):
»O ihr Mexikaner! Unglück häuft sich auf Unglück! Die Erde klafft, der Himmel stürzt ein! Womit erzürnten wir die Götter? Dieser Mann hier wird euch sagen, womit wir sie erzürnten!«
Die Massen lauschten lautlos. Jetzt sprach der Diener des Kaufmanns: »O ihr Mexikaner! Tötet mich, wenn ich den Tod verdient habe! Ich gestehe mein Verbrechen ein! Während ihr hier die Götter erheitert, schlich ich mich ins Haus der Fledermäuse. Denn gestern starb eine Palastfrau des Königs Ohrring-Schlange bei der Geburt eines Kindes – und ich glaubte, daß sie nach der Leichenstätte gebracht worden sei, um von den Totenrichtern ein Boot nach Copalco zu fordern. Ich aber schlich hin, weil ich der Toten die drei Mittelfinger abschneiden wollte, um sie auf der Brust zu tragen, wenn ich gegen die weißen Götter kämpfe. Die Finger einer im Kindbett Gestorbenen sind ein großer Zauber, sie machen unverletzlich! ...«
»Schänder!« tosten ihm empört viele Stimmen entgegen.
»O ihr Mexikaner, verurteilt mich nicht zu früh!« rief der Diener. »Ich wollte der Prinzessin die Finger abschneiden – jedoch ich habe es nicht getan! Sie war ja noch nicht ins Haus der Fledermäuse gebracht worden. Ich wollte umkehren – da wurde mein Herz verwirrt durch eine furchtbare Entdeckung. Montezumas Gebeine sind geraubt worden! Wo sie gelegen hatten, sieht man nur Papierfähnchen und zerbrochene Grabgeschenke: er ward bestattet im Kriegertotenschmuck und gewiß nach Copalco gerudert ...«
Die Volksmenge ächzte auf:
»Wer ...? Wer bestattete ihn? ... Wer wagte den Frevel?«
Das Mexikaner-Priesterchen erhob sich von seinem Thronsessel und schrie:
»Der Frevler muß sterben! Und wenn Mexico den Frevler schützt, muß Mexico sterben!«
Die Menge schwieg erst gelähmt. Dann brüllte sie zu Tode verwundet auf.
»Wer brachte den Fluch über Mexico?«
»Maisblüte ist die Frevlerin!« rief der König von Matlatzinco. »Ein Schmuckstück, das sie, ihren Vater bestattend, verlor, ward dort von diesem Mann gefunden, der es mir übergab. Schaut her – jedermann weiß, wem diese Edelsteinschnur gehört! ... Auch wurde vor fünf Tagen Maisblüte von einem meiner Freunde in einem Boot mit einem Priester der Gelbhaarigen gesehen und heimlich verfolgt. Sie fand Zuflucht im Palast des Durch-Zauber-Verführenden, wo jetzt auch der Herabstoßende Adler wohnt. Er ist es, der sie beschützt und sie vor dem Volke Mexicos verborgen hält! ... O Mexikaner, wundert es euch, daß die Feinde siegen und wir unterliegen? Wundert es euch, daß die Götter viele Hundert Frauen und Kinder in den Kanal stoßen? Noch Schlimmeres werden wir erleben, wenn wir den Frevel nicht strafen! Wie lange noch wollt ihr Kinder mit blauen Stirnbinden sich schmücken lassen – Kinder, die vom Himmel und von der Erde gehaßt sind und die euch ins Verderben führen?«
»Trage du die blaue Krone, du Sohn des Königs Kreideweiß!« rief ihm feierlich der Hohepriester zu. Und ein großer Teil des Volkes brach in einen endlosen Jubel aus.
Da erschienen im Rücken des Königs von Matlatzinco, auf dem hinteren Teil der Bühne, der Herabstoßende Adler, Ohrring-Schlange, der Durch-Zauber-Verführende und der Behandschuhte. Sie hatten bei der eingestürzten Kanalbrücke sich an den Rettungsarbeiten beteiligt, hatten weinende Angehörige getröstet und Geschenke verteilt. Als die Rufe des Volkes zu ihnen drangen, wollten sie auf den Großen Markt zurückkehren; und da es viel Zeit genommen hätte, durch das Gewühl zu gehen, hatten sie sich in Kanoes auf Seitenkanälen um den Marktplatz herumfahren und in die Nähe der Bühne bringen lassen. Nur von den zunächst Stehenden bemerkt, waren sie nun die hinteren, zur Bühne hinaufführenden Stufen emporgestiegen.
Der Herabstoßende Adler hieß seine Freunde im Hintergrund zurückbleiben. Er allein kam langsamen Schrittes nach vorn. Wunderschön, adlerhaft sah er aus – er wäre auch ohne die festliche Königskleidung der Schönste unter den Myriaden gewesen. Der König von Matlatzinco sah ihn noch immer nicht, obgleich er dicht hinter ihm stand. Das Volk aber sah ihn, die Jubelrufe verstummten jählings. Guatemoc streckte mit herrischer Gebärde die Hand aus und rief:
»Auf die Knie!«
Wie von einem Blitz zerschmettert stürzten die Mexikaner zu Boden, berührten mit den Stirnen den Boden und regten sich nicht. Ein wild brandendes Meer war mit einem Zauberschlag in Eis verwandelt.
Ein einziger Mann war aufrecht geblieben: der König von Matlatzinco.
»Auf die Knie!« herrschte Guatemoc ihn an.
»Vor dir?! ... Niemals!« schrie der König von Matlatzinco.
Doch schon im selben Augenblick stak ihm Guatemocs Obsidianmesser in der Kehle. Tot fiel der fette goldüberladene Körper von der Bühne herab dem Steinbild Tezcatlipocas vor die Füße.
Und der Herabstoßende Adler redete das kniende Volk an:
»O ihr Mexikaner! Ihr dachtet gewiß: Er ist noch nicht gekrönt, darum ist er noch nicht König! ... Er ist nicht glückhaft» laßt uns einen glückhafteren an seiner Stelle wählen! Jetzt aber fühlt ihr, daß ich euer König bin! Hört mich an, Mexikaner! Die Königin Maisblüte weilt bei mir, schwer krank, vom Pfeil eines Schurken verwundet. Die nächste Schlacht wird entscheiden, ob Königin Maisblüte geopfert werden soll und ich mit ihr – denn das wird geschehen, wenn die Schlacht unglücklich endet –, oder ob ich die Tausende von Kriegssklaven den Göttern schenken kann, um würdig, wie meine Vorfahren, das Krönungsfest und zugleich mein Hochzeitsfest mit Königin Maisblüte zu feiern! Nun geht nach Hause, Mexikaner, und vertraut mir, wie ich meinem Herzen vertraue, welches mir zuruft: Bald, bald rüsten wir das Fest der Königskrönung!« [leer]
Viele Wochen waren seit dem Brand des Huei-Tecpans vergangen. Die große Schlacht aber, von der Guatemoc gesprochen hatte, zögerte sich hinaus. Allen Herausforderungen der Mexikaner zum Trotz ließen sich die Christen nicht wieder in die Stadt locken. Scharmützel gab es zwar täglich, kleine erbitterte Abwehrgefechte der Christen. Mit wechselndem Glück behaupteten sich Cortes und Olid am Südtor, während der nördliche Damm von Tepeyacac Alvarado und Sandoval des öfteren verlorenging und immer wieder erstürmt werden mußte, hatten sie tagsüber einen Dammdurchstich mit Steinen angefüllt, so entfernten die Azteken bei Nacht die Steine. Auch ein Seekampf wurde ausgefochten und fiel für die Mexikaner günstig aus, dank einer Kriegslist des Herabstoßenden Adlers.
Die Hungersnot hatte in Tenuchtitlan begonnen. Sie löste die Schrecken des Durstes ab – denn seit dem Einsetzen der (von Juli bis September währenden) Regenperiode war die nach der Vernichtung des Aquäduktes entstandene Not gemildert: Trinkwasser konnte in Gefäßen und Zisternen gesammelt werden. Aber die Einschließung durch die Brigantinen verhinderte jetzt auch die Zufuhr von Nahrungsmitteln. Tag für Tag wurden Marktboote auf der Fahrt nach Tenuchtitlan abgefangen.
An einer von hohem Schilf bewachsenen Untiefe ließ während einer dunklen Regennacht Guatemoc Pfähle in den Seegrund einrammen und schickte nach Sonnenaufgang drei große Tiamicacalli – Marktboote– aus, mit dem Auftrag, sich in die Nahe der Brigantinen zu wagen. Eine große Anzahl Kriegsboote aber lauerte versteckt im hohen Schilf über der Untiefe. Zwei der Brigantinen nahmen die Verfolgung der Marktboote auf und verfingen sich zwischen den eingerammten Pfählen, hilflos dem Rachedurst der aus dem Schilf hervorbrechenden Azteken preisgegeben. So verzweifelt wehrten sich die beiden Schiffsführer, Rodrigo Morejon de Lobera und Pedro Barba, mit ihrer Mannschaft, daß alle – auch die Ruderer – den Soldatentod fanden und nicht ein einziger Opfersklave nach Tenuchtitlan gebracht werden konnte. Der Hauptmann der Bogenschützen, Pedro Barba, war einst Stadtkommandant von La Havanna auf Kuba gewesen, als die elf Karavellen auf der Fahrt nach dem Goldlande erst in Trinidad – wo Francisco Verdugo Oberrichter war – und dann in La Havanna vor Anker gingen, um Geschütze, Munition und Pferde an Bord zu nehmen. Sowohl Francisco Verdugo wie Pedro Barba hatten vom Statthalter Diego Velazquez schriftlichen Befehl erhalten, Cortes zu fangen, ihn abzusetzen, ihn in Ketten zu legen. Beide hatten es vorgezogen, sich dem Freibeuterzug anzuschließen, und Pedro Barba hatte sogar Cortes den Haftbefehl lachend ausgehändigt, während er sich von ihm als Hauptmann der Armbrustschützen anwerben ließ ... [leer]
Den neuen Haftbefehl gegen Cortes, das vom Bischof von Burgos ausgestellte Patent, trug der Oberrechnungsführer Juliano de Alderete noch immer bei sich, ohne es vorzuzeigen, doch geheimnisvoll darauf pochend, gleichsam als besäße er eine Zauberlaterne, die jede Tür öffnet, jeden Wunsch erfüllt. Überschätzte er zwar seine Macht, so war es doch Tatsache, daß Cortes bestrebt war, ihn bei guter Laune zu erhalten und den unausbleiblichen Konflikt einstweilen zu verhüten.
Von Zeit zu Zeit mahnte Alderete daran, daß ihm – noch in Tezcuco, zur Sühne für die Folterung seines mit Ablaßbriefen handelnden Hauskaplans Melgarejo – ein Kommando versprochen worden war. Aufs liebenswürdigste verstand es Cortes ihn hinzuhalten, indem er ihm auseinandersetzte, daß ein Sturmangriff auf Mexico erst wieder möglich sein werde, wenn die bei der Brücke Xoluco begonnene Errichtung von Soldatenbaracken und Backhäusern beendet sei. Der Bau der Baracken war in der Tat unumgänglich: nach der Einnahme, von Acachinanco hatten – weil das in ein Arsenal verwandelte Bollwerk wenig Schlafraum bot – die zweitausend Soldaten der von Cortes befehligten Heeresabteilung unter den Sternen auf der Dammstrafie genächtigt, jetzt, nach dem Beginn der Regenzeit, mußten sie in Schlamm und Pfützen schlafen – und das konnte ihnen ihr Oberfeldherr auf die Dauer nicht zumuten.
Wochen vergingen, bis alle Baracken gebaut waren. Wieder machte Alderete Vorstellungen über die Zauderei (wie er es nannte), spielte sich als den Bevollmächtigten des Kaisers auf und verlangte die Einberufung eines Kriegsrates, damit über den Sturmangriff Beschluß gefaßt werde. Den Kriegsrat versprach ihm Cortes, behielt sich jedoch vor, den Zeitpunkt zu bestimmen. Und als Alderete aufbegehrte und zornig ausrief: er lasse sich nicht wieder vertrösten und hinhalten – gab Cortes ihm den Grund seines Wartens an. Er sagte:
»Das werdet Ihr vielleicht nicht verstehen, Don Juliano. Aber es ist so, daß ich noch immer die Hoffnung nicht aufgegeben habe, diese schöne Stadt vor dem Schlimmsten bewahren zu können ... Obgleich nicht ich, sondern Olid die beiden Paläste in Brand gesteckt hat, beschwert es mich wie ein Alpdrücken: die Steine werden einst mein Ankläger sein ...«
»Vor dem höchsten Thron?«
»Wenn Ihr die Weltgeschichte so nennen wollt – ja! Nicht nur die Steine, auch die Menschen tun mir leid ...«
»Götzendiener und Menschenfresser!« rief Alderete.
»Die Menschen hüben und drüben tun mir leid! ... Darum warte ich ...«
»Worauf?«
»Auf die Annahme meines Friedensangebots!«
»Ihr seid unbelehrbar, Don Hernando! Die letzten Friedensboten, die Ihr nach Tenuchtitlan schicktet, hat Guatemoctzin vierteilen lassen.«
»Ihn, den ich diesmal sandte, wird aber Guatemoc nicht töten!«
»Wen sandtet Ihr?«
»Seinen Namen werde ich Euch nennen, wenn er zurückkehrt!«
»Und Ihr glaubt, er wird zurückkehren?«
»Ich zweifle nicht daran!« [leer]
Nachdem Alderete sich mit steifer Verbeugung verabschiedet hatte, sagte Marina, die beim Gespräch zugegen gewesen war:
»Vom Friedensvorschlag wußte auch ich nichts und nichts vom Boten ...«
»Du bist doch sonst eine gute Rätselraterin, Marina!« lächelte Cortes. »Von den vielen Gründen, die ich hatte, die Flucht der Königin Maisblüte zu begünstigen, war vielleicht der hauptsächlichste der, daß ich Aguilar mit Guatemoc zusammenbringen wollte.«
»Du gabst dem Frater einen Auftrag?«
»Nein. Ich wollte, aber es kam nicht dazu. Für jeden, der Aguilar kennt, ist es übrigens selbstverständlich, daß er zum Frieden überreden wird, sobald er mit Guatemoc zusammenkommt.«
»Ich fürchte, der Frater lebt nicht mehr.«
»Mag sein. Doch wenn er in Guatemocs Gewalt ist, so wird er nicht geopfert. Entsinnst du dich, wie in Sempoalla die eben erst getauften Totonaken die vier gefangenen Mexikaner der Jungfrau Maria opfern wollten? Verhindert wurde das durch Aguilar.«
»Ich entsinne mich«, entgegnete Marina, »aber auch, daß Aguilar auf dem Rückweg aus Cholula, wohin er mit Piltecatl die weiße Schminke überbracht hatte, von Meuchelmördern des Alten Raubtieres getötet worden wäre, hätte der Herabstoßende Adler ihn nicht gerettet. Guatemoc hat seine Dankesschuld abgetragen.«
»Noch nicht!« sagte Cortes. »Die Rettung des künftigen Mexikanerkönigs war von mehr Bedeutung als die Rettung eines armseligen Diakons und Dolmetschers. Dazu kommt, daß Aguilar Maisblüte zur Flucht verhalf und ihr Beschützer war ... Die Mexikaner sind ritterliche Menschenfresser ...«
»Alderete nannte sie so! Warum wiederholst du das!« sagte Marina vorwurfsvoll. »Er ist dein ärgster Feind. Doch wie oft ich dich warnte, du fütterst und streichelst die Giftschlange, die dein Verderben sein wird ... Du schmeichelst ja Alderete so sehr, daß du dir seine Worte aneignest ...«
»Marina!« rief Cortes aus. »Kannst du Scherz von Ernst nicht unterscheiden?«
»Dies ist zu ernst für einen Scherz, Hernando!« fuhr Marina erregt fort. »Eher sterben die Mexikaner den Hungertod, als daß sie einen ihrer Toten oder einen im Kampf erschlagenen Feind verzehren! Bloß den zum Gott gewordenen Opfersklaven essen sie, um sich mit der Gottheit zu vereinen ...«
»Ich weiß, Marina. Und es erinnert so seltsam an ...«
»Woran?«
»An die Mystik des Sakramentes, des heiligen Abendmahles ... Doch das auszusprechen ist fast Sünde ... Die Mexikaner sagen: Ich esse und kaue meinen Gott! ... Der Teufel verzerrt das Heiligste im Hohlspiegel.«
»Muß es denn der Teufel sein, Hernando? Zuweilen denke ich: ob es nicht Gott ist, der sich allen Völkern der Erde in ähnlicher Weise offenbart? Nur daß nicht alle Völker reif sind. Den alten Völkern ist die Offenbarung ein Seelisches; den jungen Völkern ist die Offenbarung ein Blutiges, weil für sie das Blut die Seele vertritt. Aber alle höheren Menschen – und diese sind es doch, die Religionen schaffen und erhalten – streben nach der mystischen Vereinigung mit Gott.«
Cortes sah sie verständnislos an.
»Aus alledem höre ich eins heraus, Marina, und das erschreckt mich. Mir scheint fast, du bist enttäuscht ... Dürfen wir an unserem Ziele irre werden – so dicht vor dem Ziele? ... Kann es dein Wunsch sein, daß die Altäre Tenuchtitlans fortbestehen? ... Ich selbst will sie ja nicht mehr zertrümmern wie einst, sondern in christliche Altäre verwandeln ...«
»Was wird dadurch geändert sein, Hernando? Sind wir besser als jene?«
»Wir? ... Du meinst wir Christen? ...«
»Ja. Wir sind schlimmer als jene. Unsere Verbündeten, die getauften Totonaken, Tlascalteken, Huexotzincas, Chalken, Acolhuaken – sie tun jetzt, was kein Mexikaner jemals tun würde: mit meinen Augen habe ich es gesehen, daß sie gefallene Azteken essen! Sie fischen gedunsene Leichen aus dem See, zerlegen sie, schmoren sie und verzehren sie!«
Cortes schwieg. Dann sagte er:
»Ich weiß es und will es nicht wissen, weil ich es nicht ändern kann. Jeder gute Kampf wird durch die Mitkämpfer verdorben. Es ist der Fluch jedes ehrlichen Führers, daß er Verbündete braucht! ... Es ist die Schmach jedes Herrn, daß er der Knecht seiner Knechte ist! ...«