Ludwig Winder
Die nachgeholten Freuden
Ludwig Winder

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Übermächtig war die Lockung, nur wenige Tage konnte der Lehrer ihr widerstehen. Wenige Tage hatten alles verändert, die Stadt war verzaubert. Die Alten, die vier Jahre lang Tag für Tag um acht Uhr morgens zur Post gelaufen waren, um dem Briefträger, bevor er seinen Weg begann, einen Feldpostbrief zu entreißen, saßen selig schmatzend am Frühstückstisch. Es gab wieder Milch, man ließ aus dem nächsten Dorf täglich Milch holen, man konnte sich's leisten. Es gab wieder Tabak, der Ober des Grand Hotel ging von Haus zu Haus, in einem großen Reisekoffer hatte er Zigaretten, Hunderte, Tausende, nur im ersten Augenblick erschrak man vor den geforderten Wucherpreisen, dann kaufte man zwei Stück, nein, geben Sie gleich zehn Stück, geben Sie hundert Stück, hier ist das Geld! Heimlich ging man zum Bäcker, zum Fleischer, bot freiwillig hohe Preise, bekam ein Stück Schweinefleisch, fetten Schinken, nicht mehr die winzigen schlechten Stücke, auf die man sich nach der Fleischkarte zu beschränken hatte, man berauschte sich an dem Duft des ungewohnten Bratens. Einige Tage später, als die Preise in Boran phantastische Höhen erreicht hatten, fuhr man in die nächsten Ortschaften, meilenweit wußte man, wenn jemand ohne Fleischkarte, ohne Brotkarte Einkäufe besorgte: »Leute aus Boran.« Die Satten schraken aus dem Schlaf: Mein Mann, mein Sohn, heute hab' ich kaum an ihn gedacht, da lieg' ich mit vollem Bauch, und er, er liegt im 91 Schützengraben.« Aber dann stand man auf und ging in die Speisekammer und schnupperte, roch, da lag ein Stück Schinken, ein Stück Speck, ein Sack Mehl und frisches, frisches Brot, man konnte nicht mehr denken an den Schützengraben. Sie liegen ja ruhig in ihren Unterständen, tröstete man sich, es wird nicht mehr so hitzig gekämpft wie in den ersten Kriegsjahren, der Krieg erschöpft sich von selbst, man ist müde auf beiden Seiten, allmählich wird fast unmerklich der Krieg in einen erträglichen halben Frieden übergehen, anders kann es nicht enden.

Immer hatte man geglaubt, das Elend werde selbst nach dem Krieg jahrelang fortdauern. Und nun änderte der Mann Dupic die Welt mit einem Schlag. Die Welt begann beim ersten Haus von Boran, ihr Ende war beim letzten Haus von Boran, was außerhalb dieser Welt lag, war unrettbar verloren, ob nah, ob fern, zu helfen war keinem, nicht den Gatten, nicht den Söhnen, schließen wir die Augen und füllen wir unsere Bäuche! Wie war das alles unbegreiflich! Wer hatte diesen Mann Dupic gesandt? War er gottgesandt, gotterfüllt, hatte Gott ihm befohlen, den ärmsten, verstecktesten Ort Boran zu suchen und dort zu künden, daß Gott noch lebte? War ein Engel des Herrn dem Mann Dupic erschienen in einer Feuerwolke, in weißem Traumnebel einer heiligen Nacht, mit dem göttlichen Auftrag, die kleine Stadt Boran zu erretten? Hatte die Jungfrau Maria den Mann Dupic begnadet, ein Wunder zu tun? Er sieht nicht wie ein Heiliger aus, dachten die heimlich Beglückten, er sieht eher wie der Teufel aus, dachten die heimlich Bedrückten, hart 92 glänzt sein Auge, nicht liebreich ist seine Hand, die gibt, wer ist dieser Mann Dupic? Aber niemand sagte es, keiner hatte Ursache, den Mann Dupic eines unedlen Motivs zu verdächtigen, keinen wies er ab, keinen enttäuschte er, alle Börsen füllte er, von keinem nahm er einen Heller Zinsen, zu Ende war alle Not. Nur der Tag der Rückzahlung wurde vereinbart, sonst nichts. Zwei Monate, drei Monate, vier Monate hatte man Zeit, an die Rückzahlung zu denken, unermeßliche Zeit, denn bisher war ein Tag unermeßlich lang gewesen, vierundzwanzig Stunden des Hungers, der Verzweiflung, der stillen Raserei, endlos jede Nacht, verbracht im Knäuel der demütig Wartenden an der Bäckertür, im Kot des stinkenden Weltuntergangs.

Jeden Abend addierte Dupic, nachdem der letzte Bittsteller gegangen war, alle bisher ausgegebenen Beträge. Stattlich wuchs die Liste der Schuldner. Heimlich suchten sie Dupic auf, im Dunkel der Nacht, den Hut tief ins Gesicht gedrückt, aber jeder wußte von jedem, wann es geschehen war. Nach zwei Wochen stellte Dupic fest: Alles zusammen ergab einen Betrag, den er mit einem Telephongespräch verdiente. Er saß täglich eine Viertelstunde am Telephon, in dieser Viertelstunde gab er die Route an, die sein Geld zu nehmen hatte, in dieser Viertelstunde erfuhr er alles Wissenswerte über die nächste Zukunft Europas, diktierte Aufträge, die unverständlich, ja unsinnig schienen. Wochen oder Monate später entpuppten sie sich als Taten der Hellhörigkeit, als Prophetie.

Am 1. September um zehn Uhr abends ging Lehrer Buxbaum zu Dupic. Mittags hatte Elsa das Gehalt des 93 Vaters, das Wirtschaftsgeld für den September, übernommen, da war es zu einer stummen Aussprache gekommen. Wie lange konnte man mit diesem Geld auskommen? Die Preise waren in den letzten Tagen so unerhört gestiegen, daß die beste Einteilung versagen mußte.

Man kannte den Grund, stumm fragte der Vater: Was nun? Alle gehen zu Dupic, soll ich nicht auch gehen? Wer ist ärmer als wir? Elsa verneinte stumm, der Vater senkte die Stirn vor ihrem heroischen Blick. Er war bereits entschlossen. Er machte sich nichts vor, er gestand sich ein, was ihn zu Dupic trieb, nicht nur der Gedanke an Elsas Mantel, an Elsas Blutarmut, nein, an sich selbst dachte er, einmal wollte er sich sattessen, einmal nach Jahren wieder wissen, wie es ist, wenn man satt ist und satt eine gute Zigarre raucht. Natürlich wird man das Geld hauptsächlich zu Elsas Wohl verwenden, natürlich wird man vor allem trachten, sie wieder in die Höhe zu bringen, was übrigbleibt, wird zur Erneuerung ihrer Garderobe dienen, aber – der Lehrer sprach es still vor sich hin, als er zu Dupic ging –: Mich treibt mein Bauch, mich treibt mein Bauch. Während er den Marktplatz überquerte und sich den Satz zurechtlegte, den er zu sagen hatte – »Herr Dupic, die Verhältnisse nötigen mich, von Ihrem so freundlichen Anerbieten Gebrauch zu machen« – (ein einfacher Satz, aber wie wird es möglich sein, ihn auszusprechen, der Satz klingt plötzlich, als wäre es eine fremde, unerlernbare Sprache) – während er sich dem Hause näherte und sich scheu umblickte, wollte es ihm nicht gelingen, sich das Gesicht des Mannes Dupic vorzustellen. 94 Er wollte sich nicht von diesem Gesicht überrumpeln lassen, er wollte es schon jetzt vor sich haben, sich an den Ausdruck dieses Gesichtes gewöhnen, aber jede Erinnerung war ausgelöscht, er wußte nur, einen dünnen langen Bart hat er, der Mund ist unsichtbar, er hat keinen Mund, er hat aber auch keine Augen, es ist unmöglich, sich Dupics Augen vorzustellen.

Der Lehrer klopfte. Dupic fragte: »Wer ist da?« Dann wurde ein Riegel geschoben und die Tür geöffnet. Er hat Angst, er sperrt sich ein, dachte der Lehrer; dieser Gedanke erfüllte ihn mit Genugtuung. »Ach, der Herr Lehrer«, lächelte Dupic, »warum so spät? Ich wollte schon schlafen gehen.« Grüne Vorhänge waren an den Wänden, was war wohl hinter den Vorhängen, eine Bibliothek? Nein, Bücher gewiß nicht, aber vielleicht Giftflaschen, dachte der Lehrer, Hunderte Giftflaschen, kleine und große, das wäre wohl denkbar. Merkwürdig, auf welche Ideen man kommt, wenn man diesen Menschen anblickt, und dabei sieht er eigentlich harmlos aus, er hat kleine graue Greisenaugen, ein schläfriges, nicht unfreundliches Greisengesicht.

»Nun, das ist schön, daß Sie einmal kommen, ich habe schon längst Ihren Besuch erwartet«, sagte Dupic. – »Wieso?« fragte der Lehrer. – »Nun, ich war ja bei Ihnen, Sie sind mir einen Gegenbesuch schuldig«, lachte Dupic. Der Lehrer sah den Satz, den er zu sprechen hatte, wie eine tausendfach vergrößerte Druckzeile vor sich flimmern: »Herr Dupic, die Verhältnisse nötigen mich, von Ihrem so freundlichen Anerbieten Gebrauch zu machen«, er brauchte nur zu lesen, er begann: »Herr Dupic«, wie ernst und feierlich die Vorhänge 95 schweigen, dachte er, vergessen war, was er zu sagen hatte, plötzlich hörte er sich sprechen, er sprach von Elsa. Ja, ein Elend sei das mit Elsa, das Mädel sei blutarm, und Milch könne man nicht kaufen, anzuziehen habe sie auch nichts, schon das dritte Jahr trage sie einen Mantel, schlimm für sie, schlimmer noch für einen Vater, der sein Kind über alles liebt. Früher einmal, ja, da habe es allerlei Hoffnungen gegeben, zwei so begabte Kinder, der Sohn ein ausgesprochenes Talent, die Tochter kaum minder begabt, schon als siebenjähriges Kind habe sie wunderbar gezeichnet, wirklich wahr, zu Hause müssen noch irgendwo die Zeichnungen aus jener Zeit liegen. Was rede ich da, ging dem Lehrer durch den Kopf, während er weitersprach, was erzähle ich da, das ist doch alles Unsinn, das wollte ich doch nicht sagen. Gedichte, hörte er sich weitersprechen, Gedichte hat sie schon als fünfjähriges Kind rezitiert wie eine Schauspielerin, später hat sich die Vorliebe für Gedichte verloren, sie ist nämlich viel praktischer veranlagt als alle andern in unserer Familie, vielleicht hat sie das von ihrer Mutter, von mir keinesfalls. Wenn sie Gelegenheit gehabt hätte, sich zu entfalten, ach Gott, die könnte heute alle Männer in den Sack stecken mit ihrer Tüchtigkeit, aber das wird sich nie beweisen lassen, der Krieg hat alles ruiniert, auch Elsas Zukunft. Heiraten will sie nicht, sie will ihren unbeholfenen alten Vater nicht verlassen, schrecklich, das zu wissen, nicht wahr, da hat man eine Tochter, für die man jedes Opfer bringen möchte, und statt dessen verdirbt man ihr die Zukunft. Ein wahres Glück, daß sie auch andere Gründe hat, nicht zu heiraten, einen Lehrer oder kleinen 96 Beamten mag sie nicht, etwas anderes bietet sich nicht, sie hat große Rosinen im Kopf, dabei verachtet sie aber das Geld, kein Mensch kennt sich in ihr aus. Maßlos stolz ist sie, das ist das Ganze. So stolz ist sie, daß sie mir unter keiner Bedingung erlauben würde, mir etwas Geld zu beschaffen, und dabei hätten wir es so notwendig, unsagbar hat uns der Krieg getroffen, deshalb geht mir Ihr freundliches Anerbieten – Gott sei Dank, dachte der immer schneller Sprechende, jetzt bin ich endlich im Zug –, Ihr so unerwartet freundliches Anerbieten seit Tagen im Kopf herum, Elsa dürfte aber nie erfahren, daß ich Sie behelligt habe, das würde sie mir nie verzeihen.

Dupic hatte wohlwollend lächelnd zugehört. Nun ging er zur eisernen Kasse und fragte: »Wieviel soll es sein?« – »Tausend Kronen«, sagte hastig der Lehrer, schon lag das Geld vor ihm, zehn Hunderter. »Dank, herzlichen Dank, ich werde es pünktlich zurückzahlen«, stammelte er. – »Aber ich bitte Sie, wozu danken wegen so einer Lappalie«, sagte Dupic, »ich wage nicht, Ihnen diese Lappalie als Geschenk anzubieten, bestimmen Sie gefälligst selbst den Rückzahlungstermin.« – »Hätte es ein halbes Jahr Zeit?« stammelte der Lehrer, Dupic nickte lächelnd, schrieb, legte dem Lehrer ein Papier zur Unterschrift vor, der Lehrer las: »Tausend Kronen«, las »1. März 1919«, dachte aufatmend: Ein halbes Jahr, bis dahin kann sich manches geändert haben!

Auf dem Heimweg dachte er: Blöd war ich. Wenn ich zweitausend verlangt hätte, wär' es dasselbe gewesen. Die Rückzahlung wird mir keine Schwierigkeiten machen, man wird vor allem nicht den ganzen Betrag 97 ausgeben, sondern einen Reservefonds behalten. Wenn man Geld hat, spart man doppelt so leicht.

Aus Furcht vor Elsa wagte er am nächsten Tag nicht, das Geld anzutasten. Erst am dritten Tag – das Schuljahr hatte soeben begonnen – ging er nach Schulschluß nicht nach Hause, stahl sich aus der Stadt, kehrte am Abend mit einer Milchkanne und einem kleinen Mehlvorrat zurück. Elsa sah ihn kommen, er stellte verlegen die Kanne auf den Küchentisch, sie riß ihm den kleinen Mehlsack aus der Hand, warf den Sack zu Boden, so daß eine feine weiße Wolke aufstieg. Zornig sagte sie: »Du warst also doch bei Dupic.« Er leugnete nicht, er konnte nicht lügen, leise sagte er: »Ärgere dich nicht, Elsa, es ist ja nichts dabei, er ist ja kein Wucherer, er nimmt keinen Heller Zinsen, so einen Gläubiger kann man sich schon gefallen lassen.«

»Ich nicht! Ich nicht!«

Zornig lief Elsa ins Zimmer, der Vater ihr nach.

Regungslos saß sie auf dem Kanapee, früher als sonst stellte sie das Abendessen auf den Tisch und ging schlafen.

Am fünften September verreiste Dupic. Zwei Tage hielt er sich in Wien auf, dann fuhr er in die Schweiz, am zwanzigsten September war er wieder in Boran. In Wien hatte er sich die authentische Bestätigung seiner privaten Informationen geholt, einem Gespräch mit dem Privatsekretär des Kaisers waren große Transaktionen gefolgt. Wien war für Dupic erledigt, von nun an interessierte ihn in Wien nur noch ein Haus: die Börse.

In Boran erwartete ihn eine Vorladung zum 98 Bürgermeister. In einer Sitzung des Gemeinderates hatte sich eine Debatte um Dupic entsponnen, von sozialdemokratischer Seite war behauptet worden, der Fremde treibe die Preise in die Höhe, seine Passion, kleine Leute zum Schuldenmachen zu verführen, wirke demoralisierend. Es gab Mitglieder des Gemeinderates, die Ursache hatten, sich getroffen zu fühlen. Dem Interpellanten wurde entgegengehalten, der Fremde habe bisher nur Gutes getan, armen Leuten geholfen. Nun wurde auch die nationale Frage berührt. Im Gemeinderat hatten die Tschechen eine schwache Majorität, der Bürgermeister, ein österreichisch gesinnter Tscheche, Ritter des Franz-Joseph-Ordens, jonglierte zwischen den Nationen, zwischen den Parteien, der Verkauf des Großgrundbesitzes Boran kam ihm ungelegen. Ein Deutschnationaler, der noch nicht begriff, daß die Tschechen sich bereits als die Herren des Landes fühlen durften, erklärte, die Herrschaft Boran sei immer deutsch gewesen, die Deutschen würden nicht dulden, daß die Käufer den Großgrundbesitz gewaltsam tschechisierten. Die Tschechen lachten, forderten den verlegenen Bürgermeister auf, die Nationalität der neuen Herren von Boran festzustellen. Der Bürgermeister ließ Dupic vorladen.

Der furchtsame Ritter des Franz-Joseph-Ordens empfing den neuen Mitbürger mit österreichischer Gemütlichkeit, die sich steigerte, als Dupic, nach seiner Nationalität befragt, erklärte: »Vorderhand österreichisch.« – »Nach dem Meldezettel sind Sie Buchhalter«, sagte der Bürgermeister, »nach meinen Informationen haben Sie aber, wenigstens teilweise, unsern 99 Herrn Grafen aufgekauft; als Bürgermeister bin ich verpflichtet, zu erheben, in welcher Richtung Sie sich hier zu betätigen gedenken.« Dupic erwiderte, er sei Pensionist und gedenke in Boran das Leben eines Pensionisten zu führen, um Politik kümmere er sich nicht, ihm seien alle Menschen, Deutsche und Tschechen, Juden und Christen, gleich sympathisch. Schon recht, meinte der Bürgermeister, im Gemeinderat wolle man aber wissen, was von den neuen Herren in nationaler Beziehung zu erwarten sei: »Sagen Sie mir halt irgend etwas, Sie müssen ja nicht gerade Ihre wahre Gesinnung verraten, nur eine Antwort soll es halt sein, die ich dem Gemeinderat weitergeben könnte.« Dupic grinste: »Sagen Sie den Herren, was Ihnen beliebt, mir ist alles recht. Ich rate Ihnen aber, sich in der nächsten Zeit mit den Tschechen zu verhalten, demnächst wird nämlich der tschechische Staat gegründet werden.« Der Bürgermeister fragte, woher der Herr das wissen wolle; einstweilen müsse man hoffen, daß es Österreich gelingen werde, einen ehrenvollen Frieden zu schließen. Da Dupic grinsend schwieg, schlug der Bürgermeister einen schärferen Ton an und drohte, er werde dem Herrn das Wohnungsamt auf den Hals hetzen und den Herrn nötigen, dem Militärkommando die Errichtung eines Reservespitals zu ermöglichen. »Das werden Sie nicht tun«, grinste Dupic, »denn bevor Sie drei zählen, wird es kein Militärkommando mehr geben.« Dem verblüfften Mann die bläulichen kräftigen Hände auf die Schultern legend, flüsterte er: »Herr, Sie sind blind und taub, Sie wissen vielleicht nicht einmal, daß es eine tschechische Mafia gibt. 100 Leben Sie auf dem Sirius, Herr?« Mit diesen Worten ging er.

Der Bürgermeister eilte sofort zum Regierungsvertreter, einem alten deutschen Bezirkshauptmann, der zuerst erwog, ob man Dupic wegen hochverräterischer Äußerungen verhaften solle, schließlich aber beschloß, sich den Mann zunächst einmal anzusehen. Er ließ Dupic holen und fuhr ihn an: »Legitimieren Sie sich.« Dupic zog einen Brief aus der Tasche, der Bezirkshauptmann las: »Herrn Adam Dupic, hochwohlgeboren, Boran. Hochgeehrter Herr! Seine Majestät geruhen, mich zu beauftragen, Euer Hochwohlgeboren in der folgenden Angelegenheit, das noch in Wien befindliche Privatvermögen Seiner Majestät betreffend, um Rat zu fragen.« Der Bezirkshauptmann las nicht weiter, staunte nur noch Unterschrift und Siegel an und gab den Brief mit einer respektvollen Verbeugung zurück, die Dupic überhöflich erwiderte. Der Beamte fragte nun vertraulich, ob alles, was der Bürgermeister über »eine hochinteressante Unterredung« berichtet habe, auf Wahrheit beruhe. Dupic antwortete, der Bürgermeister sei ein Esel; da man offenbar in Boran Gefahr laufe, mit jedem Wort auf Unverständnis und Unverstand zu stoßen, werde man künftig das Maul halten. Und somit empfehle man sich bestens. Der Bezirkshauptmann ließ Hausdurchsuchungen vornehmen, die erfolglos verliefen. Dr. Podlesny, der Führer der Tschechen im Gemeinderat, stellte Dupic zur Rede. »Ich bin Slave«, erklärte Dupic mit Emphase, »ich bin kein Verräter; Sie dürfen übrigens Persekutionen von der humoristischen Seite nehmen, Österreich ist bereits ein Kadaver.« 101

Spitzel umschlichen jedes Haus, Dupic lachte, die tschechische Bevölkerung ließ sich einschüchtern, schlaflose Nächte hatten selbst die tschechischen Führer, denen der tschechische Nationalausschuß Gleichgültigkeit und Passivität empfohlen hatte, Dupic lachte, es war ein Spaß, ein herrliches Amüsement. Ende September, zwei Tage nach Bulgariens Kapitulation, meldete der Bezirkshauptmann dem Statthalter von Böhmen die Namen aller des Hochverrats verdächtigen Personen. Der Statthalter gab den Bericht nach Wien weiter, sofort kam die Weisung: »Nichts unternehmen.«

Dupic beantwortete nicht mehr die Briefe aus der Hofburg, die Telegramme der Erzherzoge. Ein Mitglied des Kaiserhauses bat um ein Darlehen, Dupic zerriß den Brief, lachte: Ein Klistier mit Glassplittern! Er verbrannte alle Briefe, schrieb allen hochgestellten Persönlichkeiten, er bedaure, Aufträge nicht mehr effektuieren, Ratschläge nicht mehr erteilen zu können. Er beantwortete auch die Briefe seiner Söhne nicht, er sandte ihnen ein Kollektivschreiben: »Nützet die Konjunktur!«

Der Oktober begann grau und regnerisch. Dupics Schuldner begannen sich wieder auf die Brot- und Fleischkarten zurückzuziehen, das vorgestreckte Geld war aufgebraucht.

Im Regen dieser Oktobertage ging Dupic oft im Schloßpark spazieren. Die gräfliche Familie blieb unsichtbar, die Fenster im Schloß waren verhängt, in der Wohnung des Rechtsanwalts Dr. Podlesny in der Palackystraße wurde die Revolution vorbereitet, die 102 Deutschen kämpften noch immer für Kaiser und Reich, Dupic lachte, es war ein Spaß, ein herrliches Amüsement.

 


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