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Eine Zeit unerhörter Seelenmarter brach für Perlmuschel an. Floh sie vor racheglühenden Blicken, so begegnete sie bestenfalls eiskalten Blicken. Wohl war ihr nur, wenn sie des armen blinden Mädchens Augenwunden mit Balsam kühlte und verband, als wäre es ihr eigenes zerfleischtes Herz, – die toten Augen konnten sie nicht mehr verwunden, nachdem sie ihr den letzten Halt geraubt hatten: die schirmende Liebe des Durch-Zauber-Verführenden.
Die Flüche des Volkes flatterten wie Geier über die Mauerzinnen des Palastes, krochen wie Nattern und Skorpione durch alle Türritzen zu ihr, ob sie webte, badete, aß oder Ruhe auf ihren tränendurchnäßten Kissen suchte. Ruhe fand sie nirgendwo und nirgendwann, umzingelt vom anstürmenden Haß. Ihr Gatte war nach wie vor freundlich – er war es stets gewesen – und schützte sie, soweit es in seiner Macht stand, vor öffentlicher Beschimpfung, doch seine mitleidvolle Höflichkeit verletzte, seine Liebe gehörte Blutfeuerstein.
Da wurde Perlmuschel inne, daß niemand außer ihrer Mutter, der Herrin von Tula, ihre Leiden mindern konnte. Die Nachstellungen hatten begonnen, als nach der Geburt des weißen Kindes die Herrin von Tula sich an das Mexikaner-Priesterchen wandte, durch sein und des Hohen Rates Gebot den Kindesmord zu erzwingen. Die Aufhetzung des Volkes war bloß eine Folge jenes ersten Schrittes ihrer Mutter. Hatte ihre Mutter so viel Einfluß, sie mit dem Fluch Mexicos zu behaften, so hatte sie gewiß auch Einfluß genug, sie vom Fluch zu befreien.
In ihrer Verzweiflung beschloß Perlmuschel, eine Annäherung zu suchen. Sie schickte eine ihrer Dienstfrauen in den Tecpan des Königs Ohrring-Schlange mit dem Auftrag, bei der Herrin von Tula anzufragen, ob ihr Besuch angenehm sei.
Die Herrin von Tula ließ zurückmelden: man werde die Königin von Tlacopan nicht abweisen, falls sie zur Zeit der niedersteigenden Kolibris sich einfände.
Als tags darauf gegen Mittag Perlmuschel sich in den zierlichen, vom Herrn des Fastens erbauten Tecpan tragen ließ, wurde sie von den Torhütern in einen der Prunksäle geleitet. Die Herrin von Tula ging ihr bis an die Saaltür entgegen, steinbehängt und steinern, doch hieß sie sie willkommen und nahm den schüchtern dargereichten Muskatrosenstrauß entgegen. Das steife Zeremoniell der Begrüßung verhinderte Perlmuschel, sich vor ihrer Mutter zu Boden zu werfen, ihr die Füße zu küssen,, weinend um Aussöhnung zu flehen: die rührenden Worte, die zu sagen sie beabsichtigt hatte, blieben unausgesprochen. Verbeugung folgte auf Verbeugung, feierliche Fragen wurden feierlich beantwortet, mit der rechten Hand wurde der Marmorboden und dann die Herzgrube berührt. Schließlich setzten sich die beiden Königinnen auf Jaguarfell-Sessel einander gegenüber. Dienerinnen brachten Trinkschalen.
Vor Jahren – als Mutter und Tochter noch einträchtig zusammen lebten, der ersehnten Rache für den roten Blütenbaum von Yuquane lebten und, argwöhnisch bewacht wie Geiseln, zusammen litten – hatten sie nach dem Verschwinden ihres für ermordet gehaltenen Sohnes und Bruders Ohrring-Schlange sich hinreißen lassen, die Gattin Montezumas, Königin Acatlan, zu kränken, indem sie ihr, die zu Besuch gekommen war, die übliche Schale Kakaosaft nicht reichen ließen. Auf eine ähnliche Kränkung war Perlmuschel gefaßt gewesen, daher war es ihr eine hoffnungweckende Überraschung, daß die Sklavinnen ihr Kakao vorsetzten.
Doch wenn ihr auch der Kakao nicht vorenthalten ward und ihr nicht mehr wie jüngst die Worte entgegenschallten: »Sei im Staub deiner Sünden begraben, Tochter!« oder »Nähre dich von Unrat, Tochter – du dienst ja der Göttin des Unrats, dem Frosch mit dem blutigen Maul! Auch du bist eine Kotfresserin, eine Sünderin ...!« – wenn statt dessen ihr wie einer Königin begegnet wurde, so war es doch irrig, das versteinte Herz demnach für erweicht zu wähnen. Die für den Fang von Raubtieren aufgestellten Fallen pflegte man mit Buschwerk, Gräsern und Waldorchideen zuzudecken. Ein solch unschuldvolles Aussehen hatte der Empfang: die Höflichkeit verdeckte eine Raubtierfalle.
Daß, nach dem Galgentod des kleinen Königs Menschen-Puma, Perlmuschel in einem öffentlichen Schwitzbad gewohnt und sich – um Rächer zu werben – preisgegeben hatte, mochte ihr zwar vergessen und verziehen sein: ihr Kriegsdienst als Adlermädchen, ihr tollmütiges Fechten in der Nacht der Schrecken und bei der Verfolgung des fliehenden Christenheeres hatte jene Schmach getilgt. Daß sie jedoch La Azteca gewesen, bei der Seejungfrau von Xochimilco des Erzfeindes Cortes Geliebte geworden war und ihm ein Kind geboren hatte – das verwinden konnte die Herrin von Tula nicht.
Flammende Heimatliebe hatte die Herrin von Tula zur Hasserin gemacht. Mit gleicher Glut wie jetzt der Grüne Stein war einst Montezuma nach dem Federball-Spiel um die drei Truthähne von ihr gehaßt worden. Weil sie Tezcuco liebte, hatte sie sich nach dem Tode ihres Gemahls, des Herrn des Fastens, für den jüngsten ihrer drei Söhne, für die Schwarze Blume erklärt. Weil sie Tezcuco liebte, hatte sie sich dann von der Schwarzen Blume losgesagt. Eine neue Zeit war angebrochen, alter Zwist hatte sich selbst überlebt. Für die drei Truthähne und den Blütenbaum des Königs Grasstrick war Montezuma vom Himmel gezüchtigt, und nicht minder grausam war sein Leichnam vom Totengericht gestraft worden. Darum hatte sie keinen Grund mehr, Mexico zu hassen, manche Gründe aber, Mexico zu lieben. Starb Tenuchtitlan, so starb auch Tezcuco. Die Vorherrschaft im Drei-Städte-Bund war belanglos geworden – davon konnte erst nach der Vertreibung der Belagerer wieder die Rede sein, und wenn ihr heimlich gehegter Wunsch in Erfüllung ging, die junge Königin-Witwe von Tezcuco, die Montezuma-Tochter Silber-Reiher, mit Ohrring-Schlange zu verehelichen, so würde, hoffte sie, Tezcuco mächtiger dastehen als vor dem Kriege.
Freilich, erst mußte dem Anprall der Feinde Widerstand geleistet werden. Die Herrin von Tula war die Seele des Widerstandes, war Mutter der Könige und Mutter des Volkes, die große Hasserin, die Aufpeitscherin der Lauen. Mit einer Göttin verglichen sie die Mexikaner, so hehr erschien ihnen der Gang, ihre hoheitsvolle Haltung. In ihrer Jugend war sie überaus schön gewesen, und auch jetzt, von silbrigen Strähnen umflattert, war ihr gefurchtes Matronenantlitz eigenartig finster, streng und edel.
Als die Schale Kakao geleert war, brachte Perlmuschel ihr Anliegen vor. In Tränen ausbrechend, schilderte sie ihre verzweifelte Lage, ihre Verlassenheit, ihr bejammernswürdiges Dasein. Des Durch-Zauber-Verführenden Liebe habe das blinde Mädchen ihr genommen, auch reiche seine Macht nur aus, geballte Fäuste – nicht aber wuterfüllte Blicke – abzuwehren. Die Bevölkerung, aufgebracht gegen sie durch die Opferer und durch Tlotli, den Sperber, mache sie für die verlorene Seeschlacht verantwortlich. In der Obsidianhülle Mictlan Tecutlis sei das Leben erträglicher als in ihrem schönen Palaste. Sie werde hinabsteigen müssen, wenn ihre Mutter ihr nicht helfe und ihre Verfolger beschwichtige.
Die Herrin von Tula blieb hart und unnahbar.
»O meine Tochter, du meine Schmuckfeder und Edelsteinkette, dir helfen und deine Verfolger beschwichtigen kannst nur du selbst! Das weiße Kind lebt ja nochl«
»Mein Kind ist tot!« murmelte Perlmuschel. Sie log aus Verlegenheit und ohne Überzeugung, ohne Glauben an die Macht der Lüge – sonst hätte sie es laut hinausgeschrien, daß ihr Kind tot sei.
»O meine Tochter, du zeigtest dem Rat der Alten den Kopf deines Kindes nicht vor!«
»Mein Kind wurde zur Perlenschlange!« raunte Perlmuschel matt. Einst hatte sie ausgesagt, ihr Kind sei von ihr auf den Schilfsee hinausgerudert und in den Pantitlan-Strudel geworfen worden. Die dort hinausgeruderten Regenkinder wurden vom alten Priester des Wassertempels, der ihnen nachts bis zum Frührot Märchen erzählte, als Excoame – d. h. Perlenschlangen – angeredet. Darauf spielte Perlmuschel an.
»O meine Tochter, wer warf das weiße Kind in den Strudel?«
Perlmuschel gab keine Antwort. Sie schwieg trotzig und zermürbt. Eine müde Handbewegung machte sie, als lohne es nicht, davon zu reden. Wozu auch! Der Hohe Rat hatte ihr damals nicht geglaubt, als sie die Bootfahrt beschrieb. Die Mutter zu täuschen, würde erst recht vergebens sein.
»O meine Tochter, auch schweigend lügst du! Dein Kind ist noch am Leben! Wo ist dein Kind?«
»Ich weiß es nicht!« schrie Perlmuschel gequält auf.
Sie wußte es tatsächlich nicht, sie wußte nicht, ob das Kind lebte oder tot war. Als sie im Wochenbett gelegen hatte, war es ihr genommen worden, und sie hatte es nie wiedergesehen. Ihr Bruder Ohrring-Schlange hatte sich bereit erklärt, durch seine Schlafbuhle Isabel de Ojeda das Kind bei Federarbeiterinnen unterzubringen. Ob das geschehen und was hernach geschehen – Perlmuschel wurde geflissentlich darüber in Unkenntnis gelassen. Ihr Gemahl, der König von Tlacopan, verbot ihr, die Gasse der Federarbeiterinnen zu suchen. Fragen nach dem Befinden des Kindes wurden überhört, und als sie einmal auf Beantwortung drang, erhielt sie zur Antwort: die Freunde des Roten Jaguars seien gewiß alle nach dem Feuerbaum des Südens gezogen ...
Im starren Gesicht der Herrin von Tula zuckte es wie Triumph.
»O meine Tochter, da du es nicht weißt, will ich den rufen, der es weiß!«
Sie schlug auf eine silberumrandete Schildkrötenschale. Ein Menschenbeobachter – einer ihrer Spione – trat aus einem Seitengemach in den Saal. Die Arme über die Brust gekreuzt, verbeugte er sich. Sie befahl ihm, zu sagen, was er gesehen hatte.
Er hatte gesehen, wie Isabel de Ojeda mit dem Säugling auf dem Arm aus dem Tecpan des Königs von Tlacopan trat. Obwohl sie verschleiert ging, hatte er erkennen können, welch eine Bürde sie trug. Unbemerkt war er ihr und dem sie begleitenden stummgeborenen Sklaven gefolgt. Er beschrieb den Weg, den sie wählten, er beschrieb das niedrige Häuschen, in welches sie eintrat: es war von einer Federarbeiterin und ihren beiden Töchtern bewohnt ...
Die Herrin von Tula nickte und entließ den Menschenbeobachter.
Zusammengeschrumpft saß Perlmuschel da, stierte vor sich auf ihre juwelenbedeckten Sandalen. Plötzlich warf sie den Kopf zurück und versengte ihre Mutter schier mit der Flamme ihres Blickes.
»O meine Mutter, ich danke dir! Durch dich erfuhr ich, wo mein Kind weilt! Nun aber will ich es sehen, es an meine Brust drücken!«
»Und an deiner Brust es erwürgen?« fragte die Herrin von Tula eisig. »Bist du endlich bereit, es zu töten, wie es deine Pflicht ist?«
Perlmuschel war emporgeschnellt.
»Meine Pflicht ist es, vor euch Mördern es zu schützen!« schrie sie. Schäumend vor Wut erhob sich nun auch die Herrin von Tula.
»Schütze dich selbst, wenn du kannst! Ich werde dich nicht schützen, obgleich du mein Kind bist, du Verderben Mexicos!«
Perlmuschel lachte grell auf und brach sofort in wildes Schluchzen aus. Sie schrie heiser:
»Ich bin nicht das Verderben Mexicos! Du lügst! Du lügst! Du lügst! ...« [leer] Das greise, hagere Mexikaner-Priesterchen stand seit einer Weile in der offenen Saaltür. Jetzt schritt er auf die zankenden Königinnen zu. Perlmuschel schreckte zusammen, erwachte gleichsam, faßte sich. Sie und ihre Mutter küßten ihm ehrfürchtig die Hände.
(Das könne nicht Zufall sein – argwöhnte Perlmuschel –, daß der Grausige jetzt gerade hinzugekommen sei. Auf den Wegen ihrer Mutter pflegten Überraschungen zu lauern, doch immer vorbedachte. Auch ihm habe wohl die Schildkrötenschale ein Zeichen gegeben ...)
Der Hohepriester hatte den Zank der Königinnen mit angehört, daher bedurfte es keines Ausfragens und Erläuterns.
»Laßt uns zu unserem mächtigen Gott Huitzilopochtli gehen!« forderte er die Königinnen auf.
Sichtbar zuckte Perlmuschel zusammen.
»O mein Oheim und Vater«, sagte die Herrin von Tula, »das Lebensblut des heiligen Baumes fließt in deinen Adern! Darum entscheide du unsern Streit! Ich nannte sie Mexicos Verderberin – sie aber leugnet ...«
»Laßt uns zu unserem mächtigen Gott Huitzilopochtli gehen!« wiederholte der Hohepriester. »Die Stimme des Gottes sprach aus dem heiligen Nopal-Baum: ›Kein weißes Wesen darf hinfort in meiner Stadt geduldet werden: kein weißes Kaninchen, keine weiße Taube, kein weißer Schmetterling, kein weißer Mensch!‹ Laßt uns noch einmal fragen – vielleicht wird Huitzilopochtli Erbarmen haben!«
Schneidend war der Hohn – der Kolibri-Gott hatte ja noch nie ein Erbarmen gezeigt ... Doch wie gelähmt war Perlmuschel und brachte die Kraft nicht auf, sich der Anordnung des höchsten Priesters zu widersetzen. [leer] Als sie zu dritt die Säle durchschritten, gesellten sich ihnen die dort wartenden Begleiter des Mexikaner-Priesterchens – der »Herr des schwarzen Hauses«, der »Blutvergießer« und der »Sich-in-Blut-Kleidende« – zu.
Vor dem Hauptportal nahmen sie in sechs an den Stufen des Palastunterbaues bereitstehenden Sänften Platz und ließen sich bis zum Adlertor an der Südmauer des Schlangenbergtempels tragen.
Unterpriester, in tiefschwarze Meßgewänder gehüllt und karminrot an den Schläfen geschminkt, Brennholzschlepper, Kerzenbündelträger, Räucherer, Feuerbohrer und Flurfeger sammelten sich neugierig an, als die beiden Königinnen den Tempelbezirk betraten. Trommelschläger und Trompeter erhoben einen ohrenbetäubenden Lärm. Die Tempelsänger, geleitet vom Vorsänger, sangen in rauhem Baß uralte, ihnen selbst kaum mehr verständliche Kultlieder von der Geburt des jungen Kriegers Huitzilopochtli.
Der Hohepriester hieß sämtliche Tempelbewohner zurückbleiben und führte die beiden Frauen durch das Gelände, vorbei an den zwei Ballspielhäusern des Gottes, an Gärten und Fontänen, an der Schädelstätte, an jaspisumrandeten Badeteichen, an Fastenhäuschen, an Tanzhöfen und am Gefängnis der fremdländischen Götter. Sie mußten die Basis der großen Stufenpyramide umschreiten, da sich die auf einem kleinen Felsen erbaute Orakelkapelle dahinter befand – wie ebenfalls die heilige Quelle, aus welcher einst die wunderschönen salzweißen Frösche gestiegen waren ...
An der Tür der Kapelle erwartete sie der ausgemergelte, hohlblickende Orakelpriester. Er legte, als sie eingetreten waren, seine Gewänder ab, beschmierte seinen nackten Oberkörper mit Giftsalben und setzte sich auf einen niedrigen Ast des heiligen Kaktusbaumes, so daß ihm das Blut von den Waden und Schenkeln herabtroff. Doch dem auf der obersten Abzweigung des Nopalbaumes horstenden, mit einer Goldkette gefesselten Adler reichte er keine Atzung hin. Ein Säugling aber mußte die Speise des Adlers sein, und das Orakel fiel günstig oder ungünstig aus, je nachdem ob der Adler das lebende Menschenfleisch fraß oder es zurückwies.
Das Mexikaner-Priesterchen rief zur Kapellentür hinaus:
»Bringt das Futter des Adlers!«
Und gleich darauf schritt die Tochter der Federarbeiterin, die Schwester der Schwindsüchtigen, über die Schwelle. Auf dem Arm trug sie das weiße Kind, dessen Amme sie war. [leer] Ächzend wimmerte Perlmuschel. Immerwährend schlug sie sich selbst mit der rechten Hand auf den offenen, stöhnenden Mund – wie alle Azteken taten, wenn das Grauen sie packte.
»Ihr sollt mein Kind nicht töten!« heulte sie wie ein tollwütiger Präriewolf.
»O edle Königin«, sagte der Hohepriester, »du selbst wirst dem Adler dein Kind zum Fraß hinreichen! Nicht anders kannst du den furchtbaren Gott versöhnen und die Gefahr abwenden von der Stadt der Paläste!«
Perlmuschel entriß der Amme das Kind und preßte es an ihre Brust.
»Ich will nicht! Ich tue es nicht!« knirschte sie wild.
»O meine Tochter«,sagte die Herrin von Tula, »wähle! O überlege wohl, was du wählst! Meinen Segen und Mexicos Segen – oder meinen Fluch und Mexicos Fluch!«
»Ich wähle euren Fluch! Ich gebe mein Kind nicht her!« schrie Perlmuschel.
»So sei verflucht und stirb auch du!« rief die Herrin von Tola. »Die Opferer stehen draußen bereit!«
Und sie öffnete die Kapellentür. Eine schwarze Schar von Opferpriestern hatte sich um die Kapelle versammelt.
Wild um sich blickend, lachte Perlmuschel ein irres Lachen.
»Besser wird mir bei jenen sein als bei euch!«
Mit dem Kinde auf den Armen eilte sie hinaus. Die Tochter der Federarbeiterin folgte ihr.
Aber Perlmuschel wurde von den Opferern nicht gefangen. Ihr Bruder Ohrring-Schlange und ein Trupp Schildträger kamen ihr entgegen. Scheu wichen die Opferer auseinander.
Ohrring-Schlange hatte in seinen Palast heimkehrend von Dienern erfahren, daß seine Mutter und Schwester mit den höchsten Priestern Tenuchtitlans zum Tempel Huitzilopochtlis getragen worden seien. Er hatte sofort den Verdacht geschöpft, eine Vergewaltigung sei beabsichtigt. Im letzten Augenblick rettete er Perlmuschel vor dem Opfermesser.
Er geleitete sie, die Drohungen der Priesterschaft mißachtend, aus der Schlangenmauer hinaus und brachte sie in den Tecpan des Durch-Zauber-Verführenden.
Um diesen und Guatemoc zu benachrichtigen, eilte er in den Huei-Tecpan. Dort herrschte freudige Erregung. Der Vorsteher der Kundschafter hatte eben die Mitteilung gemacht, daß das Feindesheer in Tezcuco durch Zwietracht geschwächt sei. Ein Teil der Tlascalteken sei nach Tlascala entwichen. Auch unter den Gelbhaarigen sei Zwietracht entbrannt.
Um ein kleines tönernes Standbild hatten sich die Türkisgebürtigen versammelt, und sie rissen Wachteln und grünen Papageien, welche von Haus-Erleuchtern ihnen gereicht wurden, die Köpfe ab. Dankbaren Herzens begossen sie das Tonbildnis der Teteo-Innan, der Göttin der Zwietracht.
Und dann berieten sie, wie sie den großen Wasserhäusern eine Falle legen könnten.
Die Mißhelligkeiten im Christenheer hatten weit zurückliegende Ursachen. In der Nacht der Schrecken waren alle Feuerwaffen abhanden gekommen, und als Pulver, Musketen, Geschütze, Harnische und Hellebarden von dem aus Haïti angelangten Händler Felipe Monjaraz angeboten wurden, war Cortes in die Zwangslage versetzt worden, seinen Soldaten das aus Mexico gerettete Gold und die Am-Kolibri-Wasser erbeuteten Sklavinnen abnehmen zu müssen. Die Abstempelung der Sklavinnen hatte selbst seine treuesten Anhänger in Wut versetzt und erst recht seine Gegner. Damals war die Geburtsstunde der Verschwörung des Antonio de Villafaña gewesen. Dieser und seine Spießgesellen hatten sich gegenseitig verpflichtet, sämtliche Offiziere umzubringen und den Oberrechnungsführer Don Juliano de Alderete, den Freund des Bischofs von Burgos, nach Cortes' Tode zum General-Kapitän auszurufen.
Aber Villafaña nahm sich Zeit. Außer dem Steuermann Cardenas, Pedro de Palma, Gonzalo Mejia Rapapelo, Pero Trujillo und Porras, dem rothaarigen Sänger, standen auf der von ihm angelegten Liste der Verschwörer bereits nahezu hundert Namen. Er hoffte weitere hundert eintragen zu können. Die früheren Aufstände waren planlose Ausbrüche des Zorns gewesen, der neue sollte die Ausführung kalter Berechnung sein. War früher Absetzung, schlimmstenfalls Totschlag das Ziel, so diesmal Beseitigung und Mord. Um keinen Fehlschlag zu tun, wartete Villafaña nach langwieriger Vorbereitung den Augenblick der Bereitschaft ab.
Durch die Zeit, die er verstreichen ließ, und durch die Anwerbung immer neuer Verschwörer entsalzte er, verwässerte er gewissermaßen seinen Meuchelbund. Mit weniger Umsicht hätte er mehr erreicht. Cortes hatte bekanntgeben lassen, daß in Zukunft erbeutete Indianerfrauen nicht mehr gestempelt würden. Während der beiden großen Erkundungszüge – erst nach Itztapalapan und später nach Quauhnahuac (Cuernavaca), Xochimilco und Tlacopan – war die Liebe vieler Unzufriedenen zu ihren Feldobristen wieder erwacht, und die Abwesenheit des Heeres von Tezcuco sowie die räumliche Trennung der Offiziere hatten Villafaña zu neuem Aufschub der Tat gezwungen. Selbst seine Hoffnung, daß beim Stapellauf der Brigantinen alle Hauptleute versammelt sein würden, erwies sich als eitel: außer Ordas, der irgendwo den Jugendquell und Isabel de Ojeda suchte, waren auch noch Alonso de Ojeda und Andres de Tapia abwesend. Erst am folgenden Tage trafen dieser aus Otompan und jener aus Vera Cruz (von wo er zwei schwere Geschütze abgeholt hatte) in Tezcuco ein, und ein nicht vorhergesehenes Ereignis veranlaßte einen Kriegsrat, an welchem nun sämtliche Kriegsführer und Kavaliere teilnahmen. Villafaña und seine Mordgesellen wetzten ihre Messer.
Der Kriegsrat sollte einem Kriegsgericht vorausgehen. Zuvörderst wollte man sich grundsätzlich darüber einigen, ob es aus Rücksicht auf die indianischen Hilfstruppen ratsam und angängig sei, einen der mächtigsten Bundesgenossen, den tlascaltekischen Vierkönig Don Vicente-Kriegsmaske – den Schwager Alvarados – an einen Galgen zu hängen, wie er es verdiente. Sogar ein Teil seiner Landsleute verlangte die Hinrichtung des gekrönten Verbrechers, während der Stammverband Derer-von-der-Kalkerde, ihn für unantastbar erklärend, mit Abfall drohte, sollte der Henker Hand an ihn legen. Angeklagt war er wegen einer unerhörten Schandtat.
Bei den Kämpfen im brennenden Xochimilco war Cortes nach dem Sturz seines Pferdes von den Azteken umringt, entwaffnet und als Opfersklave bereits fortgeschleppt, dann aber vom tlascaltekischen Vierkönig Piltecatl befreit worden. Zum Dank für die Lebensrettung hatte er Piltecatl erlaubt, seine Wunden in Tlascala auszuheilen.
Noch bevor Piltecatl Tezcuco verließ, erfuhr Kriegsmaske, welch eine Vergünstigung seinem Rivalen gewährt worden war. In dem von Cortes erlassenen drakonischen Edikt war jede eigenmächtige Entfernung aus der Front als Fahnenflucht bezeichnet und bei Todesstrafe verboten. Kriegsmaske, dem schlimmere Vergehen verziehen worden waren, kehrte sich nicht daran. Wie ein Stier mit blutunterlaufenen Augen und gesenkten Hörnern, sah er keine Schranke, tollsinnig vor Eifersucht: wußte er doch, daß Piltecatl des Hermaphroditen wegen nach Tlascala ging. Dem mußte er zuvorkommen. Ohne Erlaubnis brach er nach Tlascala auf, mehrere Stunden früher als Piltecatl.
In Tlascala angelangt, erfuhr er von Untergebenen – sie hatten feinhörig seinen Fragen entnommen, was er zu erfahren wünschte –, daß Kreideschmetterling, obgleich er im Schutze des christlichen Klosters lebe, gar sehr des Schutzes bedürftig sei, denn er werde vom Prior und Erzieher der Adelskinder, Juan de las Varillas, mit Liebesanträgen belästigt. Dies war eine glatte Erfindung, eine verleumderische Unwahrheit. Aber Kriegsmaske lag nichts daran, die Wahrheit zu untersuchen – ihm genügte ein beliebiger Vorwand, der ihm einen Schein von Recht gab, in den geheiligten Bezirk des Klosters einzubrechen.
Mit Adlern und Jaguaren kam er vor das Gebäude, das einst sein Eigentum gewesen war. Er forderte Einlaß, und als ihm nicht geöffnet wurde, hieß er die Klosterpforte durch Axthiebe zersplittern. Gewalttätig drang er ein und raubte Kreideschmetterling. Die sich zur Wehr setzenden Schüler schlug er unbarmherzig und zwang sie mitsamt ihrem Erzieher, dem er ein häßliches Symbol seines vermeintlichen Lasters vorgehängt hatte, durch die Gassen Tlascalas zu ziehen. Darauf bestiegen er und der Hermaphrodit zwei schlichte Reisesänften. Die Träger hatten den Auftrag, eilends den Weg nach Tezcuco einzuschlagen.
Seitdem Andrés de Tapia in Anahuac weilte, wurde die kleine, nur noch aus zwanzig Schwerverwundeten bestehende Kastilier-Mannschaft in Tlascala von Pedro d'Ircio, dem Agramant ohne Taten, befehligt. Die auf den Trümmern von Tepeaca gegründete Fronfeste Villa segura de la frontera, zu deren Alguacil und Stadtkommandanten er auf Betreiben seiner Jugendfreunde Sandoval und Luis Marin ernannt worden war, hatte infolge der dort herrschenden Malaria aufgegeben werden müssen und verfiel – ein Trümmerfeld über einem Trümmerfelde. Nach Tlascala als Nachfolger Tapias berufen, stärkte sich d'Ircio gegen Fieberanfälle durch reichlichen Genuß von Wein. Während das Kloster erstürmt wurde, schlief er schwer berauscht. Seine Soldaten erfuhren von den Untaten des Königs Kriegsmaske erst, als der Prior und die kuttentragenden Schüler, schimpfbedeckt, schluchzend vor Scham und Wut, durch die Gassen getrieben wurden. Pedro d'Ircio zu wecken, erwies sich als unausführbar. Die Soldaten begnügten sich damit, der Hohnprozession ein Ende zu machen. Die beiden Sänften schwebten bereits außerhalb der Stadttore auf den Schultern laufender Tlamamas. Sie wurden nicht verfolgt.
Nachts langte Piltecatl in Tlascala an. Auf dem Wege waren ihm in der Dunkelheit zwei Sänften begegnet, da sie aber von Trabanten nicht begleitet waren, schöpfte er keinen Verdacht.
Als er vom Geschehenen Kenntnis erhalten hatte, trat er unverzüglich die Rückreise an, vermochte jedoch die Sänften nicht mehr einzuholen. Er begab sich zu Cortes, führte Klage und forderte Genugtuung. Ihm wurde eine strenge Bestrafung seines Rivalen in Aussicht gestellt. Doch das war mehr und weniger, als er verlangte. Er wollte Kreideschmetterling haben. Würde Kriegsmaske gezwungen, endgültig zu verzichten, so wäre das Strafe genug – erklärte er. Cortes, der auf die tlascaltekische Heeresmacht und auch auf Alvarado Rücksicht nehmen mußte, war einverstanden. Es war ihm sogar lieb so. Die beleidigte Kirche und der Prior konnten auf eine spätere Sühne vertröstet werden. Cortes sicherte Piltecatl zu, daß er den Hermaphroditen erhalten werde.
Langwierige Verhandlungen wurden darauf mit Kriegsmaske geführt. Alvarado, sein Schwager, und Dona Maria Luisa Rabenblume, seine Schwester, vermittelten und überredeten. Immer wieder mußten sie ihm vorhalten, daß er durch seinen Starrsinn die Gefahr heraufbeschwöre, nicht – wie jetzt – wegen einer Entführung bloß, sondern wegen Fahnenflucht und Kirchenschändung zur Rechenschaft gezogen zu werden. Er solle froh sein, daß Cortes durch die Finger sehen wolle und Milde für Strenge walten lasse – wie sooft vordem.
Schließlich gab Kriegsmaske nach. Doch er forderte als Ersatz für den Zwitter – und als Trost – einen in Xochimilco erbeuteten, aus Gold gestanzten Affen und außerdem vier schöne Sklavinnen. Er sprach den Wunsch aus: diese Trostgeschenke möchten für ihn bereitgehalten werden, wenn er Kreideschmetterling abliefere.
Dies wurde ihm versprochen.
Finster betrat Kriegsmaske gegen Abend sein Schlafgemach und näherte sich schweratmend dem Bett. Auf einer großen seidigen Decke aus gewebtem weißem Kaninchenhaar lag Kreideschmetterling völlig nackt und schlief. Er lag seitwärts, so daß die Brüste einander berührten, von zwei dicken Zöpfen wie von zwei schwarzen Nattern umringelt.
Ohne ihn zu wecken, setzte sich Kriegsmaske neben das Lager. Und seine Augen saugten, schlürften gleichsam die berückende Herrlichkeit des knabenhaften und mädchenhaften Körperbaues ein. Dabei zogen Gedanken durch sein Hirn, die er nicht hätte erhaschen, die er nicht hatte in Worte kleiden können. Dies ungefähr – in Worte geballt und durch Worte entstellt – war der verschleierte Hintergrund seiner Gedanken:
»Was bist du? ... Eingefleischte, unerfüllbare, nie erreichbare Sehnsucht! Fleisch wurdest du und auch nicht: nur Seelen sind sich so nah und so unendlich fern wie du und ich! Das Mädchen strebt zum Knaben, der Knabe zum Mädchen – an dir zerschellt dies Streben, weil es in dir ein Ende fand ohne Erfüllung ...«
Tränen rollten ihm über die von Narben zerfurchten Wangen. Leise beugte er sich und küßte den grünlich bemalten Mund.
Kreideschmetterling erwachte und schlug die langbewimperten Augen auf.
»Nopiltzine (o mein Herr), du weinst? Warum weinst du?«
Tränen schluckend, gab Kriegsmaske keine Antwort. Er fürchtete sich, in die Augen des Zwitters zu blicken. Er wußte, diese Augen würden ihm das Herz weich machen und den Willen lähmen.
»Dreh dich der Wand zu!« befahl er.
Nichts ahnend wendete Kreideschmetterling den Kopf der Wand zu.
»Was warst du, bevor du geboren wurdest – ein Knabe oder ein Mädchen?«
»O mein Herr, ich war damals auch beides!« kicherte Kreideschmetterling. »Ich bin ein Einziges auf dieser Blumenwelt!«
»Darum sollst du mein bleiben!« heulte Kriegsmaske auf. Und er umkrallte von rückwärts seinen Hals ...
Nachdem er ihn erdrosselt hatte, kleidete er ihn, schminkte ihn und schmückte ihn mit dem Schmuck einer Fürstin. Dann rief er seine Diener und ließ die Leiche aufrecht – als wäre es ein Lebender – auf einen kostbaren Tragsessel setzen.
Einen Diener schickte er zu Cortes, um zu melden: er sei unterwegs und bringe Kreideschmetterling – man möge die vier Sklavinnen und den goldenen Affen bereit halten.
Im Tecpan, den Gortes bewohnte, versammelten sich alle kastilischen und indianischen Feldherren. Nicht ohne Schadenfreude erwarteten sie die Demütigung des hochmütigen Tetrarchen.
Er trat in den von einem purpurnen Segeltuch überschatteten Palasthof, verächtlich um sich blickend wie immer. Auch auf seinem Gesicht schimmerte purpurn eine wilde Freude.
Hinter ihm her wurde auf einem Tragsessel ein zauberhaft schönes Mädchen getragen.
»Wenn so die Sünde aussieht, so ist sie die Hölle wert!« murmelte Olid, der den Hermaphroditen noch nie erblickt hatte.
Piltecatl war auf den Tragsessel zugeeilt.
»Warum hast du die Augen geschlossen!« rief er Kreideschmetterling an.
Er erfaßte seine Hand, faßte ihn an die Wangen ... Jetzt erst erkannte er, wie teuflisch er betrogen war.
Mit verschränkten Armen stand Kriegsmaske da und lachte. Und er widersetzte sich nicht, als man ihm Handschellen anlegte.