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Im Hafen von Toronto lag der kleine Fracht- und Personendampfer »Persia«, gerüstet zur Fahrt über den Ontariosee und dann weiter den Lorenzstrom hinunter nach Montreal. Um diese Fahrt mitzumachen, hatte ich mich mit Frau und Tochter rechtzeitig auf dem Schiff eingefunden, ehe es aber losging, hatten wir eine harte Geduldprobe zu bestehen. Um 2½ Uhr nachmittags sollte die Abfahrt stattfinden, aber Stunde um Stunde verging, ohne daß die »Persia« sich in Bewegung setzte. Es war ein sonniger Tag gegen Ende des Monats Mai, dabei wehte ein lebhafter Westwind, und da das Fahrzeug wenig Ladung hatte und daher hoch aus dem Wasser herausstand, getraute sich der Kapitän, der ein vorsichtiger Mann war, nicht, abzufahren. Er fürchtete, die »Persia« könnte von den Wellen umgeworfen werden und kentern. Von stärkerer Bewegung des Wassers war, da der Wind vom Lande kam, im Hafen nichts zu spüren, man konnte aber auch mit bloßen Augen sehen, wie an dem Steindamm der im See der Stadt gegenüberliegenden Insel die Wellen mit großer Gewalt aufschlugen, so daß der im Sonnenlicht blinkende schneeweiße Schaum hoch in die Luft geschleudert wurde.
Als es aber zum Abend ging und der Kapitän immer noch mit der Abfahrt zögerte, wurde der Wind es müde, sich mit ihm herumzustreiten und legte sich schlafen. Wir hatten das Dinner, das auf dem Schiff um 7 Uhr eingenommen wurde, schon hinter uns, als wir an dem Arbeiten der Maschine merkten, daß die »Persia« in Fahrt war. Das geschah um 10½ Uhr abends. Es war also Zeit genug gewesen, um sich auf dem Schiffe umzusehen, ehe es vom Lande abfuhr. Die »Persia« und der »Ocean« sind die beiden Dampfer, die abwechselnd den Verkehr zu Wasser zwischen Toronto und Montreal besorgen, jeder von ihnen fährt einmal in der Woche hin und her. Was die »Persia« betrifft, so bin ich der Meinung, daß man ihr dreist sein eigenes und der Seinen Leben anvertrauen kann. Sie hat aber mit der »Zufriedenheit«, die in Westpreußen den Verkehr zwischen Danzig und Heubude vermittelt, und mit der »Emilie«, die in Ostpreußen zwischen Saalfeld und Osterode hin und her fährt, das gemein, daß sie für Vergnügungsreisende, die gern unter freiem Himmel sitzen, nicht sehr bequem angelegt ist. Für sie ist nur vorn und hinten auf dem Schiff eine bescheidene Anzahl von Plätzen vorhanden. Von vorn nach hinten aber oder von hinten nach vorn führt auf jeder Seite zwischen Schiffsbord und Kajütenbau ein schmaler Gang, auf dem zwei Personen einander nicht leicht ausweichen können. Außerdem giebt es im Freien noch ein paar Plätze auf dem Sonnendeck. Das allerdings hat die »Persia« vor der »Emilie« und der »Zufriedenheit« voraus, daß sie einen netten Salon und ein geräumiges Speisezimmer besitzt. Dagegen herrschte in den zweibettigen Kabinen große Engigkeit. In das obere Bett hineinzukommen, erforderte die Kletterkunst mindestens einer Katze, denn eine Leiter war nicht vorhanden.
Im Speisezimmer hingen ein paar Käfige mit Harzer Kanarienvögeln, die – wenn ich nicht irre, waren es »Klingelroller mit Hohlpfeifen« – so lustig und so unermüdlich ihre Weisen schmetterten, als wären sie in dem traulichen Andreasberg. Im Salon stand ein Klavier, dessen meiste Tasten noch angaben. Am Abend wurden darauf mitunter Stücke gespielt, bei denen man immer im Zweifel blieb, ob es Schelmenlieder oder Hymnen waren. Dazu wurde mitunter auch gesungen, ohne daß man an dem Gesang Freude haben konnte. Das begreift sich leicht, wenn man bedenkt, daß die Vögel – so heißt es ja doch – »der Menschen Singemeister« gewesen sind, daß es aber in Amerika eigentlich keine Vögel giebt, die im stande wären, guten Gesangsunterricht zu geben.
Die Verpflegung der Fahrgäste auf der »Persia« besorgte eine Wirtschafterin oder Küchenmeisterin, der einige jüngere Personen weiblichen Geschlechts als Gehilfinnen zur Seite standen. In Bezug auf diese Verpflegung gab ich am zweiten Tage schon der »Persia« den Namen »Hunger und Durstschiff«. Es gab drei Mahlzeiten im Laufe eines Tages an Bord: das erste Frühstück um 8 Uhr, das zweite Frühstück um 1 Uhr und um 7 Uhr das Dinner. Wenn ich zum zweiten Frühstück oder »Lunch« kam und meinen Blick über die Tafel schweifen ließ, dann sagte ich zu mir, daß ich mit meinen zwei Söhnen, die sich allerdings im eßlustigsten Alter befinden, allein wohl mit diesem ganzen, für drei Dutzend Menschen bestimmten Aufbau fertig werden möchte. Ganz leicht wäre es uns freilich deshalb nicht geworden, weil die auf den Schüsseln liegenden Fleischstückchen ein wenig zu groß waren, um sich mit einem Mal hinunterschlucken zu lassen, und zugleich durch ihre Zähigkeit dem Zerschneiden und Zerbeißen erhebliche Schwierigkeiten entgegenstellten. Ein »Durstschiff« habe ich die »Persia« vielleicht mit Unrecht genannt, kann diesen Ausdruck aber trotzdem nicht zurücknehmen. Zu verdursten brauchte man auf der »Persia« nicht, es gab nach Belieben bei jeder Mahlzeit Kaffee oder Thee, außerdem Wasser, soviel man haben wollte, und Wasser auch in den Zwischenzeiten. Nun schätze ich das Wasser auch als Getränk sehr hoch; trotzdem muß ich sagen, daß mich manchmal während der Fahrt auf der »Persia« das Verlangen nach einem kühlen Glase Bier ankam, besonders wenn wir eine Stadt passierten und dabei an einem mit der deutlich erkennbaren Aufschrift »Brewery« bezeichneten Gebäude vorbeikamen, vor dem zahllose Fässer aufgestapelt lagen. Nein, ein derartiges Getränk gab es auf dem Temperenzlerschiff nicht, der Kapitän besaß keine Lizenz zum Ausschank geistiger Getränke, und als ich mich bei ihm arglos nach dem Bierausschank an Bord erkundigte, erhielt ich von ihm nichts als einen Blick, in dem ich zu lesen glaubte: »Ein Verlorener!«
Die Nacht durch fuhren wir über den Ontariosee. Als wir am Morgen auf Deck kamen, sahen wir Land, das zum nordöstlichen Ufer des Sees gehörte, und näherten uns der Einfahrt in den Lorenzstrom, Noch am Vormittag legten wir bei Kingston an, das da liegt, wo der Lorenzstrom als Ausfluß der fünf großen Seen beginnt. Am 10. Mai 1841 kam Dickens auf seiner ersten amerikanischen Reise, die er in den » American notes« beschrieben hat, auch von Toronto her nach Kingston, das er ein sehr armes Städtchen nennt, noch ärmer, als es schon war, durch eine Feuersbrunst geworden, die darin gewütet hatte. Als einziges Gebäude von Bedeutung führt er das Regierungsgebäude an, das indessen weder äußerlich elegant noch auch bequem eingerichtet sei. Jetzt ist Kingston ein ansehnlicher Handelsplatz von 20 000 Einwohnern, besitzt verschiedene Fabriken und außer dem Gouvernementshause noch eine Anzahl bedeutender Gebäude, schön aber erscheint es vom Wasser aus gesehen auch jetzt noch nicht.
Nachdem wir Kingston verlassen hatten, ging es den Strom hinab, der nach dem heiligen Laurentius benannt ist. Im Jahre 1535 fuhr der französische Seefahrer Jacques Cartier am 10. August in den Meerbusen ein, in den der gewaltige Strom sich ergießt, und benannte Meerbusen und Strom nach dem Kalenderheiligen des Tages, dem Laurentius, der nach der Legende unter Valerian in Rom lebendig verbrannt worden ist. Cartier fuhr den Strom hinauf und fand da, wo jetzt Montreal steht, am Fuß eines bewaldeten Berges, ein Indianerdorf, das Hochelaga hieß. Den Berg nannte Cartier dem Könige Franz I. zu Ehren Mont Royal, davon hat nachher die Stadt Montreal, zu deutsch Königsberg, ihren Namen bekommen.
Der Lorenzstrom macht nicht den Eindruck des außerordentlich breiten Gewässers, das er doch ist, wenigstens nicht bis Montreal hin, weil er weithin von Inseln bedeckt ist. Gleich hinter Kingston kommt man in das Gebiet der »Tausend Inseln« hinein. Dabei ist Tausend zu nehmen in der Bedeutung von »sehr viel«, denn es sind weit mehr als tausend. Ihrer 1692 sollen es sein, ich selbst aber habe nicht nachgezählt. Zwischen diesen Inseln müssen sich auf verschiedenen Kanälen die Fahrzeuge lange Zeit durchwinden, es ist, um ein altmodisch gewordenes Wort zu gebrauchen, ein »Irrgarten« im Wasser. In Bezug auf den Umfang der Inseln herrscht die größte Mannigfaltigkeit. Ein Teil der kleinsten besteht nur aus nacktem Fels, die anderen, von den ganz kleinen bis zu denen von ansehnlicher Größe, sind mehr oder minder bewaldet, mit Laub- und Nadelholz von verschiedener Art. Auf nicht wenigen dieser Inseln, zumal in der Nähe größerer Ortschaften, sind hübsche Landhäuser mit Gärten zu sehen, auf einigen auch Hotels. Die Fahrt durch diese Inselwelt war entzückend, ein reizendes Landschaftsbild nach dem anderen bot sich den Blicken dar. Wir kamen vorüber an Round Island und an Thousand Island Park, zwei Punkten, die viel von Ausflüglern besucht werden. Beide haben große Gasthäuser. So fuhren wir zwischen den Eilanden hin in die Dämmerung hinein. Es war schon dunkel geworden, als wir in Brockville anlegten und nicht lange darauf in Prescott. Im sicheren Hafen von Prescott blieb die »Persia« mit uns zur Nacht. Das riet dem Kapitän seine Vorsicht, denn hinter Prescott fangen die Stromschnellen oder Rapids an.
In dem Bereich dieser Stromschnellen befanden wir uns schon, als wir zuerst am anderen Morgen von Bord aus um uns sahen. Zu Dickens' Zeit noch fuhren die Schiffe über die Stromschnellen hinweg, und das war eine nicht ganz ungefährliche Sache. Seitdem sind Kanäle angelegt worden, mit deren Hilfe die schlimmsten Rapids umgangen werden. Mittels Schleusen gelangt man in die Kanäle und ebenso wieder aus ihnen hinaus. Solcher für die Schiffahrt auf dem Lorenzstrom sehr nützlicher Wasserstraßen, deren Ausführung viel gekostet haben muß, giebt es jetzt sechs oder sieben vielmehr, denn eine Strecke weit geht ein Kanal auf dem rechten Ufer sowohl wie auf dem linken; auf dem linken befinden sich alle anderen. Von diesen Kanälen ist der längste der Soulange-Kanal, der zur Zeit unserer Reise eben erst fahrbar geworden, aber noch nicht ganz fertig war. Seine Länge beträgt sechs englische Meilen. Wo er anfängt, stand rechts und links schon ein Gasthaus, und das zur rechten Hand, ein überaus bescheidenes Häuschen, hatte sich den stolzen Namen »Central-Hotel« beigelegt. Alle diese Kanäle laufen unweit des Ufers hin und vom Deck des Schiffes aus konnten wir immer die schäumend aufspritzenden Wogen sehen, die durch starkes Gefälle und unter dem Wasser aufragende Klippen hervorgerufen werden. Als wir am Nachmittag aus dem Soulange-Kanal herauskamen, bemerkten wir auf dem ziemlich inselfreien und breiten Strom, der jetzt fast wie ein Meer aussah, ein winziges Dampfschifflein, das augenscheinlich nach jemand suchte. Es war, wie sich bald herausstellte, die »Mary of Sarnia« – Sarnia ist ein Städtchen am Flusse St. Claire, unweit seiner Mündung in den Huronensee gelegen – und wonach die Marie suchte, das waren wir, d. h. die »Persia«. Nachdem sie uns gefunden hatte, spannte sie sich uns vor und führte uns glücklich, wie ein altes kleines Kindermädchen ein großes hilfloses Kind führt, durch ein weites klippenreiches Gewässer, in dem es an verschiedenen Stellen sehr verdächtig aufschäumte, nach Lachine. Dort stiegen wir aus, d. h. ich mit meinen beiden Begleiterinnen. Zwischen Lachine und Montreal befinden sich die gefährlichsten aller Rapids, die der gewöhnliche Fracht- und Personendampfer auf einem Kanal umgeht. Diese Rapids aber werden trotz ihrer Gefährlichkeit von Lachine aus mit einem eigens dazu gebauten Schiff, der »Sovereign«, befahren und mit der »Sovereign« wollten wir auch die so viel Vergnügen versprechende Fahrt machen.
Lachine, dem gegenüber das Indianerdorf Caughnawagas liegt, ist ein kleines, aber hübsches Städtchen. Wir erstanden dort etwas an Lebensmitteln, deren wir bedürftig waren, und warfen durch die offene Thür eines Hauses einen Blick in die Plättstube einer chinesischen Waschanstalt. Sie erinnerte etwas an Berliner Anstalten der Art, nur daß statt der netten Mädchen, die wir bei uns an solchen Orten hantieren zu sehen gewohnt sind, bezopfte Söhne des himmlischen Reiches das Bügeleisen führten. An der Landungsstelle wartete schon ein zahlreiches Publikum, viel katholische Geistlichkeit darunter, auf das Schiff. Die »Sovereign« ist ein elegantes Fahrzeug, und auf dem Deck sitzt man zusammen wie in großer Gesellschaft, die einen Vortrag oder eine Aufführung erwartet. Das Erwartete kommt dann bald. Man sieht zuerst in der Ferne die Wellen miteinander kämpfen, gegeneinander aufbrausen und schäumen, nicht lange aber dauert es, dann ist man mitten darin. Was dann um einen herum vorgeht, läßt sich nicht schildern. Es fallen einem die Worte aus Schillers »Taucher« ein:
»Und es wallet und siedet und brauset und zischt,
Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt,
Bis zum Himmel spritzet der dampfende Gischt,
Und Well' auf Well' sich ohn' Ende drängt.«
Aber darin allein nicht, wie Welle auf Welle sich drängt, sondern darin, wie sich die Wellen durcheinander drängen, besteht das Furchtbare dieses Schauspiels. Um etwas Ähnliches zu sehen, muß man schon auf das Meer hinausgehen, wenn ein heftiger Sturm es aufrührt. Zwischen den durcheinander tosenden Wellen sehen scharfe Klippen heraus. Das macht die Sache etwas unbehaglich, und ich glaube, daß manchem, der zum erstenmal diese Fahrt macht, trotz aller Versicherungen der Ungefährlichkeit doch ein wenig bange ums Herz wird. Für Dickens hatte in Lachine die Wasserfahrt aufgehört, er begab sich zu Lande nach Montreal. Mich wundert das, weil der die Stromschnellen von Lachine umgehende Kanal damals schon existierte.
Als wir den Rapids nahe kamen, gesellte sich dem Kapitän auf der Kommandobrücke ein Lotse hinzu. Es wird erzählt, daß die Weißen von den Indianern gelernt haben, durch die Stromschnellen zu kommen, und daß auch, als die Weißen schon mit Dampfbooten den Lorenzstrom hinabfuhren, immer noch ein Indianer ihnen durch die Rapids hindurchhalf. Auf der »Sovereign« selbst hörten wir noch, der Mann, der als Lotse oben neben dem Kapitän stand, wäre ein Indianer. Darauf hin sah ich ihn mir an, muß aber sagen, daß er den Eindruck eines Indianers nicht machte. Er sah vielmehr aus wie ein Franzose und wird wohl auch ein solcher gewesen sein. Solche Mythen wie diese von dem Irokesen oder Huronen, der das Prachtschiff der verhaßten Weißen mit all den schönen geputzten Frauen darauf leicht könnte an einem Riff in Stücke zerspringen lassen, es aber großmütig durch den Strudel hindurchführt, werden sorgfältig erhalten und ihres poetischen Gehalts wegen von den Reisenden gern gehört.
Nachdem wir diesen Hauptstrudel des Lorenzstromes, der sicher dem in der Donau bei Regensburg mindestens gleichkommt, hinter uns hatten, gelangten wir wieder in stilleres Wasser, fuhren unter der gewaltigen Victoria-Jubiläums-Brücke durch und landeten in Montreal. Es war uns nicht unlieb, die Wasserfahrt beendet zu haben, so genußreich sie auch gewesen war. Wenn man von einem Schiffe wieder aufs Land tritt, hat man doch immer etwas von dem Gefühl, aus der Gefangenschaft in die Freiheit zu kommen.