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III. Fahrt von Neuyork nach Toronto

Die amerikanischen Eisenbahnwagen sind praktisch eingerichtet. Der ganze Wagen bildet einen einzigen großen und luftigen Raum. Zwischen den hintereinander angebrachten bequemen Doppelsitzen führt ein breiter Gang hindurch. Die Wagen der Bahn, auf der wir nach Canada fuhren, faßten je zweiundsiebzig Personen. Sind die beiden Plätze vor Dir nicht besetzt, so kann die Rücklehne dieser Plätze umgeschlagen werden, und Du gewinnst zwei Polster, auf deren eines Du nach Gefallen Deine lieben Füße legen kannst. Thu das nur dreist, auch wenn das Polster mit sauberem Stoff überzogen ist, man ist im Unterbringen der Füße in Amerika noch weniger peinlich als bei uns.

In jedem Wagen befindet sich ein Behälter mit frischem Trinkwasser und dazu gehört ein metallener Becher, in den man sich das Wasser einzapfen kann. Für Leute, die das Rauchen nicht lassen können – in Amerika läßt man es besser – ist ein eigener Wagen da. Auf einer Bahn bemerkte ich an der Seitenwand einen Glaskasten, der zwei Äxte und eine Säge enthielt. Auf dem Kasten stand angeschrieben: »Nur im Falle der Not zu benutzen«. Das wirkt beruhigend auf die Reisenden, und es möchte sich empfehlen, einen solchen Kasten auch in den Wagen unserer D-Züge anzubringen, aus denen man, wenn ein dicker Herr sich in dem Seitengange eingeklemmt hat, nicht leicht herauskommen kann.

Der Mann, der die Fahrkarten coupiert, hat etwas von einem Zauberkünstler an sich. Fast ohne daß man etwas davon bemerkt, steckt er einem an den Hut ein kleines Kontrolbillet. Reisenden Damen wird es nicht an den Hut gesteckt, weil es in den Federn und Blumen sich leicht verlieren könnte, sondern er schiebt es irgendwo an der Wagenwand ein, und zwar so, daß es sichtbar bleibt. Ehe der Reisende sein Ziel erreicht, hat der Beamte mit derselben Behutsamkeit, mit der er es angebracht hat, das Kärtchen wieder an sich genommen. Wenn man schläft, wird man dadurch nicht aufgeweckt. Auf den Stationen kommen Händler mit Zeitungen, Früchten und Kuchen in die Wagen hinein, um ihre Ware anzubieten. Für die Zeitung bezahlt man, auch wenn sie inhaltreich, gesinnungstüchtig und sogar illustriert ist, in der Regel nur einen Cent, vier Pfennige nach unserem Gelde, Apfelsinen und Kuchen sind natürlich etwas teurer. Ein Schaffner verteilt schweigend an die Fahrgäste gediegene Unterhaltungslektüre zur Auswahl. Nach einiger Zeit sammelt er die broschierten Romane und Novellen wieder ein und bewahrt seinen Gleichmut, auch wenn er keinen Absatz erzielt hat. In dem Wagen selbst wird, so oft der Zug hält, der Name der nächsten Station ausgerufen. Das ist sehr empfehlenswert, da Leute mit vielem Handgepäck, die auch in Amerika nicht selten sind, dadurch Zeit gewinnen, sich auf das Verlassen des Zuges vorzubereiten.

Mit größerer Spannung habe ich noch nie auf einer Nachtfahrt den Morgen erwartet. Schon in der Finsternis versuchte ich zu entdecken, wie es draußen aussah. Was ich erkennen konnte, war ein Fluß, in dem zeitweise sich Lichter spiegelten. Es wird der Hudson sein, sagte ich mir. Es kamen Stationen, die sonderbare, zum Teil der antiken Welt entnommene Namen hatten: Schenactadi, Utica, Rome und Syracuse. Endlich fing es an hell zu werden. Aus der Dämmerung tauchten Hügel und Bäume auf, die denen der Alten Welt ähnlich sahen. Dann kam eine kleine Farm: ein Holzhaus mit einer Menge von Fruchtbäumen, die in voller Blüte standen. Dann Wald und Bruchland. Dann wieder eine Farm mit großem Obstgarten und wieder Wald, Wiesenland und Bruch. Dann ein kleiner Ort mit nettem Kirchlein, ganz aus Holz gebauten Häusern und einem Walde von blühenden Apfelbäumen. Aus solchen Gegenden, dachte ich, kommen im Winter die vielen amerikanischen Äpfel nach Berlin. Als es dann ganz hell geworden war, konnte ich im Vorbeifahren Blumen der Neuen Welt erkennen, auf die ich vorbereitet war. Die großen weißen Kelche gehörten der Waldlilie Trillium an. Ich bedauerte es, daß ich mir die schöne Blume nicht holen konnte, aber am nächsten Tage schon hielt ich sie in der Hand, die weiße sowohl wie ihre purpurrote Schwester. Weiter glänzten aus dem Waldgrunde die Blätter des seltsamen Podophyllums auf, in denen das Licht sich so stark spiegelt, daß man von weitem weiße Blumen zu sehen glaubt. Zwei handförmig geteilte Blätter, die zusammen als ein großes rundes Blatt erscheinen, sitzen einander gegenüber auf schlankem Stiel. Wenn die amerikanischen Kinder diese Frühlingsboten sehen, rufen sie, wie ich nachher erfuhr, aus: » The umbrellas are out!« – »die Regenschirme sind da!« Und was blickt zu mir goldglänzend vom Bachrand auf? Ein mir von Europa her so wohlbekanntes Gesicht, die Kuhblume ( Caltha palustris), die von den Engländern marsh marigold genannt wird. Von der Ostsee bis zum Mittelmeer kann man sie im Frühjahr auf jeder nassen Wiese sehen, und auch eine Bürgerin der Neuen Welt ist sie und wird auch drüben wie bei uns, wie ich später bemerkt habe, zu kleinen Sträußen gebunden als Frühlingsbotin auf den Markt gebracht. Die amerikanische Schriftstellerin Mrs. William Starr Dana, deren hübsches Buch » How to know the wild flowers« ich mit Interesse und Vergnügen gelesen habe, nimmt an, diese Blume sei es, die in Shakespeares »Cymbeline« gemeint ist, in dem entzückenden kleinen Morgenliede oder Ständchen, worin es heißt:

»And winking Mary-buds begin
to open their golden eyes.«

Sie übersieht aber, daß die Blumen des marsh marigold sich nicht mit der Sonne öffnen und schließen. Es kann bei Shakespeare mit den » Mary-buds« wohl nur das eigentliche Marigold, unsere Ringelblume, gemeint sein. Simrock übersetzt » Mary-buds« mit »Mordena-Blümchen«, was aber »Mordena« ist, weiß ich nicht.

In dieser eigenartigen Landschaft, die so manches Anmutige schmückte, machte sich von Zeit zu Zeit etwas bemerkbar, das nicht gerade anmutig, wenn auch in hohem Grade eigenartig war. Überall, wo es Zäune gab, waren diese bedeckt mit zum Teil buntfarbigen Anschlägen, auf denen irgend etwas in dringlichster Weise dem Publikum empfohlen wurde. Aber auch, wo weit und breit kein Haus war, stand zur Seite der Bahn im Sumpf eine Tafel mit der Aufschrift: » Children cry for Castoria! Children cry for Castoria! Children cry for Castoria.« Es läßt sich nicht sagen, wie aufregend dieser dreimal wiederholte Angstruf wirkte. Man hörte ordentlich das Geschrei der Kinder und fühlte sich verpflichtet, im nächsten Laden für sie Castoria einzukaufen. Dann fragte man sich: Was ist Castoria? und gab sich die Antwort darauf: Vermutlich ist es eine Quacksalbe, bestimmt für Kinder, die an Tyspepsie oder Indigestion leiden. Rechtzeitig bei ihnen angewendet, wird es sie beruhigen und für lange, vielleicht für sehr lange Zeit still machen. Kaum hatte man sich ein wenig über die Kinder beruhigt, da stand auch wieder in einsamer Wildnis eine Tafel, auf der zu lesen war: » Hudson's cures«. Wieder geriet man ins Nachdenken und fragte sich: Wer ist Hudson, und worin bestehen seine Kuren? Giebt er einen Sirup oder giebt er Pillen? Noch war ich im Nachdenken darüber, als mir ein neuer Anschlag zu Gesicht kam, auf dem einfach die Worte standen: » Drink Schlitz!« Ja, ich will Schlitz trinken, aber was ist Schlitz, und wo ist Schlitz zu haben? Noch drei- oder viermal las ich aufs neue: » Drink Schlitz!« Endlich kam ein Anschlag, der sich etwas ausführlicher ausdrückte, und ich erfuhr dadurch, daß Schlitz das Bier ist, das Milwaukee berühmt gemacht hat. Sofort nahm ich mir vor, sobald wie möglich nach Milwaukee zu reisen und Schlitz zu trinken, bin aber leider wegen Mangels an Zeit nicht dazu gekommen. An der Bahn hatte ein Haus gestanden, das abgebrannt war, offenbar vor kurzer Zeit, vielleicht vor wenigen Tagen erst. Aus dem Schutt ragte ein halbverbrannter Balken hervor, auf den ein Zettel geklebt war mit den Worten: » Eclipse Soap« d. h. Sonnenfinsternis-Seife. Die Seife wird, wie ich bald darauf erfuhr, in Toronto fabriziert. Als am 28. Mai die Sonnenfinsternis stattfand, sah der Fabrikant der Eclipse Soap diesen Tag für ihren Ehrentag an und machte in besonders glänzenden Reklamen darauf aufmerksam. Ich weiß nicht mehr wie er die Seife mit der Sonnenfinsternis in Verbindung brachte. Vermutlich gab er der Meinung Ausdruck, daß die Sonne durch regelmäßiges Abwaschen mit seiner Seife vor künftigen Verfinsterungen bewahrt werden könnte.

So gab es von der Bahn aus mancherlei zu sehen, das für Land und Leute bezeichnend war. Unterdessen kam die Station Rochester und dann, um acht Uhr morgens, Buffalo. Von der großen Stadt sahen wir nicht viel mehr als den Bahnhof, auf dem wir zu unserer Freude eine Tasse Kaffee erhielten. Gleich hinter Buffalo, das am Erie-See liegt, kommt man nach Canada hinein und verläßt in gewissem Sinne Amerika. Denn die Bewohner Canadas dulden es nicht, daß sie Amerikaner genannt werden; Amerikaner sind für sie die Bewohner der Vereinigten Staaten, die Yankees, die sie hochschätzen, ohne daß sie den Wunsch hegen, mit ihnen verwechselt zu werden. Sie wollen nichts anderes sein und nicht anders genannt werden als Canadier.

Die Bahn kommt hinter Buffalo in gebirgiges Land und läuft eine Zeit lang am Rande eines Abgrundes hin. Man blickt auf Baumwipfel hinunter und über den Abgrund hinüber. Darüber aber sahen wir in nicht großer Entfernung eine weiße Wolke, die sich aus dem Erdboden erhob. Wir hätten uns lange den Kopf darüber zerbrechen können, was es damit für eine Bewandtnis habe, wenn wir nicht sogleich das Richtige geahnt und uns gesagt hätten: dort sind die Niagarafälle. Dem war in der That so; was wir sahen, war die weiße Dunstwolke, die immer über den Fällen steht. Einige Wochen später sind wir in sie hineingetaucht. Wir hielten bei Hamilton an, das eine hübsche und ansehnliche canadische Stadt ist, und kamen dann wieder in offene hügelige Landschaft hinein, die manches Anziehende den Blicken darbot. Ich sah etwas, das ich in Canada nicht zu sehen erwartet hatte, nämlich Weinberge, oder Weingärten vielmehr, in denen der Wein hochgezogen wird, wie an der Mosel unten im Thal. Daß in Canada Wein für die Kelter gebaut wird, überraschte mich, in der That aber wird in diesem südlichsten Teil des Landes Wein zum Trinken gebaut. Selbstverständlich habe ich später den canadischen Wein auch probiert, zuerst den roten. Der Wein ist nicht schlecht, er erinnert an Stachelbeerwein oder, wenn man so sagen darf, an einen leichten Portwein, und ein gewisser Harzgeschmack giebt ihm etwas Pikantes. Ich fand ihn verdächtig süß, aber Männer, die noch unbestraft waren, versicherten mir, daß in ihm kein anderer Zucker sei als derjenige, den die Sonne in den Trauben bereitet. In Montreal habe ich darauf einen etwas säuerlichen roten Canadier vom Faß getrunken, der noch ziemlich jung zu sein schien, aber recht trinkbar war. Zuletzt erhielt ich noch in Toronto Gelegenheit, einen weißen Canadier zu kosten, der auch nicht übel schmeckte, etwa wie französischer Weißwein. Ob man bei canadischem Rebensaft auch singen kann, weiß ich nicht zu sagen, weil ich für mich allein nicht singen mag und in canadischer Gesellschaft in der Regel nur beim Thee gesungen wird.

Die canadischen Weingärten, deren Rebstöcke sich eben belaubten, waren ein erfreulicher Anblick; in den Gegenden aber, die wir durcheilten, fiel mir etwas anderes noch auf, das mir unerfreulich erschien. Das waren die überall sich zeigenden Spuren schonungslosester Waldverwüstung. Große zusammenhängende Waldbestände waren überhaupt nirgend zu sehen, dagegen viele kleine Waldstücke, und diese erschienen in einer Weise zugerichtet, daß es kläglich anzusehen war. Alle großen alten Stämme des ehemaligen Urwaldes waren umgehauen, und nur die stehen gebliebenen riesigen Stümpfe zeugten von der Pracht des Baumwuchses, der einst vorhanden gewesen war. Von den jüngeren Stämmen waren viele verdorrt und standen gänzlich kahl da, andere waren, offenbar durch das Auffallen der niederstürzenden Waldriesen zerbrochen. Hie und da schien auch das Feuer an der Zerstörung mitgewirkt zu haben. Nirgendwo war irgend etwas von Forstkultur bemerkbar. Was stehen geblieben oder wieder aufgewachsen war, hatte auch Urwaldcharakter, aber dieser Urwald hatte wenig mit dem gemein, was man sich darunter vorzustellen gewohnt ist.

Während ich solche Beobachtungen machte, näherten wir uns dem Ziel unserer Reise, und gegen 11 Uhr vormittags war Toronto erreicht. Auf dem Bahnhof wurden wir von unseren Kindern mit herzlicher Freude, die wir teilten, empfangen und von ihnen nach ihrer Wohnung gebracht. Dort begrüßte uns auch unser Enkeltöchterchen. Mit prüfenden Blicken betrachtete es die europäischen Großeltern, schien sich aber bald darüber klar zu sein, daß ein gutes Einvernehmen mit ihnen zu einem vorteilhaften Verkehr führen würde.

Nachdem wir in den für uns bereitgestellten Räumen in der Grenville Street uns häuslich eingerichtet hatten, wurde zunächst ein kleiner Ausgang gemacht, um genauer festzustellen, in welcher Jahreszeit wir uns befänden. Das Ergebnis dieser Untersuchung war, daß wir ungefähr in demselben Stadium des Frühlings uns befanden, in dem Berlin war, als wir es verließen. Noch blühte der Flieder nicht, noch hatten die Kastanienbäume nicht ihre schimmernden Kerzen aufgesteckt, noch fiel kein Goldregen von den Zweigen herunter, und nicht wenig Bäume waren noch mit dem Entfalten ihres Laubes beschäftigt.

In der folgenden Zeit habe ich mir dann Mühe gegeben, die Stadt Toronto kennen zu lernen. Jeden Tag, den ich dort verlebte, bin ich, meist allein, auf Entdeckungen ausgegangen und habe immer etwas Neues nach Hause mitgebracht. In Berlin ist es mir aufgefallen, daß man dort so wenig von Toronto wußte, das doch mit seinen 200 000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt von Canada ist, eine Universität, über 200 Kirchen, einen lebhaften Handel und viele gewerbliche Anlagen besitzt. Selbst vielseitig gebildete Leute hatten keine Ahnung davon, daß es überhaupt eine Stadt dieses Namens giebt, und andere verwechselten sie mit Tarent. Die Canadier wissen mehr von Deutschland als die Deutschen von Canada, freilich sind auch von ihnen mehr Leute »draußen« gewesen, wie man in Amerika sagt, als von uns Leute nach Canada gekommen sind. »In Göttingen, wo ich studiert habe«, sagte ein gelehrter Canadier zu mir, »wußte man von unserem Lande eigentlich nichts, als daß dort einmal ein weißer Mann einen Indianer niederträchtig behandelt hat. Der Indianer hat ihm das nicht nachgetragen, sondern ihm bei einer späteren Begegnung großmütig alles verziehen und ihn mit Lobster und anderen guten Sachen bewirtet. Das soll in einem alten Gedicht stehen, dessen Verfasser mir nicht bekannt ist.« – »Der Dichter heißt Seume«, bemerkte ich. – »Das kann sein«, sagte der Canadier, »ob es aber wahr ist, was der Dichter erzählt, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er wohl ein wenig übertrieben.«


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