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Auf dem Boden des ungeheuren Dominions von Canada, das allerdings zum großen Teil nicht gut zu bewohnen ist, wohnen im ganzen nicht viel mehr als 250 000 Deutsche. Das ist so viel, wie allein in den Vereinigten Staaten in jeder der beiden großen Städte Neuyork und Chicago zu finden sind. In den Landstrichen Kanadas, wo Ackerbau getrieben wird, giebt es viele deutsche Farmer, die besonders wegen ihrer Ausdauer, ihres Fleißes und ihres Geschickes gerühmt werden. Die anderen Deutschen sind über die Städte verstreut, in denen sie im Verhältnis zu der übrigen Einwohnerschaft nur kleine Gemeinden bilden. Eine Ausnahme macht das Städtchen Berlin, das zweiundsechzig englische Meilen von Toronto entfernt liegt, seine Einwohner sind zum größten Teil Deutsche.
Die deutsche Gemeinde von Toronto, das rund 200 000 Einwohner hat, zählt etwa 3000 Mitglieder. In Toronto ist unter den großen Städten Canadas das britische Element am stärksten vertreten. Engländer, Schotten und Irländer, alle drei an Zahl ungefähr einander gleich, bilden im wesentlichen die Bevölkerung der schönen Stadt am Ontariosee. Dazu kommen außer den Deutschen noch etwa zweitausend Franzosen, ein paar hundert Italiener, Russen, Polen und Skandinavier, ein halbes Tausend Neger, ein Schock Chinesen und einige Indianer. Den Chinesen wurde im Sommer 1900 der Boden etwas heiß unter den Füßen, sie fürchteten, es könnte ihnen etwas begegnen. Niemand aber hat daran gedacht sie zu belästigen. Sie ernähren sich friedlich durch Wäscherei, die ihre »Spezialität« ist. Deutsche Hausfrauen in Toronto wollten aber nicht viel von ihnen wissen. Sic verdürben die Wäsche durch Anwendung scharfer Mittel. Das ist charakteristisch für die deutsche Hausfrau im Ausland. Sie ist von Kind auf daran gewöhnt worden, gutes Leinenzeug zu haben und es so lange wie möglich gut zu erhalten. Sie erinnert sich, wie für sie, als sie noch klein war, schon allerhand in Truhen oder Spinde zurückgelegt wurde, und denkt an die bei festlichen Gelegenheiten über die Tafel gebreiteten Tischtücher, die ihre Eltern schon von den Großeltern geerbt hatten. Von dergleichen weiß man selbstverständlich auf der anderen Seite des großen Wassers nichts. Man kauft billig in dem Gedanken, daß es nicht lange zu halten braucht, und wirft, was abgenutzt ist, ohne Bedauern fort. Die Liebe zum Eigentum, wie wir sie haben, ist drüben noch nicht recht aufgegangen.
Italien sendet jedes Jahr eine große Zahl seiner Kinder, die daheim ihr Brot nicht finden, in die Fremde hinaus und über die See. In neuerer Zeit ist die Auswanderung aus Italien nach Nordamerika besonders stark gewesen. In Toronto bestand bis jetzt eine kleine Kolonie von Italienern, durchweg arme Leute, die sich zum größten Teil vom Fruchthandel ernähren. Italienischer Herkunft sind alle, die mit kleinen Wagen voll Bananen durch die Straßen der Stadt fahren. Dann auch sind es Italiener, die sich hier und da mit einem Drehklavier an einer Straßenecke aufgepflanzt haben. Der Mann dreht das Instrument, und daneben steht als Schaustück das arme Weib in italienischer Tracht, die es sonst dort in der kalten Fremde nicht anlegen würde. Häufig haben sie ein Kind bei sich, und einmal sah ich auch ein Paar, das außer dem einen Kinde, das schon stehen konnte, noch ein anderes mit sich führte, das in einem an dem Drehklavier befestigten Kasten lag. Als ich vorüber ging, drehte gerade die Frau das Klavier, während der Mann das kleine Kind auf die andere Seite legte. Das beobachtend, gab ich ihnen wohl ein Teil mehr, als ihr gewöhnliches Honorar beträgt, denn sie sahen mich mit so dankbaren Blicken an, daß ich glaube, sie hätten noch zwei Stunden lang für mich allein musiziert, wenn ich stehen geblieben wäre.
Einem Neger begegnet man in Toronto nicht häufiger als in Berlin. Die Mohren wie die Italiener wohnen in dem Armleutviertel, wohin man sich begeben muß, um sie in größerer Zahl zu sehen. Dort giebt es recht ärmliche Baulichkeiten, aber sein Häuschen für sich hat auch der arme Mann. Bei einem Ausfluge, den wir zu Schiff machten, kamen wir mit einer Negerfamilie zusammen, die ein kleines Kind mitgenommen hatte. Das Kindchen, das bald von Hand zu Hand ging, sah allerliebst aus und war fast so weiß wie ein europäisches Kind aus guter Familie, nur daß es eine schon starke Perücke von rabenschwarzem Wollhaar hatte, obgleich es noch nicht zwei Monat alt war. Von Indianern – ein solcher betrieb in Toronto einen kleinen Straßenhandel – habe ich nur ein paar gesehen, die sämtlich europäisch gekleidet waren. In ihrer Nationaltracht lassen sie sich nur noch für den Bilderhandel photographieren oder nehmen sie mit, wenn sie über den Ozean fahren, um sich in den Hauptstädten Europas gegen Eintrittsgeld zu zeigen. In solchem Falle schaffen sie sich, wie ich vermute, vorher ein sogenanntes Nationalkostüm in einer größeren Kleiderhandlung des fernen Westens an und üben sich bei einem weißen Tanzmeister die Kriegstänze wieder ein, die bei ihnen als Nationalvergnügungen schon lange durch das europäische Kartenspiel verdrängt worden sind. Hübsche Indianerarbeiten, besonders Stickereien, die leider meist nach europäischen Mustern ausgeführt sind, kann man käuflich erhalten, wenn man dergleichen mitnehmen will. An den Niagarafällen aber besteht ein großes Geschäft in dem Verschleiß »echter« Indianerartikel, und ich vermute, daß die Fabriken, in denen diese Artikel hergestellt werden, einen beachtenswerten Gewinn abwerfen.
Was nun die großbritannische Bevölkerung Torontos anbetrifft, so habe ich dort hauptsächlich mit Leuten schottischer Abkunft verkehrt, aus dem Grunde schon, weil meines Schwiegersohns Familie aus Schottland stammt. Dabei erinnerte ich mich daran, daß meine Vaterstadt Danzig früher in mancherlei Beziehung zu Schottland stand. Wir haben dort zwei Vorstädte, Alt- und Neu-Schottland, die von eingewanderten schottischen Leinwebern gegründet worden sind. Auch gehörten die Schotten mit zu den fremden Völkern, die gern Kriegsdienste in der reichen Handelsstadt nahmen. Auf diese Weise sind auch Personen höheren Standes, wie die Gordons z. B., aus Schottland in die Danziger Gegend gekommen. Mit Schotten also habe ich drüben vorzugsweise verkehrt, mit Engländern und Irländern nur gelegentlich. Mir kam es vor, als würden die Irländer von den beiden anderen Landsmannschaften etwas von oben herab angesehen. Man rühmte zwar ihren Witz und ihre gute Laune, sonst aber war man nicht besonders gut auf sie zu sprechen. Gewundert habe ich mich darüber, was für eine Rolle die Irländer drüben als Protestanten spielen, da doch das europäische Irland zu drei Vierteilen katholisch ist. Das protestantische Element des amerikanischen Irlands kam zu Tage am Orange day, der am 12. Juli in Toronto mit großem Pomp begangen wurde. Der eigentliche Oranientag ist der 1. Juli, weil am 1. Juli 1690 Wilhelm der Oranier am Boynefluß in Irland Jakob II. aufs Haupt schlug, wodurch er die englische Krone sich gesichert und den Protestantismus in Großbritannien gerettet hat. Dieser Sieg wird in Canada am 12. Juli gefeiert, vielleicht weil es an diesem Tage schon mehr orangefarbene Blumen giebt als am 1. Juli. Mit solchen Blumen aber schmückt sich dann alles, besonders Feuerlilien sind begehrt. Die Drangemänner feierten den zweihundertzehnten Jahrestag der Schlacht am Boyne mit einem großartigen Aufzug. Jeder der einzelnen Abteilungen schritt ein Musikkorps voran. Dem ersten Musikkorps folgten zahlreiche Wagen mit dem Präsidium, den Ehrengästen und festlich geschmückten Damen. Dann kamen hintereinander marschierend mit Bändern und Blumen geschmückt, mit Bannern, Reitern, Paukenschlägern und Fahnenwerfern, zahlreiche Freimaurerlogen aus der Stadt und der Provinz. Jeder Loge wurde ihr Banner vorausgetragen, und auf der Vorderseite jedes Banners war Wilhelm III. der Oranier in ganzer Figur und in der Haltung des Siegers zu sehen. Auf der Rückseite der Banner befanden sich unter mancherlei Darstellungen auch die Bildnisse berühmter Reformatoren, und es freute mich, auf einem der Banner auch unserem Martin Luther zu begegnen. Unter den Logen befanden sich eine große Anzahl sogenannter Orangelogen. Diese Logen, die am Ende des achtzehnten und am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Irland eine so große Rolle spielten, dann aber unterdrückt wurden, haben es in der Neuen Welt offenbar zu neuer Blüte gebracht. Die ganze Festlichkeit aber hat eine Spitze gegen den Katholizismus und neuerdings auch gegen die katholisierende Richtung der Kirche von England. An dem Festzuge nahmen wohl auch Engländer und Schotten teil, letztere gewiß, denn einigen Häuflein schritten Dudelsackpfeifer voran, die Führung des Zuges aber hatte Irland, das auch den größten Teil der Mitmarschierenden stellte.
Mit den Deutschen in Toronto habe ich erst nach und nach Fühlung gewonnen. Ich habe anfangs gar nicht daran gedacht, daß es in Toronto ein deutsches Konsulat gäbe, und die Zeit meines Aufenthalts dort neigte schon ihrem Ende zu, als der deutsche Konsul, Herr Nordheimer, zu mir schickte und mir in liebenswürdiger Weise Vorwürfe machen ließ, daß ich mich nicht um ihn bekümmert hätte. Ihm wurde dann sogleich der pflichtgemäße Besuch auf seinem schönen Landsitz in Nord-Toronto abgestattet. Damals kannte ich schon eine Anzahl von Deutschen in Toronto und war schon zum Ehrenmitglied der deutschen Liedertafel für die Zeit meines Aufenthaltes ernannt worden. Diese Liedertafel hält die Deutschen in der canadischen Großstadt zusammen und außerdem thut das die deutsche Kirche. Eine deutsch-lutherische Kirche, oder ein Kirchlein vielmehr, existiert seit einer Anzahl von Jahren in Toronto und ist aus freiwilligen Beiträgen der deutschen Gemeinde erbaut worden. Prediger an dieser Kirche ist ein Herr Müller aus Mecklenburg. Zuerst hat er oben im Norden, im Wald- und Seengebiet von Muskoka gepredigt, wo es im Winter böse ist durch den verschneiten Wald zu fahren, dann ist er in die große Stadt gekommen, in der er seitdem wirkt. Mit diesem tüchtigen und liebenswerten Manne und seiner Familie haben ich und meine Reisegefährtin bis zu unserer Abreise von Canada in beständigem Verkehr gestanden, ihn ein paarmal auch Predigen hören und uns gefreut darüber, mit welcher verständigen Schlichtheit er den einfachen Menschen zum Herzen sprach. Er Predigte an den Sonntagen vormittags und abends und hatte eben damit angefangen, ab und zu am Abend in englischer Sprache zu predigen. Das geschah in wohlerwogener Absicht und mit Erfolg. Es ist bekannt, daß die Kirche von England mehr und mehr zum Katholizismus hinneigt, der wie im Mutterlande so auch in Canada schon mit Weihrauch und Heiligenbildern seinen Einzug in die Protestantischen Gotteshäuser gehalten hat. Wenn man einen Geistlichen der Kirche von England auf der Straße sieht, wie er einhergeht in seiner schwarzen Kleidung, den Kopf ein wenig zurückgeworfen und auf der Brust ein goldenes Kreuz, so glaubt man einen katholischen Priester zu sehen. Diese katholisierende Richtung hat ihre Stütze in der Geistlichkeit und in einem Teil der höheren Stände. Es giebt aber im Volk Leute genug, die diesen Rückfall nicht mitzumachen gesonnen sind und deshalb nach einem anderen Anhalt suchen. Unter diesen Umständen hat die lutherische Kirche in England und in den englischen Kolonien Aussichten, Anhänger zu gewinnen, und daraus erklärt sich der starke Besuch, dessen sich das deutsche Kirchlein in Toronto von englischer Seite erfreut.
Eine deutsche Kirche hat Toronto, aber keine deutsche Schule. Eine solche hat früher bestanden, ist aber eingegangen, weil sie nicht genügend unterstützt wurde. Jetzt besteht nur noch eine Sonntagsschule, in der deutsche Kinder Religionsunterricht in der Sprache ihrer Heimat erhalten. Dieser Mangel an deutschen Schulen muß es bewirken, daß das Deutschtum in Toronto, zumal es von dem Mutterlande nur geringen Zufluß noch erhält, allmählich verschwindet. Unter den Deutschen Torontos sind einige Kaufleute, Fabrikanten und ein paar Gelehrte, der größte Teil aber besteht aus Handwerkern, die meist aus Süddeutschland gekommen sind. Sie beherrschen das reine Hochdeutsch nicht und sagen sehr richtig, es habe keinen Nutzen für die Kinder, die Mundart ihrer Eltern zu lernen. Dafür sind ihrer zu wenige da. So geschieht es, daß die erwachsenen Kinder eingewanderter Deutscher nicht mehr Deutsch verstehen. Nur in einigen der gebildeten deutschen Familien wird darauf gehalten, daß im Hause Deutsch gesprochen wird. Dann behalten die Kinder ihre Muttersprache und zugleich lernen sie außerhalb des Hauses Englisch, ohne daß ein besonderer Unterricht darin nötig ist. Das Deutschtum in Toronto wird von dem übermächtigen englischen Element rasch aufgesogen, wie die deutsche Nation vor Zeiten Slawen, Romanen, Holländer und Schotten aufgesogen und, so zu sagen, in sich verarbeitet hat.
Während meines Aufenthalts in Canada ist an mich nie von englischer Seite ein Wort gerichtet worden, durch das ich als Deutscher mich hätte gekränkt fühlen können. Wegwerfende Äußerungen über Deutschland habe ich auf der Reise nur zu hören bekommen von deutschen Landsleuten aus den Vereinigten Staaten, die drüben »Geld gemacht« und ihres Vaterlandes vergessen haben. Das aber habe ich doch gemerkt und von anderer Seite erfahren, daß die Deutschen in Canada etwas über die Achsel angesehen werden. Die Deutschen hätten, so hörte ich, in den ersten Jahren nach ihrem siegreichen Kriege gegen Frankreich in großem Ansehen gestanden. Das hätte etwas nachgelassen mit der Zeit, hauptsächlich deshalb, weil aus Deutschland über die See manche Elemente kamen, die denen, welche von früher her dort angesessen waren, nicht gefielen. Es ist dabei von Bedeutung, daß die in Toronto eingewanderten Deutschen zum größten Teil Handwerker sind. In der vornehmen canadischen Stadt aber hält sich die sogenannte gute Gesellschaft von dem kleinen Mann weit mehr zurück, als das bei uns geschieht, wenigstens in den großen Städten. In den kleinen Städten, namentlich Norddeutschlands, ist es ja auch anders, da wird man es nicht begreifen, daß einer ans »besseren Kreisen«, der etwas auf sich giebt, mit einem Schornsteinfeger oder einem Schuhmacher anders als geschäftlich verkehrt, obgleich man durch den Verkehr mit solchen Leuten mitunter mehr lernen und daran mehr Vergnügen haben kann, als der Umgang mit manchen Personen aus vornehmeren Kreisen zu gewähren im stände ist. Es fiel mir auf, daß man in Toronto beim Einkaufen in einem Laden dem Ladeninhaber oder seinem Bediensteten weder beim Eintreten Guten Tag noch beim Fortgehen Adieu sagt. Ich kenne es nicht anders, als daß es geschieht, von meiner Kindheit her, doch vielleicht ist es auch bei uns nicht überall mehr Gebrauch.
Wenn in Canada über Deutschland nicht besonders günstig geurteilt wird, so liegt das zum nicht geringen Teil darin, daß man über unser Vaterland dort so wenig unterrichtet ist. Es kommen zwar häufig junge Leute von dort herüber zu uns und nehmen auch etwas wieder zurück in ihre Heimat, allzuviel aber nicht. So ist man dort der Meinung, daß wir in Deutschland auf politischem Gebiet und besonders in unserer Meinungsäußerung auf ein außerordentlich geringes Maß von Freiheit beschränkt seien. Von mir, über den einige Gerüchte dorthin gekommen waren, nahm man an, daß ich den größten Teil meines Lebens in ungesund gelegenen Kerkern und Verließen zugebracht hätte. Daraufhin bekam ich eine Äußerung zu hören, die mich nicht verletzte, sondern ungemein heiter stimmte. »Wie muß Ihnen«, sagte einer zu mir, »zu Mute sein hier in dem Lande der Freiheit! Hier können Sie sich hinstellen mitten auf die Yonge Street oder King Street und können auf den Bürgermeister von Toronto schimpfen, so viel Sie wollen. Wenn ein halb Dutzend Policemen oder mehr noch herumstehen, sind Sie doch vollständig sicher, daß Ihnen nichts geschieht.« Darauf erwiderte ich: »Ich weiß nicht, welchen Reiz das Schimpfen auf einen Bürgermeister haben kann, wenn darauf keine Strafe steht. Außerdem habe ich dem Bürgermeister von Toronto nichts vorzuwerfen, und ebensowenig Anlaß hat mir bis jetzt vorgelegen, auf unsere deutschen Bürgermeister zu schimpfen. Man hat ja früher zur Zeit des bekannten Doktor Faust manches an ihnen zu tadeln gefunden, zumal wenn sie noch neu waren, sie sind aber im Lauf der Jahrhunderte immer besser geworden. Und was dann die Freiheit ...« Ich wollte noch sagen: die Freiheit ist eine gute Sache, aber wesentlich kommt es darauf an, was für einen Gebrauch man von ihr macht. Euch ist – wollte ich fortfahren – hier die unbeschränkte Freiheit gegeben, nun sagt, welchen Gebrauch macht ihr von dieser Freiheit? Ihr, die ihr die Macht dazu habt, die ihr im Amte seid oder in der Presse das Wort führt? Das ungefähr wollte ich sagen, behielt es jedoch für mich, weil ich glaubte, ich würde nicht auf genügendes Verständnis treffen. Mir schwebte aber eine Äußerung vor, die ich kurz vorher erst vernommen hatte. »Der Freiheit«, sagte einer zu mir – er sprach aber nicht von Canada, sondern von den Vereinigten Staaten – »erfreuen in unserem Lande sich zwei Arten von Menschen: erstens diejenigen, die sehr viel Geld, zweitens diejenigen, die kein Gewissen haben. Die aber zugleich sehr viel Geld haben und gar kein Gewissen, die genießen hier die meiste Freiheit. Da kommen sie von der Alten Welt herüber, wo ihnen immerzu vorgesagt ist, daß hier die Freiheit wohnt, und suchen sie nun. Aber an der einen Stelle heißt es: hier wohnt sie nicht, an der anderen: sie ist nicht zu Hause, und an der dritten: sie läßt sich nicht sprechen. So gehen sie von Haus zu Haus, um die Freiheit zu suchen, bis sie endlich so ermüdet sind, daß sie zusammenbrechen und liegen bleiben.«
Es versteht sich von selbst, daß auch in Toronto die Deutschen gern mit ihrer Liebhaberei für das Bier, ohne das sie angeblich gar nicht bestehen können, aufgezogen werden, obwohl es gerade in dieser Stadt, in der es eine Reihe englischer Bierbrauereien giebt, an englischen Verehrern des Bieres nicht fehlen kann. Auch von den deutschen Damen geht die Rede, daß sie ein Glas Bier sehr zu schätzen wissen, was aus folgendem Liedchen, das mir zu Gesicht gekommen ist, hervorgeht:
»Zwei beer.«
I was in Berlin, I met her,
She was charming, blond and neat,
We seated in a garden
On a rustic German seat.
She was looking sadly pensive,
And I said: »What it is, dear?«
With a tender look she answered
In a wish low: »Zwei beer.«
Für jemand der mit den Boeren sympathisierte, war es im Sommer 1900 nicht ganz angenehm, in ein englisches Land zu kommen. Ich benahm mich selbstverständlich zurückhaltend, und Zurückhaltung ist auch mir gegenüber beobachtet worden. Mir ist nur in zarter Weise angedeutet worden, es sei bedauerlich, daß Deutschland es mit den Boeren halte. Die Boeren sind ja doch, hieß es, böse Menschen und haben die Eingeborenen in Südafrika so grausam behandelt. Sind sie von den Engländern besser behandelt worden? fragte ich. Doch wenigstens nicht ganz so schlecht! war die Antwort.
Die Ereignisse des Krieges wurden von den Zeitungen und dem Publikum aufs lebhafteste verfolgt. Wiederholt hörte ich äußern, daß durch diesen Krieg der britische Imperialismus in hohem Grade gefördert werde. Das Wort Imperialismus, auf britische Verhältnisse angewendet, klingt uns etwas wunderlich, man muß aber bedenken, daß dabei nicht sowohl an einen imperator oder eine imperatrix, als vielmehr an das imperium Britannicum gedacht wird, an das alle Länder britischer Zunge zusammenfassende Weltreich. In den canadischen Schulbüchern, in denen die Kinder nicht nur mit der Geographie des Landes, sondern – was mir sehr löblich erscheint – auch mit seiner Verfassung bekannt gemacht werden, wird ein starker Ton auf die Unabhängigkeit der Kolonie gelegt. Es wird zwar gesagt, daß die Königin von England, an deren Stelle jetzt der König gesetzt werden wird, oberster Souverän des Landes sei, man fühlt es aber doch durch, daß dieser oberste Souverän etwa so betrachtet wird wie der Ehrenpräsident einer Gesellschaft, der sich gerade deshalb so großer Beliebtheit erfreut, weil er Ehrenpräsident ist und als solcher nichts zu sagen hat. So fanden sich denn auch in allen Schaufenstern der Buch- und Kunstläden die Bildnisse der Königin und des Prinzen von Wales, der als künftiger oberster Souverän dieselbe Verehrung genoß wie seine erlauchte Mutter. Daneben spielten in den Schaufenstern auch die Porträts der englischen Heerführer eine große Rolle und außerdem auf den Krieg sich beziehende Illustrationen, die bewiesen, daß auch auf der anderen Seite des Ozeans die Neu-Ruppiner Malerschule ihre Filialen hat. Recht häßliche Karikaturen auf Oom Paul bekam man zu sehen, der als Affe und als Gerippe dargestellt war, »Empire« war Losungs- und Modewort geworden, und alle möglichen Gegenstände hatte man danach benannt vom feinsten Damenhut bis zum abscheulichsten Tabak. Alle Zeitungen waren voll von Gedichten auf die englischen Helden, besonders auf »unseren Bobbs« und auf die Königin, die immer wieder als Kronenträgerin, als Frau und als Mutter gefeiert wurde. Nach Roberts und nach Baden-Powell waren ein paar neue Hutformen benannt worden. Ein wenig verstimmte es, daß einige der in den Zeitungen veröffentlichten Lieder einen entschieden geschäftlichen Charakter hatten. In einem Gedicht wird ein englischer Soldat geschildert, wie er in Südafrika im Biwak liegt. Im Traum sieht er seine daheim gelassenen Kinder, die gerade beim Zahnen sind, und hört sie wimmern. Das Herz krampft sich ihm zusammen, im Augenblick der höchsten Beängstigung erwacht er, und ihm fällt ein, daß im Hause Dr. Hammond Halls Zahnsirup ist, der den Kindern über alle Schmerzen beim Zahnen hinweg hilft. Von aller Sorge erlöst atmet er auf und reitet in die wilde Feldschlacht, um Wunder der Tapferkeit zu verrichten. Dies Gedicht gehörte übrigens, was die Form anbetrifft, zu den besseren. Überhaupt wird am Ontariosee, was ich gar nicht erwartet hatte, scharf gedichtet. Ich vermute aber, daß es nur im Sommer geschieht und nicht im Winter, der dort sehr kalt ist.
Imperialismus und Lokalpatriotismus kamen in vollem Maße zur Erscheinung bei den öffentlichen Festen, deren ich mehrere anzuschauen bekam. In den Frühling fällt der arbor day, der Baumpflanzungstag, an dem die Schulkinder in den Wald hinausziehen und junge Bäumchen ausgraben, um sie dann auf dem Schulhof oder auf einem öffentlichen Platz einzupflanzen. Diesmal wurde der arbor day am 22. Mai mit dem empire day, dem Kaisertumstag, zusammen gefeiert, wodurch der Aufzug der Kinder eine besonders festliche Gestaltung erhielt. Dann kam am 24. Mai der Geburtstag der Königin. Dazu hatte die Stadt Festschmuck angelegt, und Männlein und Weiblein hatten sich mit Bändern und Fähnchen in den englischen Farben geputzt. Am Vormittag fand im Queenspark Truppenparade statt, der auch der Governor-General nebst seiner Gattin als Zuschauer beiwohnte. Das natürlich nicht sehr zahlreiche Militär nahm sich recht stattlich aus, zumal das Regiment der Highlanders, unter denen sich riesige Gestalten befanden, mit seiner Kapelle von Dudelsackpfeifern. Die Begeisterung erreichte den höchsten Grad, als das » God save the queen!« angestimmt und von dem ganzen versammelten Volk im Chor gesungen wurde. Ich sang eine Strophe mit deutschem Text des »Heil Dir im Siegerkranz«, wodurch ich in meiner Umgebung einiges Befremden erregte und mir eine Verwarnung von seiten meiner Lebensgefährtin zuzog. Bei dieser Feier begegnete mir etwas Unerwartetes. Als ich da stand und den Klängen des Dudelsacks lauschte, den übrigens einer meiner Berliner Freunde sehr gut zu spielen versteht, kam eine junge Miß, in deren Elternhause wir verkehrten, auf mich zu und befestigte auf meinem Rock an der Stelle, unter der mein Herz sitzt, ein englisches Fähnlein. Ich machte – nein, ich kann nicht sagen, daß ich gute Miene zu bösem Spiel machte, denn welch ein Thor wäre ich, wenn ich in solchem Fall von bösem Spiel reden wollte! Ich trug das Fähnlein ruhig, bis ich wieder ins Haus trat, muß aber doch sagen, daß ich etwas wie Brennen an der Stelle verspürte, wo es angenestelt war.
Am Abend fand im Cirkus auf der Insel im Ontariosee ein patriotisches Zauberfest statt. Es wurden Gesänge vorgetragen, und auf eine große Leinewand, die leider nicht stillhielt, sondern lebhaft flatterte, durch ein Skioptikon sogenannte lebende photographische Bilder geworfen, die meist Scenen aus dem Transvaalkriege darstellten. Dann folgte eine etwas langgezogene und ein wenig zu kindliche Pantomime, den Triumph englischer Waffen in Südafrika darstellend. Besonderen Beifall erregte darin ein Trupp gefangener und an ihrer Sache verzweifelnder Boeren. Den Schluß bildete ein Feuerwerk, in dem die Helden von Transvaal und ihre Königin im Brillantfeuer hervortraten. Das alles war amüsant anzusehen, anzuhören aber war etwas nicht gut: die Beifallsbezeigungen, die in diesem Lande in gellendem Gepfeife bestehen. Was bei uns als Zeichen des Mißfallens gilt, ist dort das Zeichen des Beifalls und entsetzlich anzuhören. Meist sind es halberwachsene Jünglinge, von denen es ausgeht. In einem Roman von Boz muß ein junger Mensch vorkommen, der der »schrille Junge« genannt wird. An den mußte ich dabei immer denken. Beim Zeus, auch ein nur mäßig musikalisch veranlagtes Volk könnte diese schrillen Jungen nicht anhören, ohne sie zum Zweck der Auszahlung des durch ihre Leistungen wohlverdienten Honorares zu greifen und mit der Rückseite nach oben auf eine Bank zu legen.
Am 30. Mai gegen Mitternacht kam nach Toronto die telegraphische Nachricht von der Einnahme Pretorias und erregte einen stürmischen Ausbruch patriotischen Jubels, der bis zum Abend des nächsten Tages anhielt. In der Nacht schon kam alles auf die Straße gestürzt, Ladies darunter in Nachtkostüm, mit allen möglichen und unmöglichen Instrumenten wurde Musik gemacht, und auf der Yonge Street zündete man fünf gewaltige Freudenfeuer an. Ich habe davon nichts gesehen, sondern nur gehört, denn ich machte um diese Zeit einen Ausflug auf dem Lorenzstrom, und als ich am 31. Mai nach Montreal kam, fand ich diese zum größten Teil französische Stadt in tiefster Ruhe. Zu einem Herrn, der mir nachher in Toronto von dem Siegesjubel erzählte, konnte ich nicht umhin zu sagen: ein solches Triumphgeschrei über einen Sieg, der von einer Weltmacht mit Aufbietung aller ihrer Kräfte über ein kleines Volk, das seine Freiheit verteidigt, endlich davongetragen ist, zeugt doch nicht von Nationalstolz. »Sie bedenken nicht,« war die freimütige Antwort, »wie groß die Sorge gewesen ist, daß es schief gehen könnte.« Das war wohl richtig bemerkt und dazu kam, wie ich glaube, noch etwas anderes. Dieser Krieg, an dem Kanada durch Absendung zahlreicher Freiwilliger ebenfalls teilnahm, war in dem Lande, in dem im ganzen sehr wenig Geist und Gemüt Erregendes vor sich geht, und in dem die geschäftlichen Interessen so stark vorherrschen, nach langer Zeit wieder einmal eine Thatsache, wodurch »die Leere der Stunden« ausgefüllt und »das ermüdende Gleichmaß der Tage« erträglich gemacht wurde. Dafür sorgen in ruhiger Zeit die Zeitungen doch nicht genug, so groß sie auch sind und so viel sie auch bringen. Es sind ihrer in Toronto fünf englische, eine deutsche giebt es nicht außer einem religiösen Sonntagsblättchen, das der Pastor Müller herausgiebt. Die politischen Zeitungen unterscheiden sich nicht wesentlich in ihrer Einrichtung von denen der Vereinigten Staaten: man muß sie mit Vorsicht lesen, um zu unterscheiden zwischen dem was einfache Nachricht und was Geschäftsreklame ist, denn von dieser sind alle Spalten der umfangreichen Blätter von der ersten bis zur letzten Seite durchrankt. Sie ist auch am Ontariosee schon zu hoher Blüte gekommen. In den Händen eines kleinen Kindes fand ich ein aus würfelförmigen Holzklötzchen bestehendes Spiel, das zum Kennenlernen der Buchstaben bestimmt war. Auf jeder Seite eines jeden Würfels befand sich ein großer Buchstabe, der zugleich Anfangsbuchstabe einer darauf gedruckten Geschäftsfirma der Stadt war. So lernte das Kind die Buchstaben kennen und zugleich, wo es Kleider, Schuhe, Senf, Whisky, Zahnsirup, Sunlightsoap, Castoria, Sarsaparilla und anderes mehr zu seiner Kleidung, Ernährung und Gesunderhaltung bekommen konnte, wenn die Eltern ausgegangen wären und die berühmte Francis anderweit in Anspruch genommen. Dies Kinderspielzeug und eine Hummerbüchse, die auf der einen Seite mit Bibelsprüchen für die Frommen, auf der anderen mit derben Späßen für die Gottlosen verziert war, erschien mir als Höchstes auf dem Gebiet geschäftlicher Empfehlungskunst.