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XII. In den wilden Wäldern

Ehe ich nach Canada hinüberfuhr, war ich schon einmal im Traum durch die Wälder dort gewandert und hatte mir ihre Flora angesehen. Weil ich aber ungefähr wußte, was dort zu finden ist, so sah ich nichts von den phantastischen Pflanzengestalten, die ich manchmal zu sehen bekommen habe, wenn ich träumend in weit entlegene Länder versetzt war. Was ich im Traum fand und einsammelte, war so ziemlich das, was in Wirklichkeit dort wächst: es bestand fast ausschließlich aus Arten, die in unseren deutschen Wäldern ihre nächsten Verwandten haben.

Als ich dann drüben war, stand mein ganzes Verlangen nach dem nördlichen Waldgebiet. Ich beredete meinen Schwiegersohn dazu, mich auf einer Fußwanderung dorthin zu begleiten. Weshalb er anfangs für die Sache nicht sehr eingenommen war, ist mir später klar geworden. Wir wurden nämlich beide dieser Unternehmung wegen für verrückt gehalten. Nun, daraus darf man sich nichts machen, wenn man etwas lernen und seinen Anschauungskreis erweitern will. Es wurde ausgemacht, eine viertägige Wanderung im Distrikt der Muskoka-Seen auszuführen, und am 21. Juni machten wir uns nach dem Norden auf. Wir nahmen so wenig Gepäck wie möglich mit, ich mußte aber doch auf meine Umhängetasche eine Pflanzenpresse mit einigem Vorrat an Preßpapier aufschnallen, denn ohne das hatte ich keine Aussicht, etwas an botanischer Ausbeute heimzubringen. Ich hatte aber in Anbetracht der manchmal schwierigen Wege und der großen Hitze, die wir auszustehen hatten, ein wenig zu viel zu tragen. Das nächste Mal, so beschloß ich deshalb, nehme ich einen Indianer als Träger mit. Mein Begleiter kam ebenfalls zum erstenmal in das Waldgebiet, das für unsere Wanderung gewählt war, und nahm zur Orientierung nichts mit als einen kleinen Taschenkompaß. Damit hat er sich aber zurechtgefunden, und auch nicht einmal sind wir irregegangen.

Wir begaben uns zunächst mittelst der Eisenbahn nach Bracebridge, das hundertzwanzig englische Meilen nördlich von Toronto gelegen ist. Längere Zeit fuhren wir an dem großen Simcoe-See hin, der seinen Namen von dem Gründer Torontos, dem Governor Simcoe hat. Dieser See steht durch einen Wasserlauf, River Severn genannt, mit einer Bucht des Huron-Sees in Verbindung. Vielfach führte der Weg durch verwüsteten Wald, der größtenteils durch Feuer zerstört zu sein schien. Über den Waldboden aber hatte der Sommer leuchtend weiße Blumen gestreut. In Gravenhurst am Muskoka-See stiegen wir um und erreichten um drei Uhr nachmittags Bracebridge, gelegen am Muskoka, der schäumend und brausend zwischen seinen Ufern hingeht und nicht weit von dem Städtchen in Fällen sich ergießt. In Bracebridge, so hübsch es dort auch war, hielten wir uns nicht auf, sondern machten uns sofort auf den Weg; denn wir hatten keine Zeit zu verlieren, wenn wir vor Dunkelwerden noch Baysville, das Ziel unseres ersten Wandertages, erreichen wollten.

So betraten wir denn das große Wald- und Seengebiet im Norden des Ontario-Sees. Der Boden dieses ganzen ungeheuren Gebietes ist niedriges Kalksteingebirge. Das nackte Gestein tritt häufig zu Tage in großen Platten oder in eigenartigen flach gewölbten Kuppen von manchmal bedeutendem Umfang, selten in schroffen Klippen. Es ist wellenförmig bewegtes Land, und zwar fallen die Wellen ab von Westen nach Osten zu. Ganz allmählich steigen sie an, um dann mehr oder weniger steil in Steinbrocken und Gerölle abzustürzen. So ist das Land ein Abbild des bewegten Meeres. Von der Höhe einer jeden Welle aus sieht man, wie vor einem der Weg anscheinend endlos wieder aufsteigt, und das wirkt, wenn es den ganzen Tag hindurch beständig sich wiederholt, ermüdend.

Dieses unermeßliche Gebiet war früher durchweg mit Urwald bestanden, mit dem aber das Feuer und die Axt im Laufe der Jahre bis hoch in den Norden hinauf aufgeräumt haben. Das wertvolle Nadelholz, das hauptsächlich diese Wälder bildete, ist verbrannt oder gefällt worden, darauf aber hat auf der Stätte der Verwüstung ein Kampf ums Dasein angefangen, in dem vorläufig das wertvolle schwersamige Nadelholz von minderwertigem Laubholz, dessen Samen der Wind umherträgt und aussät, besiegt worden ist. Über dem verwüsteten alten Urwald ist ein neuer Wald von Pappeln, Rüstern, Weiden, Birken und anderen Laubhölzern, cotton wood heißt das, emporgewachsen, der auch Urwald ist, denn von Forstkultur ist nirgendwo eine Spur zu bemerken. In diesem neuen Urwald findet man auch einige Abkömmlinge der alten Urwaldtannen, doch nicht sehr viele. Es kann aber sein, daß im Schutz dieses schnell emporgeschossenen minderwertigen Laubholzes der alte Nadelwald wieder aufwächst, der allmählich dann seine Schützer vom Platz verdrängt, so daß der ehemalige Bestand wieder hergestellt wird. Das aber wird eine lange Zeit erfordern.

In der Region, die wir durchwandert haben, ist der alte Urwald schon vor dreißig bis fünfzig Jahren zerstört und gefällt worden, auf einem großen Teil dieses Gebietes hat sich daher schon wieder ein Hochwald entwickelt. Bis fünfzig Fuß über diesen neuen Wald empor ragen aber zahlreiche abgestorbene Stämme des alten Urwaldes. Den meisten dieser Stämme sieht man es an, daß sie vom Feuer, das sie nicht verzehren konnte, doch getötet worden sind, es finden sich aber solche Baumskelette auch da, wo nicht das Feuer, sondern allein die Axt gewütet hat. Das müssen Bäume gewesen sein, die, von den Holzfällern des Umhauens nicht für wert erachtet, stehen geblieben und dann eingegangen sind, weil ihnen der Schutz des geschlossenen Waldes genommen war. Diese den lebendigen Wald überragenden abgestorbenen Stämme sind das Charakteristische amerikanischer Waldlandschaften und finden sich auf zahllosen Photographien wieder. Denn auch der Jäger, der hoch in den Norden hinauf geht, um Bären oder Wölfe zu schießen, nimmt seinen photographischen Apparat mit.

In den neuen Urwald tiefer einzudringen, ist mit Schwierigkeiten verbunden. Das erste Hindernis, das sich dem Wanderer entgegenstellt, ist ein Zaun aus Baumstämmen, die im Zickzack übereinander gelegt sind, eine »Fence«. Solche Fenzen oder Zickzackzäune sollen verhindern, daß sich das unbeaufsichtigt im Walde weidende Vieh verläuft, sie finden sich aber auch da, wo kein Vieh weidet und fehlen da, wo weidendes Vieh ist. Nun, über diese Zäune kommt man leichter hinweg als über Stacheldraht, der im südlichen Canada, wo die Holzpreise sehr gestiegen sind, vielfach schon an die Stelle der Zäune getreten ist. Dann aber ist der Waldboden sehr oft sumpfig, und auf ihm liegen von alter Zeit her übereinander gehäuft starke Stämme von Urwaldbäumen, mehr oder minder vermodert. Allzu stark darf man sich die Urwaldstannen nicht vorstellen. Das Lebensalter der Bäume ist, auch wo sie wild wachsen, begrenzt wie das der Menschen. An die Mammutbäume der Sierra Nevada reichen die Rot- und Weißtannen der Provinz Ontario nicht hinan. Die stärksten Stümpfe abgehauener Urwaldsbäume, die ich gemessen habe, hatten nicht viel über ein Meter Durchmesser. So stark werden unsere deutschen Kiefern unter Umständen auch und unsere Tannen erst recht.

Dies ganze große Waldgebiet hat unzählige Seen von jeder Größe und erinnert darin, wenn man Kleines mit Großem vergleichen darf, an unsere norddeutschen Seenplatten in Ost- und Westpreußen, in Pommern und Mecklenburg und in der Mark. Daher gilt diese Landschaft für sehr geeignet zu Ausflügen mit einem Canoe, das immer nur kurze Strecken von einem See zum anderen getragen werden muß. In einer solchen Gegend aber eine Fußwanderung zu unternehmen, hält man für unverständlich.

Unser Weg, einer der nicht vielen Wege, die in dem Waldgebiet angelegt sind, um kleine Ortschaften und einzelne Farmen miteinander zu verbinden, fing sehr hübsch an. Am Rande des feuchten Waldes zu beiden Seiten blühten reizende blaue Schwertlilien und weiße Calla. Zwischen dem Gebüsch standen hohe Farnkräuter, darunter der schöne Königsfarn (Osmunda regalis), der auch bei uns heimisch ist und besonders häufig bei Groß-Müritz in der Rostocker Heide vorkommt. Auch viel blühende Brombeersträuche entdeckte ich, und zwar mit nicht ganz ungemischter Freude. O trefflicher Pfarrer von Böhne bei Rathenow, der du eine so große Pflanzenkenntnis besitzest und die Flora beinahe der ganzen Welt in deinem Kopf hast, du hattest mir auf die Seele gebunden, dir canadische Brombeeren mitzubringen. Das fiel mir nun ein und machte mir Sorge, denn in der Pflanzenpresse, die ich trug, konnte ich doch nicht so sehr viel lassen, und die Brombeeren mit ihren langen Ranken beanspruchen großen Raum. Aber ich dachte daran, daß man vor allem gegebenes Wort halten muß und habe danach gehandelt. Zum Glück giebt es in Canada nicht viel Brombeerarten, unter den dort vorkommenden aber recht gute, die auch zum Anbau im Garten geeignet sind. Die meisten habe ich mitgebracht.

Als wir zwei Stunden gegangen waren, erreichten wir ein kleines Farmhaus, in dem wir aus Durstes Not einsprachen. Die Farmerin, die allein mit einer Tochter zu Hause war, empfing uns freundlich und erquickte uns mit köstlich klarem und kaltem Wasser und mit Buttermilch. Sie war eine Blumenfreundin und hatte in einem sonnigen Zimmer hübsche blühende Topfgewächse. Daß ich sie ihr alle mit Namen nennen konnte, machte ihr Freude. Die Frau saß auf dieser Stelle seit zweiundzwanzig Jahren und war noch nie mehr als einige hundert Schritt von dem Hause ab gewesen. Auch das doch nicht so weit entfernte Bracebridge hatte sie in der ganzen Zeit nicht besucht. Nachdem wir uns erfrischt hatten, ging es weiter, und immer hatten wir auf beiden Seiten den Wald. Eine Strecke weit waren die Stümpfe der Urwaldsbäume mit den Wurzeln aus dem Boden herausgeholt, was mittelst einer Maschine bewirkt wird, die wie eine Zange den Stumpf packt und ihn herumdreht. Dann waren die Stümpfe mit dem Wurzelwerk, das bei den Nadelbäumen flach unter dem Boden hinläuft, aber weit um sich greift, auf die Seite gelegt und ragten in den wunderlichsten Formen hoch empor. Dies, verbunden mit den halbverkohlten Baumstämmen, die über das Grün des neuen Waldes sich erhoben und mit ihren Armen wie verzweifelt in die Luft griffen, gab der Landschaft ein überaus eigenartiges Gepräge. In der Dämmerung muß es etwas Gespenstiges haben. Wir bekamen auch etwas von der Tierwelt zu sehen, vornehmlich die niedlichen Chipmucks oder Backenhörnchen, die zum Eichhörnchengeschlecht gehören, aber auf dem Erdboden leben. Ein Paar davon befindet sich neuerdings im Berliner Zoologischen Garten. Ein Stachelschwein kam in Sicht und ein etwas größeres Tier, das mein Begleiter »Grundschwein« nannte. Was darunter zu verstehen ist, habe ich nicht ermitteln können, das Tier selbst habe ich nur von weitem gesehen. Allerhand Vögel wurden beobachtet und einige Schlangen von mäßiger Länge angetroffen und gemessen. Zweimal vor Baysville bekamen wir noch eine von Menschen aufgeführte Baulichkeit zu sehen. Die eine, etwas vom Wege seitab im Walde gelegen, war ein nettes kleines Haus, auf dessen Giebel die Bezeichnung Townhall stand, mitten in der Waldeinsamkeit ein Rathaus für eine Anzahl weit umher verstreuter kleiner Ansiedelungen, die zusammen eine Town oder ein Städtchen bilden. So wird auch hie und da ganz vereinzelt stehend eine Kirche, ein Schulhaus oder ein Postamt gefunden. Dann stießen wir weiter am Wege auf eine Schankwirtschaft, wo, wie auch in dergleichen Geschäften auf dem Lande bei uns, vieles sonst noch zu haben war. An der Bar aber konnte man Würzburger Bier bekommen, und ich ließ mir eine Flasche davon geben. Es war kein von Hause aus schlechtes Bier, aber sehr warm war es. Der Wirt hatte vieles sonst in seinem Hause, aber kein Eis, und dadurch muß auch ein gutes Würzburger an Geschmack verlieren.

Mit Dunkelwerden trafen wir, nachdem wir sechzehn englische Meilen zurückgelegt hatten, in Baysville ein. So heißt ein Städtchen von zwei- bis dreihundert Einwohnern, das nicht unmittelbar am Ufer, aber doch nur ein kurzes Stück entfernt von dem großen, buchten- und inselreichen Lake of Bays liegt. Die Bewohner des kleinen Ortes leben hauptsächlich vom Holzgeschäft. Wir kehrten in den bescheidenen Gasthof ein, wo wir gut aufgehoben waren. Mit bestem Appetit nahmen wir die erste ordentliche Mahlzeit des Tages, ein etwas spätes Dinner, zu uns, dessen Hauptgang aus gebratenem Speck bestand. Als ich nach dem Essen vor die Hausthür trat, wurde mir eigen zu Mut beim Anblick des Sternhimmels, der über der schweigenden Wildnis sich wölbte. Es waren aber die Sterne der Heimat.

Am anderen Morgen sah ich mich ein wenig um in dem Raum, wo wir unser erstes Frühstück zu uns nahmen. Da fand ich zu meinem großen Vergnügen in einem Blumentöpfe den Gundermann, der bei uns in Deutschland zur Frühlingszeit überall mit seinen blauen Blumen den Waldboden ziert. Dasselbe zierliche Pflänzchen hatte ich schon auf dem Blumenmarkt von Toronto und in den Hausgärten dieser Stadt als Zierpflanze sowohl wie auch verwildert bemerkt. Es ist nicht ursprünglich in Amerika heimisch, muß aber früh schon von englischen Ansiedlern über das Meer gebracht worden sein. Ich machte noch einen anderen Fund. Unter einer Anzahl von Büchern religiösen Inhaltes fand ich ein kleines Heft mit einer Präparation zum griechischen Text des Platonischen Dialoges »Ion«. Also bis in die wilden Wälder von Canada war schon der alte Philosoph gedrungen, mit dem wir uns vor meiner Abreise in der Berliner Griechischen Gesellschaft beschäftigt hatten.

Wir zahlten unsere Rechnung und nahmen mit kräftigem Handdruck von dem Gastwirt Abschied. Ich glaube, auch er hielt uns, ebenso wie die blumenliebende Farmerin, für verrückt, besaß aber gleich dieser natürliches Zartgefühl genug, um es uns nicht merken zu lassen. Er wünschte uns glückliche Reise und schenkte jedem von uns beim Scheiden eine Cigarre. Dann brachen wir auf gegen Dorset zu, das am östlichen Ende des Buchtensees ungefähr sechzehn englische Meilen von Baysville entfernt liegt. Der Weg war leidlich gut, der Wald zu beiden Seiten besser als am Tage vorher, weil er schon etwas älter war und ansehnliche Bäume von verschiedenem Laubholz aufwies. In Bezug auf die Urwaldreste hatte er denselben Charakter wie aller Wald, den ich in diesem Distrikt gesehen habe. Es war ein sehr heißer Tag. Wir wollten erst ausruhen, wenn wir an einen Wasserplatz gekommen wären, aber die Sonnenglut warf uns nieder, ehe dies geschah. Wir rasteten um Mittag eine halbe Stunde auf einer Berghöhe, wo es ein wenig luftig war. Als wir dann noch ein Stündchen weiter gegangen waren, erreichten wir einen Quell, der aus dem Felsen kam und sich in ein natürliches Steinbecken ergoß. Da ruhten wir wieder aus. Mein Begleiter machte aus Papier zwei Trinkbecher, mit denen wir das Wasser schöpften. So durstig war ich, daß ich das erste Mal vor dem Trinken nicht die vielen kleinen Insekten entfernte, die auf der Oberfläche des Wassers schwammen. Auch beim zweiten Mal that ich es noch nicht, aber vom dritten Mal ab. Nachdem wir den Durst gestillt hatten, holten wir die Cigarren hervor, die der Gastwirt in Baysville uns geschenkt hatte, und zündeten sie an. »Sie ist aus einem bösen Kohl gemacht,« sagte mein Begleiter, nachdem er einige Züge gethan hatte und warf seine Cigarre fort. Ich rauchte die meine ruhig auf, weil ich schon mehr als er an den bösen Kohl gewöhnt war. Während wir da saßen und plauderten, kamen mehrere Trauerfalter – diese schöne Schmetterlingsart ist in Nordamerika wie bei uns zu Hause – herangeschwebt. Ich mußte daran denken, wie Heinrich Seidel und ich einmal auf der Landspitze Rosenort an der mecklenburgischen Küste, als wir dort saßen und Wein tranken, von einem Trauermantel besucht wurden, der auf dem Rande des silbernen Bechers, aus dem wir tranken, sich niederließ und von unserem Wein mittrank – ein wenig zu viel, wie wir es ihm bald anmerkten. Für die canadischen Trauermäntel war eine solche Gefahr nicht vorhanden, denn wir hatten nur Wasser, das wir aus Bechern von Papier tranken. Auch waren sie wahrscheinlich Temperenzler. Wir erhielten noch einen anderen Besuch. Aus dem Walde kam eine noch sehr junge Kuh auf den Weg, stellte sich in etwa hundert Schritten Entfernung von uns auf und sah uns mit ihren großen runden Augen starr an. Dann kam sie einige Schritte näher, sah uns wieder an und wiederholte das so lange, bis sie dicht vor uns stand. Darauf fing sie an meine Reisetasche, die auf dem Boden lag, zu beschnuppern. Sie war noch dabei, da erscholl aus dem Walde heraus das besorgte Gebrüll ihrer Mutter, und augenblicklich sprang sie weg und verschwand im Dickicht. Ihr Blick hatte für mich etwas Vorwurfsvolles gehabt, was ich mir dadurch erklärte, daß wahrscheinlich die Kühe einer nahe gelegenen Farm aus dem Steinbecken, an dem wir saßen, zu trinken pflegten. Als die Kuhjungfrau fortgesprungen war, sagte mein Begleiter, der sich im Deutschen ganz nett ausdrücken kann: »Den Anblick, den sie eben hier gehabt hat, wird sie in ihrem ganzen Leben nicht vergessen.«

Nachdem wir aufgebrochen waren, sahen wir noch etwas Entzückendes. Zur Seite des Weges lagen auf dem vom Abfluß des Quells durchfeuchteten Boden unzählige große Schmetterlinge, goldgelb und schwarz gefleckt. Anscheinend kühlten sie sich.

Bei der Fortsetzung unseres Weges gewannen wir häufig einen hübschen Blick auf einen See und eine Zeit lang gingen wir in ebenem Gelände am Ufer eines solchen Sees hin. Wir bekamen wieder etwas von der Tierwelt zu sehen. Verschiedenen Schlangen begegneten wir und fanden ein Schlangengerippe, das mitgenommen wurde. Wir beobachteten eine Schildkröte, die auf einem im Wasser liegenden Baumstamm saß. Dann entdeckten wir die Spur eines großen Wildes. Es war die des Wapiti oder canadischen Hirsches, der einfach deer genannt wird, während der andere große Vertreter der Hirschwelt in Canada, das Elen, das wohl dasselbe ist wie das europäische, moosedeer oder elk heißt. Endlich stießen wir auf ein merkwürdiges Mitglied der Hühnerfamilie. Auf dem Wege tanzte vor uns mit fächerförmig ausgebreiteten Schwanzfedern ein größerer Vogel, den mein Begleiter als partridge ansprach, wie in England das Rebhuhn genannt wird. Rebhühner aber giebt es in der Neuen Welt nicht, dagegen erinnerte jener Vogel an unseren Birkhahn, der einige Verwandte in Nordamerika hat. Beim Anblick des tanzenden Vogels fiel mir der Vogel Johann Jakob Wendehals aus Mörikes reizendem Gedicht »Zur Warnung« ein. Der Vogel machte ganz den Eindruck eines Trunkenen, wahrscheinlich aber war er nur vom Liebesrausch erfaßt. Auch das erschien auffallend, da bei uns wenigstens die Verliebtheit der Birkhühner in das erste Frühjahr fällt. Hier sah man so recht, wie die Liebe blind macht. Wir hätten den Vogel leicht erschlagen, mitnehmen und in Dorset braten können, doch hielten wir unsere Hände rein von Vogelmord.

Ich erbeutete manche hübsche Pflanze. Da das Einlegen immer einige Zeit in Anspruch nahm, so blieb ich häufig eine Strecke hinter meinem Begleiter zurück. Erspähte ich dann eine Blume, der ich allein der Schwierigkeit des Geländes wegen nicht habhaft werden konnte, dann erhob ich ein lautes Geschrei. Wenn er das vernahm, kehrte mein Begleiter um und leistete mir Beistand. Am dritten Tage war er schon angelernt und paßte selbst auf neue Pflanzen auf.

Viel Freude machte mir der kleine canadische Cornus, der in unsäglicher Menge um modernde Baumstümpfe herum und an ihnen emporgewachsen war und in voller Blüte stand. Wie der auch bei uns vorkommende schwedische Cornus ist es ein nur handhohes Pflänzchen, das scheinbar eine einzige, ziemlich große Blüte trägt. Es liegt aber ein bei der Natur sehr beliebter Kunstgriff vor: was man beim ersten Blick für die Blumenkrone hält, sind vier schneeweiße Hüllblätter, die ein unscheinbares Blütendöldchen umgeben. Vermutlich soll durch diese in die Augen fallenden weißen Hüllblätter allerhand umherfliegendes kleines Volk darauf aufmerksam gemacht werden, daß in der Mitte in den winzigen Blüten, die sonst leicht übersehen werden könnten, etwas zu naschen ist.

Wir kamen am Nachmittag an einem Kirchlein vorbei, das im Walde stand und einer Gemeinde von weithin zerstreut wohnenden kleinen Farmern angehörte. Da es ein Sonntag war, fand Gottesdienst statt, und wir hörten Gesang von daher schallen. An dieser Stelle lagerten wir uns im Grünen, um zu rasten. Mein Gefährte litt aber nicht, daß wir lange Rast hielten. »Jeden Augenblick,« sagte er, »können die Leute aus der Kirche kommen, wenn sie uns dann hier liegen sehen, werden sie erschrecken, denn wir sehen nicht so aus, wie es sich für den Sonntag ziemt.« Darin mußte ich ihm recht geben. Erstens waren wir nicht sonntäglich gekleidet, dann aber hatten wir noch sehr durch stechende Insekten an Aussehen verloren. An solchen Insekten fehlte es um die Zeit unserer Wanderung in diesem Teile von Canada nicht. Abgesehen von den Stechmücken, die sich von unseren deutschen nicht unterscheiden, war die Luft in den Wäldern von Scharen eines anderen sehr kleinen, aber ungemein grausamen Quälgeistes erfüllt, der Blackfly oder Schwarzfliege genannt wird. Der wissenschaftliche Name ist Simulia molesta. Das Beiwort ist sehr passend, denn diese Simulia ist in der That ein überaus lästiges Geschöpf. Die Blackfly gehört zu den auch bei uns vertretenen Gnitzen und ist verwandt mit der berüchtigten Columbatscher Mücke und den Moskitos. Die Wirkung ihres Stiches aber ist eigenartig. Wo die Blackfly hingestochen hat, tritt aus der Haut ein Blutstropfen heraus, das Blut aber trocknet in der heißen Luft rasch ein und bildet dann auf der Haut einen runden schwarzen Flecken. Greift man aber nach der Stelle hin, wo das Insekt gestochen hat, so verwischt man sich das Blut im Gesicht. Das begegnete uns häufig, weshalb gegen Ende dieses zweiten Wandertages mein Begleiter wohl mit Recht zu mir sagte: »Wir sehen aus wie zwei Männer, die im Streit mit Messern aufeinander losgegangen sind.« Übrigens wurde ich weit mehr von den Blackflies gepeinigt als er, vermutlich weil ich ein Fremder war, und die Waldbewohner, deren wir allerdings nicht viele gesehen haben, schienen ganz von ihnen verschont zu bleiben. Das mochte daher kommen, daß sie allmählich immun gegen Blackflygift werden, oder auch seinen Grund darin haben, daß, zumal bei älteren Personen, dieser Blutsauger mit seinem Stachel nicht durch die in Wind und Wetter verdickte Haut zu dringen vermag. Ich habe von den Blackflystichen zuerst wenig Beschwerde gehabt, erst nachdem ich von der Wanderung zurückgekehrt war, fingen sie an aufzuschwellen und zu jucken, und darunter habe ich lange noch gelitten. Alle dagegen angewandten Mittel waren wirkungslos. Das Gift dieses winzigen Insekts ist ein so dauerhaftes wie das in den Haaren der Prozessionsraupe enthaltene, unter dessen Wirkung ich auch vor einigen Jahren wochenlang zu leiden gehabt habe. Ich füge noch hinzu, daß die Blackflies nur im Juni in den Wäldern umherschweben. Zu Ende des Monats verschwinden sie, und an ihre Stelle treten die richtigen Moskitos, die nicht weniger beliebt sind.

Noch am hellen Tage erreichten wir Dorset und betraten schon eine tüchtige Strecke vor dem Ort mit Vergnügen den sauber aus Holzbohlen hergestellten Bürgersteig, der gut erhalten war und augenscheinlich mit seinem außerhalb der Stadt gelegenen Teil als Promenade diente. Wo sollten die Dorseter sonst auch spazieren gehen? Alles ringsherum ist unwirtlicher Wald oder Swamp, und überall rennt man gegen eine Fence an. Auf dem Holzsteige begegneten wir, wozu wohl auch der Sonntag das Seine beitrug, vielen Spaziergängern, die sich alle, nachdem sie an uns vorbeigegangen waren, verwundert nach uns umsahen. Erschiene in Dorset eine Zeitung, so wäre sicher in ihrer Montagabend-Ausgabe zu lesen gewesen: »Gestern abend näherten sich unserem friedlich und nichtsahnend daliegenden Städtchen, anscheinend aus den Wäldern kommend, zwei Individuen von verdächtigem Aussehen. Der eine war, wie sich nachher herausgestellt hat, ein junger Kaufmann aus Toronto, über den wir nichts Ungünstiges in Erfahrung gebracht haben, der andere ein schon mehrfach bestrafter Deutscher, der wohl triftige Ursachen gehabt haben wird, sein Vaterland zu verlassen.«

Dorset ist ein Städtchen halb so groß wie Lagow in der Mark, das die kleinste preußische Stadt ist, und ungefähr ebenso groß wie Baysville, mit dem es gleiche Nahrungsverhältnisse hat. Es liegt am östlichen Ende des großen Lake of bays, der nach Westen und Norden hin sich ausdehnt, und hat auch nach Osten hin Wasserverbindung durch verschiedene Seen, durch die es mit schwimmendem Holz versorgt wird. Es ist ein nettes Städtchen, hat eine kleine Kirche, eine Schule, eine Townhall und ein allerliebstes Gasthaus, das wie die anderen Häuser des Ortes ganz aus Holz gebaut ist. Dort kehrten wir ein und nahmen Nachtquartier, obwohl wir erst sechzehn englische Meilen marschiert waren. Das ist ein kleiner Tagesmarsch, wir konnten aber nicht weiter kommen, weil schwieriges Gelände vor uns lag und wir keine Aussicht hatten, noch vor völliger Dunkelheit eine Herberge zu erreichen. In dem Gasthofe war es unser Erstes, daß wir uns das Blut aus den Gesichtern wuschen. Dann ruhten wir ein wenig, aber nicht lange, denn bald schon scholl durch das Haus die Glocke, die zum Abendbrot rief, das für uns auch Mittagbrot war. Das Menu war für die wilden Wälder glänzend. Es gab gebratenen Speck, gebackene Kartoffeln, konservierten Lachs, einen nicht schlechten Kuchen, Apfelsinenscheiben mit Schlagsahne, eingemachte rote Rüben, Toast und anderes Brot, Butter und Käse. Dazu konnte man Kaffee oder Thee nach Belieben erhalten. Der Wirt hatte auch Bier, solches wird aber zur Mahlzeit nicht gegeben, und da es Sonntag war, so war die Bar überhaupt geschlossen, und bei schwerer Strafe durfte weder Bier noch ein anderes geistiges Getränk verabreicht werden, wenigstens an Ortsangehörige nicht. Zu Gunsten aber von Wanderern, die mehrere Stunden hindurch marschiert sind, läßt das Gesetz eine Ausnahme zu, und so erhielt ich denn nachher in einem besonderen Raume eine Flasche voll eines bierähnlichen Getränkes, das der Wirt mit dem vornehmen Namen Ale bezeichnete. Es war sehr teuer und schmeckte nach Terpentin, hat mir aber sonst nicht geschadet.

Als ich am anderen Morgen vor das Haus trat, hörte ich Gezwitscher von Schwalben. Das klang wie es in der Heimat klingt, und mein Herz wurde bewegt davon. Es ging aber aus von einer amerikanischen Schwalbenart, der Scheunenschwalbe, die im Äußeren unserer Hausschwalbe sehr ähnlich ist. Nachdem ich mich an dem Schwalbengezwitscher erfreut hatte, beobachtete ich eine Zeit lang ein Chipmuck, das mitten auf der Straße sich zu schaffen machte, als ob es in Dorset zu Hause wäre. Dann suchte ich einen Holzarbeiter zum Reparieren meines Regenschirms, dessen Krücke mir in der Hand abgebrochen war, als ich mich beim Abstieg zu einer Quelle auf ihn stützte. Nach einigem Suchen fand ich den Mann, der es übernahm, meinen Schirm wieder heil zu machen und ihn mir nach einer halben Stunde auch mit den Worten übergab, jetzt würde er halten »for ever«. Ach, wie wenig bedeutet »for ever« in dieser Welt! Dann kauften wir noch in einem der Geschäfte von Dorset, in denen, mit Einschluß von Schleifen, Bändern und Rüschen und mit Ausschluß von Ansichtspostkarten, so ziemlich alle Kulturerzeugnisse der Alten Welt zu haben waren, einen Schleier aus grober giftgrüner Gaze, der mich vor den Stichen der Blackflies schützen sollte. Ja, schön beschützt hat er mich! Alsdann brachen wir auf.

Das Ziel des Tages war das Städtchen Minden, und um dorthin zu gelangen, schlugen wir zunächst einen Richtweg ein, der nicht gut zu gehen war. Er führte an einer aus Holz gebauten Wasserleitung entlang, die bestimmt gewesen war, Baumstämme hinunterzuflößen um die Zeit, als dort in der Gegend Holz geschlagen wurde. Das mochte über dreißig Jahre her sein, unterdessen war dies Bauwerk arg zerfallen, ebenso auch der hölzerne Steg, der daran entlang führte, so daß man immer wieder mit den Füßen durch das morsche Holz durchbrach. Auf beiden Seiten des Steges aber war steiniger und sumpfiger Boden. Wir waren froh, als der Bohlensteg endlich aufhörte und wir in geschlossenen Wald und auf festeren Boden kamen. Besonders gut war der Weg darum doch nicht. Es ging bergauf und bergab, und wenn es bergab ging, kam man tief ins Nasse hinein. Solche nassen Stellen waren manchmal auf keine Weise zu umgehen; es half nichts, man mußte hindurch. An einer solchen Stelle zerbrach mir mein Schirm, als ich mich, zum zweitenmal während dieser Wanderfahrt, auf ihn stützte, wieder in der Hand. Da hatte ich nun für die Reparatur einen Quarter – einen Vierteldollar – ausgegeben, und das war »for ever« gewesen. Ich war ärgerlich. Aber warum hatte ich nicht auch statt des unzuverlässigen Schirmes meinen Eichenstock von der Mosel mitgenommen, der schon siebenundzwanzig Schirme überlebt hat! Auch der Schleier aus giftgrüner Gaze bewährte sich nicht. Es gelang den Blackflies darunter zu schlüpfen, und wenn ihnen das gelungen war, erwiesen sie sich um so furchtbarer. Ein Trost auf diesem beschwerlichen Wege waren die schönen Blumen, die wir fanden, darunter eine große Orchidee aus dem Cypripediumgeschlecht, eine gelbe Lilie und eine reizende Kalmia. Auch von niedlichen Tieren war der Wald erfüllt. Auf dem Erdboden hatten unzählige Chipmucks ihr Wesen, und auf den Bäumen sprangen Eichhörnchen umher.

Nachdem wir so drei Stunden etwa gewandert waren, hörte der Richtpfad auf und wir kamen wieder auf breiteren Weg. Wir waren durstig, denn so naß auch der Wald gewesen war, hatten wir doch von dem Sumpfwasser nicht trinken mögen. Aber noch ein Stündchen etwa mußten wir ausharren, da klang uns endlich willkommenes Rauschen ans Ohr. Die Landschaft that sich auf, und vor uns erblickten wir einen Fluß, der mit starkem Gefälle in felsigem Bett dahinschoß. Über ihn führte eine aus rohen Balken gefügte Brücke. Das Erste, was wir thaten, war, daß wir uns auf die Felsplatten des Ufers hinlegten, die Köpfe hinunterbeugten und so wie die Tiere von der kühlen Flut tranken, bis der Durst gelöscht war. Dann ging ich daran, auch meiner äußeren Erscheinung mit Hilfe des Wassers wieder ein wenig aufzuhelfen und machte dabei die unangenehme Entdeckung, daß der grüne Gazeschleier abgefärbt hatte. Auf mein Befragen bestätigte mein Gefährte mir, daß mein Gesicht grün karriert war. O wie schrecklich! Um so schrecklicher, als die Annahme viel für sich hatte, daß der Schleier mit giftigem Schweinfurter Grün gefärbt war. Schaudernd schleuderte ich ihn fort. Dann wusch ich mir mit vieler Mühe Gesicht und Hals im Wasser des Flusses rein. Als mir das gelungen war, legte ich mich im Schatten der Brücke hin, um auszuruhen. Es ist, wenn man sich erschöpft fühlt, nichts besser, als sich platt auf den Boden hinzulegen. Dadurch kommt das Blut, das sich vorher gegen das Herz hin zusammengezogen hat, wieder in regelmäßigen Umlauf, und man gewinnt neue Kräfte. Zuerst hört man noch das Wasser und den Wind rauschen oder hört auch noch eine Vogelstimme, man denkt noch an dies und das, dann verwirren sich die Gedanken und man fühlt, wie das Bewußtsein schwindet. Ehe das aber geschieht, fährt man noch einmal zusammen, und in diesem Moment muß man aufspringen, wenn man nicht viel Zeit übrig hat; denn thut man es nicht, so versinkt man in tiefen Schlaf. Es genügt aber durchaus ein kurzes Ruhen, um wieder zum Wohlbefinden zu gelangen. Also sprang ich auch diesmal nach dem Zusammenzucken auf und machte mich aufs neue marschfertig. Während ich ruhte, hatte mein Reisegefährte eine mitgenommene Angelschnur hervorgeholt und damit eine Forelle gefangen, da wir aber keinen Fischkessel und kein Salz bei uns hatten, mußte sie ins Wasser zurückgeworfen werden. Neugestärkt marschierten wir darauf weiter, bergauf und bergab wieder durch neuen Urwald hin, den alte abgestorbene Urwaldstämme überragten. An einer kleinen Farm kamen wir vorbei, deren Besitzer auf dem neugerodeten Lande hin und her schritt und noch Kartoffeln steckte. Ein wenig spät für die Jahreszeit, dachte ich. Dann sahen wir eine verlassene Ansiedlung, ein verfallenes Blockhaus darauf. Von wie viel Enttäuschung und Kummer konnte dieser Bau wohl erzählen! Gegen Abend aber, als wir vom Morgen an etwas mehr als zwanzig englische Meilen zurückgelegt hatten, kamen wir an eine Stelle, die hieß Petersons Corners.

An der Stelle, die Petersons Corners hieß, stand ein altes Blockhaus und ihm gegenüber am Wege ein halb verfallener Schuppen. Ein Mann war damit beschäftigt, einen kleinen Planwagen in den Schuppen hineinzuschieben, das zu dem Wagen gehörende Pferd stand abgeschirrt dabei. Den Mann redeten wir an und fragten ihn, wie weit es noch bis Minden wäre. »Fünfzehn Meilen,« erwiderte er. »Können wir unterwegs irgendwo unterkommen?« »Nein,« sagte er, als er aber merkte, daß wir nachdenklich wurden, fügte er hinzu: »Ich bleibe die Nacht hier, und wenn Sie wollen, können Sie auch hier übernachten. Der Farmer nimmt gern Leute auf, und es wird noch Platz für Sie da sein.« Wir überlegten eine kurze Weile und entschlossen uns dann dort zu bleiben.

Der Mann, mit dem wir gesprochen hatten, war ein fahrender jüdischer Kleiderhändler, wie es deren mehr dort giebt. Sie fahren in den Wäldern von einer Farm zur anderen und bieten ihre Ware an. Wie unsere Lumpensammler führen sie allerhand Kleinigkeiten mit sich, um Kinder damit zu beschenken, wenn solche im Hause sind. Das trägt zur Erhaltung der Kundschaft bei.

Wir gingen in das Blockhaus und wurden für die Nacht aufgenommen. Das Haus mit der Farm gehörte einem alten irischen Ehepaar. George Armstrong Stanhope nannte der Mann sich. Es waren arme Leute wie die meisten kleinen Farmer in den Wäldern dieses Gebietes. Der Boden trägt nach der Ausrodung des Waldes, wenn er durch die Asche des verbrannten Strauchwerks gedüngt ist, einmal Korn, das nächste Jahr aber schon versagt er. So sind denn diese kleinen Farmer in den Wäldern auf die Viehzucht angewiesen, auch diese aber bringt nicht viel ein, weil das im Walde weidende Vieh klein und mager bleibt. Ein solcher Viehfarmer war unser Wirt. Außer dem Rindvieh besaß er einige Schweine, und Hühner waren auch da. Er war mit seiner Frau seit fünfunddreißig Jahren in Canada und in dieser Zeit, wie er uns nachher erzählte, zweimal Herr und einmal Bettler gewesen. Zur Zeit war er gerade nicht Bettler, aber auch nicht das, was er unter »Herr« verstand. Er besaß achtzig Acres, was hundertdreißig preußischen Morgen entspricht; die wollte er uns gern, wenn wir Begehr danach trügen, für dreihundert Dollars verkaufen. Drinnen im Hause sah es ärmlich genug aus. Dabei entdeckte ich allerhand durch die Zeit schon sehr mitgenommene Zimmerzierden, Bilder, Figürchen, kleine Decken und dergleichen Dinge, die aus der Heimat herstammen mußten und von besseren Tagen sprachen. Und was sehe ich da? Das sind ja die beiden schrecklichen sitzenden Porzellanpintscher mit den Halsketten und den schwarzen Schnauzen, die in der Wohnung unseres Wirtes in Glettkau bei Danzig, des alten Fischers Scheibe, auf der Kommode der Putzstube standen und von mir so viel bewundert und sogar photographisch aufgenommen worden sind. Freilich kam ich schon damals auf den Gedanken, daß sie englisches Fabrikat sein könnten.

An der schmalen Seite des Zimmers stand eine Bank längs der Wand, darauf streckte ich mich aus und gebrauchte meine Reisetasche als Kopfkissen. Das sah die alte Irländerin, ging aus dem Zimmer und kam bald mit einem Kissen zurück, das sie mir unter den Kopf legte. Nach einer halben Stunde war ich wieder munter und ging daran, meine Pflanzen in der Presse zu bergen. Als ich beim Einlegen war, sah die alte Frau mir zu. Plötzlich lief sie hinaus und kehrte nach einem Weilchen mit einem grünen Blatt zurück, das sie vor mich auf den Tisch hinlegte mit den Worten: »Sweet Mary!« Es war ein Blatt der aromatisch duftenden Balsamstaude (Tanacetum Balsamita), die bei uns wie in England von alter Zeit her zu den Pflanzen der Bauerngärten gehört. »Das nennen wir › Maryleaf‹«, sagte ich zu der alten Frau, indem ich ihr so den Namen »Marienblatt«, den die Pflanze in meiner westpreußischen Heimat hat, übersetzte. Darüber freute sie sich. Die Pflanze aber ist genannt nach der Jungfrau Maria. Dann zeigte mir die Alte noch etwas, das sie als Zier- und Ampelpflanze in einem am Fenster hängenden Blechgefäß zog, und sieh, das war wieder unser deutscher Gundermann, der sich seiner langen, im Freien auf dem Boden umherkriechenden Zweige wegen auch für die Ampel eignet. Ground ivy (Erdepheu) ist der englische Name der Pflanze. Ich fragte die Frau, ob sie noch einen anderen Namen dafür wüßte, da lachte sie und sagte: »Wir nennen es ›Creep in, Charley!‹« – das ist »Kriech ein, Karlchen!« auf Deutsch.

Vor dem Abendbrot sah ich mich noch einmal draußen um. Um das Blockhaus herum wuchsen allerhand mir wohlbekannte Unkräuter, Disteln und Kletten, Kreuzkraut und Vogelmiere, Ansiedler, die zu Schiff aus der Alten Welt gekommen sind. Die beiden zuletzt genannten mögen wohl mit Stubenvögeln zusammen als Futter für diese mitgenommen sein. Draußen fand ich weiter ein Würz- und Küchengärtchen, in dem außer der Sweet Mary noch einiges andere, darunter die in England so beliebte Minze wuchs, und einen Obstgarten mit vielen Bäumen, die indessen nur wenig Früchte angesetzt hatten. Wir waren in die Gegend gekommen, in der schon die Strenge des Winters den Obstbau nicht mehr lohnend macht. Nach dem heißen Tage war es draußen um Sonnenuntergang empfindlich kühl geworden. Ich hatte gedacht, das müßte die Blackflies in ihre Schlupfwinkel zurückscheuchen, aber weit gefehlt! Ohne sich etwas überzuziehen, tummelten sie sich immer noch scharenweise herum und trieben mich bald in das Blockhaus zurück, wo unterdessen zum Abendbrot gedeckt worden war. Wir setzten uns zu Tisch mit dem Handelsmann, der außer seinem Englisch auch ein wenig Deutsch sprach. Das Tischgerät war ärmlich, das Essen aber mundete uns wohl. Es gab gebratenen Speck, Eier, Brot und Butter und Thee dazu. Von Zeit zu Zeit sah die Wirtin nach mir, um zu erkunden, ob ich auch ordentlich zulangte, und sie war, wie ich glaube, nicht ganz zufrieden mit mir, denn auf einmal kam sie zu mir mit einem Napf und sagte: »Das ist Sahne und sehr gut zu trinken.« »Dann,« sagte ich, »will ich es trinken,« und ließ mir von ihr ein großes Glas voll einschenken. Darauf setzte ich an und trank. Nein, schmeckte das köstlich! Noch nie in meinem Leben hatte ich so viel davon auf einmal getrunken. Süße Sahne war doch in meiner Kinderzeit etwas, das man sich eigentlich nur auf dem verbotenen Wege des Naschens verschaffte, indem man heimlicherweise eine Brotrinde in das nicht genug verwahrte Sahnen- oder, wie wir sagen, Schmandtöpfchen tauchte und dann – mitunter nach wiederholtem Eintauchen – zum Munde führte. Nachher ist mir süße Sahne fast ganz aus dem Gesicht gekommen.

Wir gingen früh zur Ruhe. In unserer Kammer hing an der Wand ein schon unansehnlich gewordenes Gedenktäfelchen, das mit bunter Seide auf Stramin gestickt die Worte enthielt: »Remember me«! Es hatte etwas Rührendes an sich. Ein Bett war da für zwei Wandersleute zusammen, wie man es in Amerika auch in großen Hotels findet. Mein Gefährte kniete nieder und sprach sein Nachtgebet, dann legten wir uns zu Bett. Ob das Lager hart oder weich war, kann ich nicht sagen, ich wurde aber zuweilen dadurch aufgeweckt, daß mein Schlafgenosse nach mir schlug, weil ihm träumte, daß er von Räubern überfallen wäre. Immer aber, wenn ich erwachte, hörte ich vom Walde her den schwermütigen Ruf des Whippoorwills schallen und mußte an die alten Indianergeschichten denken, die ich in meiner Kinderzeit verschlungen hatte.

Wir waren früh auf am anderen Morgen und wuschen uns hinter dem Hause am Brunnen. Dann ging ich an die Säuberung meiner Kleider, die durch den Marsch des letzten Tages sehr gelitten hatten, aber ich fand, daß da nicht viel zu machen war. Auch durch anhaltendes Reiben war kaum wieder etwas Grund hineinzubringen. Von den Kleidern ging ich zu den Stiefeln über. Wie sahen sie aus! Mit solchen Stiefeln, die so tief in den Swamp gekommen waren, konnte ich auch in einer Gegend, wo kein Mensch mich kannte, mich nicht wieder auf die Wanderung begeben. Da nahm ich sie, trug sie zu dem alten Mann hin und sagte: »Hier ist ein Paar Stiefel. Die Stiefel sehen übel aus. Was machen wir mit den Stiefeln?« Der Mann sah sich das Unglückspaar an und dachte nach. Dann rieb er mit seinen rauhen Händen den ärgsten Schmutz von dem Leder herunter, rief seine Frau und beriet sich mit ihr. Nachdem sie eine Zeit lang miteinander gesprochen hatten, holte die Frau einen Glashafen, in dem sich etwas ölig Glänzendes befand. »Das,« sagte der Mann, indem er mir den Glashafen hinhielt, »ist Schmalz vom wilden Truthahn, und für Stiefel giebt es nichts Besseres auf der Welt.« Mit dem Truthahnschmalz hat er dann meine Stiefel eingeschmiert, und ich muß sagen, daß es ihnen und mir wohlgethan hat. Darauf nahmen wir mit dem Handelsmann zusammen das erste Frühstück ein, das aus gebratenem Speck, Brot, Butter und eingemachten roten Rüben bestand. Dazu gab es das Getränk, das Thee heißt und in den wilden Wäldern wie auch anderwärts aus sehr verschiedenen Kräutern und Unkräutern hergestellt wird.

Ehe wir das Blockhaus verließen, mußte mir der alte Mann noch seinen Namen auf ein Blatt schreiben. Das war so leicht nicht gethan, weil seine Brille nicht sogleich zu finden war und dann erst die Brillengläser geputzt werden mußten. Darauf aber schrieb er in ganz guter Schrift hin: George Armstrong Stanhope. Also zwei berühmte Namen trug er, Armstrong und Stanhope. Berühmte Stanhopes aber hat es mehrere gegeben, nach deren einem, Phillipp Henry Earl of Stanhope, der Präsident der medizinisch-botanischen Gesellschaft in London war, die wundervolle Orchidee Stanhopea insignis benannt worden ist.

Mit herzlichem Händedruck verabschiedeten wir uns von unseren Wirten. Da bat uns im letzten Augenblick noch die Frau, ihr Butter abzukaufen. Mir that es wehe, ihre Bitte abschlagen zu müssen, aber es konnte doch nicht von uns verlangt werden, daß wir uns in der Hitze des Tages außer dem, was wir sonst zu tragen hatten, auch noch mit Butter schleppten.

Wieder durch neuen Urwald bergauf und bergab ging es in südwestlicher Richtung auf Minden zu. Es war ein heißer Tag, aber der Weg wurde allmählich immer besser. Als wir die Hälfte des Weges hinter uns hatten, lagerten wir uns unter einem schattenden Baum, indem wir dem Beispiel der Tiere folgten, deren Weide dort war. In der Nähe sahen wir ein Farmhaus, dorthin ging mein Gefährte, um Wasser für uns zu holen und kehrte bald mit dem Farmer zurück. Sie trugen zwei Eimer, von denen der eine mit Wasser, der andere mit Buttermilch gefüllt war, und brachten auch Trinkgefäße mit. Nun wurde abwechselnd aus beiden Eimern getrunken, und ich weiß nicht, was besser schmeckte, das Wasser oder die Buttermilch. Dabei unterhielten wir uns mit dem Farmer, der wie ein heruntergekommener Räuber aussah, aber, wie ich glaube, ein guter Mensch war. Auch zwei Kinder liefen von der Farm herbei, um uns zu besehen, sie mußten eine sorgsame Mutter haben, so nett und sauber waren sie. Während wir rasteten, kamen des Weges ein Mann zu Pferde und einer in einem Wagen, den er selbst lenkte. Der Reiter war ein Arzt, der im Wagen ein Geistlicher, beide aber machten ein weite Reise, der eine, um Patienten zu besuchen, der andere als Seelsorger im Dienst seiner Kirche. Als sie uns sahen, hielten sie beide an und sprachen eine Zeit lang mit uns. Unterdessen hatte ich den grimmigsten Durst gelöscht, stopfte mir eine Pfeife und zündete sie an. »Wasser und Buttermilch und eine Pfeife Tabak – bessern Lunch giebt es auf der ganzen Welt nicht«, sagte ich zu den beiden Herren. Darin gaben mir beide lachend recht, dann verabschiedeten sie sich von uns und setzten ihren Weg fort. Ehe auch wir aufbrachen, leistete ich dem guten Farmer, der uns erquickt hatte, noch einen kleinen Dienst. Als er bemerkt hatte, daß ich Pflanzen sammelte, sagte er zu mir: »Da oben steht ein Baum, der jetzt blüht. Ich möchte wissen, was das für ein Baum ist und denke, Sie können mir das sagen.« »Das kann sein,« erwiderte ich und stieg mit ihm einen Hügel empor, auf dem der Baum stand, ein kleiner Baum, mit einer Fülle weißer Blütendolden. Ich konnte dem Manne sagen, daß es eine Art des auch in Deutschland vorkommenden Cornus sei, den die Engländer Cornel oder Dogwood nennen.

Am Nachmittag erreichten wir Minden, das ein etwas größerer Ort ist als Baysville und Dorset und eine Art Mittelpunkt für das Holzgeschäft zu sein scheint. Es hat eine hübsche Anzahl von Geschäften, in denen Herren, die aus den Wäldern kommen, sich mit Priemtabak, Brandy, Messern und anderen unentbehrlichen Dingen versehen können. An der Bar des Gasthofes, wo wir einkehrten, fanden wir eine große Zahl von Gentlemen, die mehr oder weniger stark aufgeregt waren. Wir gingen ihnen behutsam aus dem Wege, denn mit diesen Hinterwäldlern ist es ebensowenig gut Kirschen essen als mit den sehr ehrenwerten Danziger »Bowken«. Nachdem wir ein gutes Dinner, bei dem der gebratene Speck nicht fehlte, zu uns genommen hatten, ruhten wir aus. Erst als es etwas kühler geworden war, gegen sieben Uhr abends, machten wir uns wieder auf die Wanderung. Unser Ziel war Gelert, das an der von Haliburton nach Lindsay führenden Bahn liegt, und bis dahin hatten wir etwas über zehn Meilen. Der Weg war gut, und am Wege fand manches Hübsche sich, darunter in Menge und in voller Blüte die anmutreiche und lieblich duftende nordische Linnäa (Linnaea borealis), die zwar auch bei uns vorkommt und sogar nicht weit von Berlin an einer Stelle, die nicht verraten werden darf, aber doch nicht so leicht in so großer Fülle um ihre Blütezeit anzutreffen ist.

Um sehr viel kühlte sich die Luft doch nicht ab, und wir litten ungemein durch die stechenden Insekten, Mücken und Blackflies. Es wuchs aber dort im Walde das auch bei uns so häufige und im Norden der ganzen Welt heimische große Adlerfarnkraut. Davon pflückten wir uns und schlugen damit beständig nach unseren Gesichtern, um die Quälgeister zu verscheuchen. Als es schon halbdunkel war, klopften wir noch einmal an einem Farmhause an und baten um Trinkwasser, das uns gern gereicht wurde. Am Fenster saß eine Frau und hatte ein Kind auf dem Schoß, das mit großen Augen durch das Fensterglas die fremden Männer anstarrte.

Mit Eintritt der Dunkelheit begann ein entzückendes Schauspiel. Überall im Gebüsch leuchteten grüngoldene Sterne auf, verschwanden und glänzten wieder auf, um aufs neue zu verschwinden. Es war dasselbe Licht, das unsere Glühwürmchen verbreiten, nur viel heller. Ich kann diesen Anblick nur mit dem des Meerleuchtens vergleichen, in dem wir nachher auf unserer Rückfahrt nach Europa schwelgten. Ab und zu hörten wir beim Vorübergehen im Waldgebüsch etwas rascheln, und auch der Whippoorwill ließ sich hören. Sonst war alles still.

Wir erreichten Gerlet im Finstern, es mochte zehn Uhr abends sein. Nach dem Wunsch meines Gefährten sollte dort bei einem Geschäftsfreund übernachtet werden. Nachdem wir dessen Wohnung mit vieler Mühe ausfindig gemacht hatten, pochten wir bei ihm an. Einige Zeit währte es, dann öffnete sich die Thüre, und vor uns stand ein Greis im Hemde. Wir hatten ihn aus dem Bett gepocht, er fuhr uns aber deshalb nicht zornig an, sondern begrüßte uns freundlich. Als ich ihn aber sah, sagte ich zu mir: Es giebt heute nichts mehr zu essen. So war es auch. Der Greis wies uns unsere Kammern an, füllte unsere Wasserkrüge, sagte »Gute Nacht!« und verschwand, um ins Bett zurückzusteigen. Nun, sagte ich zu mir, vielleicht schläft es sich noch besser, wenn man nicht den ganzen Magen voll Bratspeck hat, und in der That schlief ich sehr gut.

Am anderen Morgen brachen wir, nachdem wir mit dem Greise und seiner Familie gefrühstückt hatten, wobei wir noch zu unserem Speck kamen, frühzeitig schon nach dem Bahnhof auf und fuhren in zwei Stunden etwa nach Fenelon Falls, an dem reißenden Wasser, das den Camoerons Lake mit dem Sturgeon Lake verbindet. Wir waren damit in den Distrikt der Seen von Kawartha hineingekommen. Fenelon Falls aber ist wieder ein größerer Ort als Minden. Es giebt dort schon großartige Läden und sogar einen Barbier und Haarschneider, den mein Begleiter aufsuchte, während ich in dem Hotel, in dem wir einen kurzen Aufenthalt nahmen, meine Stiefel putzte, nachdem ich mir, was dazu nötig war – von Truthahnschmalz sah ich ab – verschafft hatte. Als ich damit fertig war, machten wir uns wieder auf nach dem Endziel unserer Wanderung zu. Das war Sturgeon Point am Sturgeon-See. Dort sollten wir mit den Unseren zusammentreffen, die am gleichen Tage wie wir Toronto verlassen hatten, um sich zu Verwandten nach Lindsay, das sechzig Meilen von Toronto abliegt, zu begeben und mit dieser Familie, die in Sturgeon Point ein Landhaus besaß, am verabredeten Tage dorthin uns entgegenzufahren. Wir schlugen zunächst einen Fußweg ein, der ein wenig beschwerlich war. Er führte zwar durch ebenes Gelände, doch dieses war mit Steingerölle überstreut, übrigens ganz bewachsen mit niedrigen blühenden Rosen. Nachher kamen wir auf breiteren Weg und erreichten um Mittag Sturgeon Point. Der Dampfer, der die Unseren bringen sollte, war noch nicht da, und das Landhaus fanden wir verschlossen. Als wir noch überlegten, was zu thun sei, gerieten wir in ein Gespräch mit einer Farmerin, die uns, als sie von unserem Schicksal hörte, zum Essen einlud. Gern nahmen wir die freundliche Einladung an. Nach einer halben Stunde nahmen wir bei ihr ein reichliches Mahl ein, dessen Hauptschüssel ein großartiger Pudding war. Die Farmerin aber war eine Blumenfreundin. Vor ihrem Hause standen hübsche Topfpflanzen und auch in Gläsern große Sträuße von wilden Blumen, die sie gepflückt hatte. Davon schenkte sie mir gern, was ich nur haben wollte. Nachdem wir abgegessen und uns bedankt hatten, begaben wir uns nach dem Seeufer und der Villa zurück und stießen dort auf die Unseren, die eben gelandet waren. Die Freude des Wiedersehens war groß, denn ein wenig Besorgnis hatte doch obgewaltet, ob wir wohl überhaupt oder ganz heil zurückkehren würden. Daß es in den wilden Wäldern nicht viel zu essen geben würde, hatte man richtig vorausgesetzt und deshalb aus Lindsay eine Unmenge von Lebensmitteln mitgebracht, aus denen rasch ein köstliches Mahl bereitet wurde. An diesem unserem zweiten Mittagsessen beteiligten wir uns ein Stündchen darauf mit dem besten Appetit. So etwas kann man allerdings nur leisten, wenn man in den wilden Wäldern sechsundachtzig Meilen zu Fuß zurückgelegt und dabei außer gebratenem Speck nicht viel zu essen bekommen hat. Unsere Frauen fanden, daß wir an Aussehen sehr gelitten hatten, sie brachten aber zum Glück einiges mit, wodurch wir wieder etwas verschönert werden konnten. Ich hatte alle Ursache, mit dem Ergebnis unserer Wanderung zufrieden zu sein. Etwa zweihundert Blackflystiche hatte ich davongetragen und an meinem Körpergewicht zwölf englische Pfund verloren, die ich glaubte auf mein Gewinnkonto setzen zu können. Wie viel Schönes war mir vor Augen gekommen! Auch meinen Pflanzenschatz hatte ich bereichert und dabei die Erfahrung gemacht, daß die Botanik in Ländern fremdredender Menschen eine gute Begleiterin ist.


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