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Am 28. Mai 1919 um acht Uhr morgens wurden vier in Boran unbekannte Herren auf dem Bahnhof von 198 Dupic empfangen. Er führte sie in sein Haus. Die Boraner, die ihn zwischen elf und zwölf aufsuchten – der Brauch, nur unter dem Schutz der Dunkelheit zu ihm zu gehen, war längst abgeschafft, die Bewohner von Boran erschienen bei Dupic zur befohlenen Stunde wie kleine Angestellte bei ihrem Chef –, fanden verschlossene Türen und erblickten durch die Fenster fremde Gesichter. Mittags führte Dupic seine Gäste ins Grand Hotel. Der Oberkellner bot den Herren ein separiertes Zimmer an, Dupic nahm aber mit seinen Gästen in dem großen Speisesaal Platz. Er machte eine Bestellung, die den Oberkellner offenbar irritierte. Es fiel auf, daß gleich darauf die Besitzerin des Hotels, der Oberkellner und der Koch gemeinsam Dupics Tisch nahten und seine Aufmerksamkeit zu erregen versuchten, was ihnen nicht gelang. Es war unmöglich, daß Dupic sie nicht bemerkte, ja es schien der Hotelbesitzerin und dem Oberkellner, als ob Dupic sie geradezu mit den Blicken durchbohrte, er sprach aber so eifrig mit seinen Gästen, daß niemand ihn zu unterbrechen wagte. Plötzlich rief er: »Wo bleibt denn das Essen?« Nun stürzte die Hotelbesitzerin vor. (Alle Einheimischen, die Augenzeugen dieser Szene waren, erzählten später übereinstimmend, die Frau sei jammernd und mitleiderregend vorgestürzt.) Sie beteuerte, beim besten Willen könne sie keine Schildkrötensuppe herstellen, ein einziges Mal sei bisher in ihrem Hotel Schildkrötensuppe serviert worden, und zwar im Winter 1909 anläßlich des Besuchs des Erzherzogs Leopold Salvator, damals sei aber das Menü vom Herrn Bezirkshauptmann drei Wochen vorher zusammengestellt worden. Dupic hörte die Entschuldigungen der 199 unglücklichen Frau schweigend an und wandte sich an seine Gäste: »Haben Sie jemals so etwas gehört, meine Herren? Im Grand Hôtel gibt es nicht einmal Schildkrötensuppe?« Die vier Herren lächelten und verlangten die Speisenkarte, Dupic erklärte aber, alles, was auf der Speisenkarte stehe, sei ungenießbares Zeug, man werde notgedrungen Schweinsohren essen müssen, eine Schüssel Schweinsohren, die Wirtin möge sich nicht einfallen lassen, womöglich zu behaupten, sie könne nicht einmal Schweinsohren beschaffen.
Eine Viertelstunde später brachte der Oberkellner das gewünschte Gericht. Dupic aß mit sichtlichem Behagen und beobachtete grinsend seine Gäste, die das Fleisch mit Widerwillen betrachteten. Sie versuchten, einen Bissen zu verschlingen, es war aber unmöglich; sie verzehrten nun große Brotmengen. Dupic schien es nicht zu bemerken, er aß eine halbe Stunde lang, dann rief er: »Ober, eine Flasche Champagner!« Die vier Herren blickten hilfesuchend einander an, überall wurde geflüstert: »Champagner hat er bestellt«, dann sah man Dupic und die vier Herren trinken. »Nun, wie hat den Herren das Essen geschmeckt?« fragte Dupic. »Ausgezeichnet – großartig!« versicherten die Herren. »Das freut mich«, grinste Dupic, »wir wollen den Beginn unseres Werks mit Champagner begießen, Champagner schmeckt nach einem reichlichen Mahl doppelt gut.« Nach der ersten Flasche erklärten die Herren, sie seien nicht gewöhnt, mittags Champagner zu trinken. Dupic schüttelte den Kopf: »Noch eine Flasche, meine Herren, ich muß schon sehr bitten, Sie werden mich nicht allein trinken lassen, fünf erwachsene Männer 200 werden doch hoffentlich zwei Flaschen Champagner bewältigen, bedenken Sie, was für ein Tag heute ist!« Die vier Herren mußten weitertrinken, Dupic kontrollierte, ob jeder sein Glas leerte und füllte, einer von ihnen versuchte heimlich, Wasser in sein Champagnerglas zu gießen, Dupic lachte ihn an: »Herr Architekt, das gibt's nicht, beschwindeln lass' ich mich nicht!«
Die zweite Flasche war leer. Dupic grinste die bleichen Gesichter an: »Falls die Herren das Bedürfnis nach einem Mittagsschläfchen haben, will ich Sie nicht länger aufhalten. Erweisen Sie mir die Ehre, mich vor sechs Uhr zu besuchen, heute müssen wir unter allen Umständen fertig werden, wir machen unser Geschäft heute oder überhaupt nicht. Also kommen Sie unter allen Umständen bis spätestens sechs Uhr.« In dem großen Speisesaal trat Totenstille ein; man hatte von Dupics Rede nur die drei Wörter »unter allen Umständen« verstanden, diese drei Wörter hatte er mit erhobener Stimme zweimal gesprochen oder vielmehr geschrien. Er rief den Kellner, zahlte und ging.
Die vier Herren steckten die Köpfe zusammen und versuchten, sich über die Taktik, die nun einzuschlagen war, zu verständigen. Es waren Wiener Architekten, die Dupic vor längerer Zeit Terrainspekulationen vorgeschlagen hatten; alle Projekte waren immer an Dupics Eigensinn gescheitert, deshalb hatten sich die vier Herren vorgenommen, in allen Dingen von untergeordneter Wichtigkeit nachgiebig zu sein. Es handelte sich diesmal um einen riesenhaften Bauauftrag, den Dupic vergeben wollte. Dupics Eigenheiten waren ihnen bekannt. Sie wußten, daß er für die ganze 201 Gesellschaft Schweinsohren bestellt hatte, weil er sicher gewesen war, daß kein Österreicher dieses Gericht essen würde; der Champagner sollte ihnen den Rest geben. Daß sie »unter allen Umständen« noch an diesem Abend den Kontrakt unterschreiben mußten, war eine echt Dupicsche Maßnahme, gegen die es keinen Widerstand gab. Die Pläne und Kalkulationen hatten sie fertig mitgebracht, alles war bis in die kleinsten Einzelheiten vereinbart und von Dupic genehmigt gewesen; zwei Änderungen aber, die Dupic in der Vormittagsberatung gefordert hatte, warfen alle Pläne und Berechnungen über den Haufen.
Die erste Änderung betraf den Bau selbst. Dupic hatte beschlossen, eine neue Industrie, die Kunstseideerzeugung, in Böhmen einzuführen, er wollte einstweilen in Boran sechs Fabrikgebäude modernster Konstruktion errichten lassen. Nach und nach sollte eine weitere Reihe von Fabriken angegliedert werden; er spielte mit dem Gedanken, auch andere Industrien einzuführen und allmählich die ganze Stadt mit einem Ring von Fabriken zu umschließen. Brückengänge sollten alle Fabrikgebäude in jedem Stockwerk verbinden. Die Pläne der sechs Fabriken hatten Dupic am Vormittag gefallen; er forderte jedoch plötzlich »eine ebenso reizende wie humane kleine Änderung«, wie er sich ausdrückte. Unter dem Dach der sechs Fabriken wollte er einen riesigen Glassaal errichtet sehen, der genau die Größe der sechs Fabriken haben sollte. »Der Fußboden dieses Saals«, erklärte er, »muß aus Stahltraversen und durchsichtigem Glas sein, und zwar derartig, daß man in den unteren Stockwerken, wo 202 gearbeitet wird, jederzeit genau sehen kann, was oben im Glassaal vorgeht.« Auf die Frage, was dieser Saal vorstellen solle, erwiderte Dupic: »Ein Vergnügungsetablissement – oder, präziser gesagt: eine Art Bordell.«
Die Herren hatten am Vormittag diese Idee als undurchführbar bezeichnet, worauf Dupic erklärt hatte, die Besprechung auf den Abend verschieben zu wollen. Die zweite Überraschung war Dupics strikte Erklärung, er wolle alles in österreichischen Kronen bezahlen. Der erste Kostenvoranschlag, den die Architekten am 18. Februar überreicht hatten, war zu einer Zeit fertiggestellt worden, die noch nicht die späteren Valuta-Unterschiede gekannt hatte. Am 18. Februar zahlte man in Zürich für 100 österreichische Kronen 22,75 Franken, für 100 tschechische Kronen 27 Franken. Dieser geringen Differenz wurde damals in Wien keine Bedeutung beigemessen; die Österrreicher, denen die amerikanische Militärmission liebenswürdig entgegenkam, gaben sich der Hoffnung hin, eher in geordnete Verhältnisse zu kommen als die Tschechoslowakei, die hauptsächlich in dem finanziell geschwächten Frankreich Sympathien fand. Die Wiener Architekten teilten nicht den Optimismus ihrer Landsleute; sie wollten tschechische Kronen verdienen.
Sie lagen den ganzen Nachmittag mit entsetzlichen Kopfschmerzen zu Bett. Zehn Minuten vor sechs verließen sie das Hotel, ohne sich über ein gemeinsames Vorgehen geeinigt zu haben. Auf dem Weg zu Dupic vereinbarten sie nur, gegen das undurchführbare Glassaalprojekt energisch zu protestieren und mit aller Entschiedenheit Bezahlung in tschechischen Kronen zu 203 fordern. Einzelheiten konnten nicht besprochen werden.
Dupic empfing seine Gäste mit besorgniserregender Liebenswürdigkeit und gab die unerwartete Erklärung ab, daß er sich auf den Bau des Glassaals nicht versteifen wolle, falls sich unüberwindliche technische Schwierigkeiten ergäben. Der Seniorchef der Baufirma konnte es sich nicht versagen, zu bemerken, daß eine seriöse Firma schon aus moralischen Gründen einen derartigen Auftrag nicht übernehmen könnte.
Überaus temperamentvoll erwiderte Dupic, die Herren hätten ihn mißverstanden, nun müsse er ihnen einige offenbar notwendige Aufklärungen geben. Vor allem sei zu beachten, daß er die Fabriken keineswegs in erster Linie des etwa zu erzielenden Gewinns wegen errichte. Die Bevölkerung von Boran hungere, die Zahl der Arbeitslosen steige von Tag zu Tag; die Fabriken hätten die Aufgabe, der Bevölkerung von Boran eine Lebensmöglichkeit zu bieten. Der Glassaal aber stelle sozusagen das Symbol seines Humanitätsideals dar. Die eintönige Fabrikarbeit stumpfe den Geist ab und töte die Lebenslust. Schlimmer noch sei die erwiesene Tatsache, daß der Fabrikarbeiter selbst in seinen freien Stunden nichts Besseres zu tun wisse, als die Reichen um ihre Zerstreuungen zu beneiden. Narren hätten versucht, den Arbeitern durch Fortbildungsschulen, wissenschaftliche Kurse und ähnlichen Humbug Ablenkung oder Zerstreuung zu verschaffen; das Resultat sei kläglich, der Arbeiter, der sich zu einem höheren geistigen Niveau aufschwinge, wolle immer höher hinaus und werde immer unzufriedener, was bloß den 204 Agitatoren, die in dem Ruin der Industrie den Beginn eines besseren Zeitalters erblicken, willkommen sein könne. Er, Dupic, sei der Überzeugung, den Arbeitern müsse nicht nur nach, sondern auch während der Arbeit eine aufpulvernde Ablenkung geboten werden, und diese Ablenkung solle der Glassaal bieten. Die Arbeiter an der Maschine würden jederzeit, bei jedem Aufblick, im Glassaal nackte Weiber und Männer sehen, denen alle erdenklichen Genüsse zugänglich wären. Die Genießer im Glassaal wären nicht etwa die beneideten Reichen, jeder Roboter an der Maschine wüßte: morgen oder übermorgen, an meinem dienstfreien Tag, werde ich oben im Glassaal sein und alles genießen, der alte Dupic bezahlt alles. Er, Dupic, schneide sich selbstverständlich ins eigene Fleisch, wenn er diesen Plan durchführe, denn die Ablenkung von der Arbeit würde die Arbeitsleistung ungeheuer herabmindern; und wo fände sich ein zweiter Unternehmer, der jedem Arbeiter einen freien Tag in der Woche ohne Lohnabzug gäbe? Aber er, Dupic, wolle trotzdem, und wenn es sein Ruin wäre, aus humanitären Gründen den Glassaal bauen, wenn sich die Architekten bereit erklärten, den Bau zu übernehmen.
Der Seniorchef der Baufirma murmelte, daß dieses »Humanitätsideal« schlimmer wäre als eine mittelalterliche Folterkammer.
»Folterkammer?« rief Dupic. »Wieso, meine Herren? Eine Folterkammer wäre der Glassaal, wenn ich den Boden unter den Liebespaaren absichtlich aus so dünnem Glas herstellen ließe, daß sie riskieren müßten, während der Umarmung in den Maschinensaal 205 hinunterzufallen und gevierteilt zu werden. Ich bin übrigens überzeugt, daß der Glassaal gut frequentiert wäre, selbst wenn diese Gefahr bestünde. Wissen Sie, daß wir hier Arbeiter haben, die zehn Kinder in die Welt setzen? Bauen Sie den Glassaal, und kein Mensch in Boran wird Kinder in die Welt setzen, die er nicht ernähren kann. Der Wohlstand der Arbeiterschaft würde sich rapid heben. Aber es hat keinen Sinn, sich noch mit dieser Idee zu befassen, wenn sie technisch undurchführbar ist. Bauen Sie also die Fabriken in Gottes Namen ohne Glassaal und entwerfen Sie mir später, vielleicht in zwei oder drei Jahren, den Plan eines Volkshauses, das dem Vergnügungsbedürfnis der Arbeiter gewidmet sein soll.«
Erfreut begannen die Architekten über die zweite »kleine Änderung« zu debattieren. Schließlich mußten sie mit der Bezahlung in österreichischen Kronen einverstanden sein, da Dupic erklärte, er lasse das ganze Bauprojekt fallen, wenn man ihn zwingen wolle, in tschechischen Kronen zu zahlen; ohnehin baue heute kein vernünftiger Mensch Fabriken; er wolle aus humanitären Gründen den Narren spielen, aber nicht an dieser Narrheit zugrunde gehen.
Die Kontrakte wurden unterschrieben. Mit dem Bau wurde sofort begonnen. Dupic ließ von den Bewohnern von Boran seine Fabriken erbauen.
Er ging von Haus zu Haus und trieb die Familien seiner Schuldner den Bauleitern zu, Männer und Frauen, Greise und Kinder mußten den Grund graben, Kalk löschen, Ziegel schleppen. Es gab keine Unterschiede, die Siebzigjährigen und die Siebzehnjährigen hatten die 206 gleiche Arbeit. Von den Löhnen wurde ein Teil abgezogen und zur Tilgung der Schuld verwendet. Alle, denen Dupic Geld vorgestreckt hatte, wurden ausgehoben, es war eine militärische Organisation, Dupic selbst war die Musterungskommission. Die Gebrechlichen, die Alten, die schwangeren Frauen, die unterernährten Kinder, alle wurden von Dupic gemustert und auf den Bauplatz getrieben. Sagte einer: »Ich kann nicht«, so lachte Dupic. »Es wird schon gehn.« Zusammenbrechende mußten ins Krankenhaus, dort starben sie oder wurden nach einer Woche entlassen, das Krankenhaus war klein, die Zahl der Zusammenbrechenden war groß.
»Es wird schon gehn«, lachte Dupic jeden Tag, er stand schon am Morgen auf dem Bauplatz und sah den Arbeitenden zu. Entfiel einem die Hacke, lachte Dupic: »Ruh dich aus, leg dich eine Weile nieder, in einer Stunde bist du wieder stark und gesund, es wird schon gehn.« Er war Herr der Stadt, die Behörden betrachteten ihn als oberste Instanz, der Bürgermeister konnte im Gemeinderat mitteilen: »Wir sind eine glückliche Insel im Staat, wir haben keine Arbeitslosen.«
Dupic bevorzugte die Arbeiter, die im Schloß einquartiert waren, sie mußten ihm das Leben im Schloß schildern, er wurde nicht müde, ihnen zuzuhören. »Was macht die Königliche Hoheit, ist sie wohlauf, kommt ihr oft mit ihr zusammen?« fragte er. »Sie wickelt sich die Nase mit einem Sacktuch ein«, antwortete man, »sie findet wahrscheinlich, daß wir nicht gut riechen, der gnädige Herr sollte ihr ein Faß Parfüm kaufen.« Derartige Bemerkungen wurden von Dupic 207 gewürdigt, er zeigte sich freigebig, schenkte den Leuten einen Sack Mehl, einen Liter Schnaps. Einmal ließ er den Alten mit der Ziehharmonika kommen, klopfte ihm auf die Schulter: »Du mußt für Unterhaltung im Schloß sorgen, der Herr Graf spielt Klavier, du mußt ihn schön begleiten; wenn er Klavier spielt, mußt du Ziehharmonika spielen, ein Solokonzert ist langweilig; und galant mußt du sein; wenn die Königliche Hoheit auf dem Korridor erscheint, mußt du ihr ein Kompliment machen und begeistert rufen: ›Königliche Hoheit haben entzückende Füßchen und einen reizenden Schlafrock, Königliche Hoheit sind eine Augenweide.‹«
Dupic liebte es, überraschend Gaben zu verteilen. Ohne Anlaß strafte er, ohne Anlaß verlieh er Auszeichnungen. Er blieb ohne Anlaß bei einem Mann, der mürrisch arbeitete, stehen und sagte freundschaftlich: »Ich gebe Ihnen eine Woche frei, da haben Sie Geld, unterhalten Sie sich gut.« Er lachte ein zwanzigjähriges kräftiges Mädchen an: »Liebes Kind, Sie sind ja noch viel zu jung, Sie sollen noch nicht so schwer arbeiten, ich lasse Ihnen den Lohn für ein halbes Jahr auszahlen, kommen Sie dann wieder.« (Die lungenkranken Sechzehnjährigen übersah er.) Er streckte den Zeigefinger aus und rief: »Sie, guter Freund, kommen Sie her!« Drei Männer, die bei einer Kalkgrube arbeiteten, kamen herbeigelaufen, Dupic sagte: »Sie bekommen einen außerordentlichen Zuschuß von zweihundert Kronen, weil Sie so tüchtig arbeiten.« Die drei Männer standen verblüfft, starrten den Zeigefinger an, welchen von ihnen meinte der Zeigefinger? Dupic ließ sie warten, ließ den Zeigefinger 208 wie ein flinkes Tier die Luft durchstoßen, drückte ihn endlich einem der drei Männer an die Brust: »Sie meine ich, Sie bekommen die zweihundert Kronen.« Er kam mittags in Begleitung eines Kellners des Grand Hôtel auf die Bauplätze, der Kellner schleppte in einem großen Korb zwanzig Portionen Braten und Torten, Dupic betrachtete die Arbeiter, die in der Mittagspause auf Brettern und Sandhügeln saßen, mancher aß nur Suppe und Brot, mancher aß nichts und rauchte eine Zigarette, Dupic befahl dem Kellner: »Diesem eine Portion. Dieser dort auch eine. Wer ist der dort, der in die Wurst hineinbeißt? Dem geben Sie zwei Portionen. Geben Sie ihm drei Portionen. Drei Portionen, sage ich, er wird es schon bewältigen, er hat gesunden Appetit.«
Im Herbst ereignete sich ein Zwischenfall, der in der Stadt viel besprochen wurde.
Dupic hatte die Gewohnheit, in allen Taschen Leckerbissen, Wein- und Schnapsflaschen, Schokolade, hie und da auch eine in Papierservietten eingepackte gebratene Taube oder eine Portion Brathuhn zu tragen; diese Leckerbissen pflegte er den Arbeitern auf dem Bauplatz zu überreichen. Es gab viele, die derartige Geschenke zurückwiesen, diesen pflegte er besonders häufig die Delikatessen unter die Nase zu halten, ohne sich um die entschiedene, oft schroffe Ablehnung zu kümmern. Er merkte sich jedes Gesicht. So wußte er auch, daß am Bau der vierten Fabrik eine etwa sechzigjährige, krankhaft blasse Tschechin arbeitete, die täglich sein Herannahen mit auffallender Nervosität erwartete und jedesmal eine Armbewegung machte, die eine Bitte um eine Gabe bedeutete. Nie hatte Dupic ihr 209 etwas gegeben, er übersah Tag für Tag geflissentlich ihre bittende Geste und beschenkte mit Vorliebe die Leute, die in ihrer nächsten Nähe beschäftigt waren. Am 30. September, um neun Uhr morgens, ging er wie immer teilnahmslos an der Frau – sie hieß Domansky, er hatte sich nach ihrem Namen und ihrer Familie erkundigt – vorüber, sie blickte ausnahmsweise von ihrer Arbeit nicht auf, weil er zu einer späteren Stunde zu erscheinen pflegte. Er berührte mit dem rechten Zeigefinger die Schulter der hockenden Frau, sie schrak auf und unterließ es aus Verlegenheit, ihre bittende Geste zu machen. Er beugte sich zu ihr nieder, griff in die Hosentasche, wickelte ein Brathuhn aus der Papierserviette, schickte sich an, es der Frau zu überreichen, steckte es aber wieder in die Hosentasche, zog aus den Überziehertaschen – er trug an kalten wie an heißen Tagen den unmodernen langen schwarzen Überzieher – zwei Flaschen Kümmel und legte sie der Frau auf den Schoß.
Am Nachmittag, als er wieder am Bauplatz auftauchte, folgte ihm in einiger Entfernung ein ungewöhnlich großer, starker Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren. Es war der Sohn der Arbeiterin Domansky, einer der wenigen aus dem Krieg Heimgekehrten, die bei Dupic nicht arbeiteten. Dupic hatte den athletisch gebauten Mann im Sommer auffordern lassen, am Bau zu arbeiten, der junge Domansky war aber nicht erschienen, obwohl er keine Arbeit gefunden hatte. Zufällig drehte Dupic sich um und erblickte ihn. In diesem Augenblick blieb auch der Bursche, etwa zehn Schritte hinter Dupic, stehen. Er trug in beiden Händen die Schnapsflaschen, die Dupic am Morgen der 210 alten Frau geschenkt hatte. »Suchen Sie Arbeit?« rief Dupic. Der Bursche antwortete nicht, blickte Dupic finster an und sagte leise etwas zu den Umstehenden, die in der Arbeit innehielten und ebenfalls zu Dupic hinblickten. Dupic rief: »Was gibt's?« Der junge Domansky sagte halblaut, aber so deutlich, daß jedes Wort zu verstehen war: »Jetzt wird er springen.« Er ergriff eine Schnapsflasche beim Hals und schleuderte sie plötzlich Dupic zwischen die Beine, und zwar derartig, daß Dupic so hoch wie möglich die Beine heben mußte, um nicht getroffen zu werden. Unter dem springenden Dupic sauste die Flasche durch und zerbrach, der Schnaps rann als trübes Bächlein in den Sand. »Jetzt wird er noch einmal springen«, sagte der Bursche etwas lauter und verzog das Gesicht zu einer höhnenden Grimasse. Im nächsten Augenblick hatte er die zweite Flasche gegen Dupic geschleudert; nur durch einen noch höheren Luftsprung konnte Dupic dem Wurfgeschoß entgehen. »Nächstens kriegst du eins auf den Kopf, du Aas!« rief Domansky laut, drehte sich um und entfernte sich.
Die Szene hatte sich so rasch abgespielt, daß die Zuschauer erst zur Besinnung kamen, als Domansky bereits außer Sichtweite war. Die Leute waren so betroffen, daß sie ganz vergaßen, die Arbeit wieder aufzunehmen. Sie starrten Dupic an, ohne zu wissen, daß ihre Gesichter eine fast wahnsinnige Freude verrieten. Dupic blickte sich im Kreis um und begann laut zu lachen, er selbst schien sich am meisten zu freuen, er klopfte sich lachend auf die Knie: »So ein verrücktes Luder!« Dann ging er weiter und erkundigte sich bei einem Bauleiter, mit wem der junge Domansky 211 verkehre. Als er hörte, der Bursche pflege mit dem bekannten kommunistischen Agitator Dr. Buxbaum spazierenzugehen, nickte er befriedigt und setzte seinen Inspektionsgang fort. Die Arbeiter glaubten, Dupic werde Domanskys Mutter zur Rede stellen oder sofort entlassen, aber er ging wie gewöhnlich teilnahmslos an ihr vorüber, als ob nichts geschehen wäre.
Diese Vorgänge wurden noch am Nachmittag in der ganzen Stadt bekannt, obwohl kein Arbeiter die Bauplätze verlassen hatte. Man fragte nach Domanskys Motiven. Er hatte nie etwas mit Dupic zu tun gehabt, die alte Frau bezog regelmäßig ihren vollen Lohn, nie hatte sie mit Dupic ein Wort gewechselt, ein persönlicher Racheakt konnte demnach nicht vorliegen. Weiter: Domansky war zwar kein ausgesprochener Trinker, aber nichts weniger als ein Alkoholgegner, manche Leute hatten ihn einigemal berauscht gesehen; trotzdem hatte er es über sich gebracht, die zwei Flaschen nicht zu entkorken, wie nachträglich festgestellt wurde. Der von mehreren Personen verteidigten Hypothese, Dupics Gegner Dr. Buxbaum sei der Anstifter des Exzesses gewesen, wurde entgegengehalten, Domansky sei zwar öfter mit Dr. Buxbaum gesehen worden, aber nie in freundschaftlichem Gespräch, immer streitend; in öffentlichen Versammlungen habe der Bursche gegen Buxbaum durch beleidigende Zwischenrufe Stimmung gemacht. Jemand wollte sogar wissen, Domansky sei in Rußland mit Buxbaum zusammengeraten, den er seit damals hasse.
Um sieben Uhr, als die Bürger ihren Abendspaziergang machten, erschien Domansky in der Hauptstraße. 212 Er fühlte sich offenbar als Held des Tages. Am Bauplatz war er in einem zerfetzten Anzug ohne Weste und ohne Kragen erschienen, um den Hals einen roten Schal. Jetzt ging er in einem fast neuen dunklen Anzug durch die Straßen, er trug einen hohen steifen Kragen und einen seidenen Selbstbinder, aus der Brusttasche lugte ein buntes Taschentuch hervor, in der Hand hielt er einen steifen schwarzen Hut. Man glaubte, daß er sich mit einem sieghaften Lächeln vor der Rathausuhr postieren wolle, um sich feiern zu lassen, er ging aber mürrisch, wie in tiefen Gedanken, an den ihn anstaunenden Leuten vorüber und schlug die Richtung zum Bahnhof ein. Einige Neugierige, die ihm folgten, hatten das Glück, bei den ersten Häusern der Bahnhofstraße Augenzeugen einer Begegnung zu werden, die mit Recht als die Krönung dieses ereignisreichen Tages aufgefaßt wurde.
Aus einem Haustor trat nämlich gerade in dem Augenblick, als Domansky vorüberging, Dr. Peter Dupic auf die Straße, ging rasch dem Burschen nach und hielt ihn an. Die Neugierigen folgten; was sie nun sahen und hörten, lohnte reichlich die Bemühung. Dupics Sohn rief laut: »Herr Domansky! Herr Domansky!« Der Bursche blieb stehen und murmelte: »Was gibt's?« – »Sie sind doch Herr Domansky, nicht wahr?« fragte Peter. – »Was wollen Sie von mir?« erwiderte der Angesprochene in mürrischem Ton. – »Ich kenne Sie, ich habe Sie in Versammlungen gesehen«, rief Peter. »Soeben erfahre ich, was Sie heute mit meinem Vater angestellt haben. Ich bin der Doktor Dupic, Sie scheinen mich nicht zu kennen, wie?« – »Nein«, stieß 213 Domansky unfreundlich hervor und ging rascher. – »Laufen Sie mir nicht davon«, lachte Peter, »ich habe mit Ihnen zu reden, was Sie heute getan haben, hat mir nämlich sehr gefallen, außerordentlich gefallen, so müßten es alle machen. Nur so kann man meinen Vater erziehen, sonst glaubt er am Ende wirklich noch, daß er der Herrgott ist.« Er ergriff Domanskys Arm und zwang den Burschen, ihm in die Augen zu blicken. Vielleicht war es Peters Lachen, das Domansky umstimmte, vielleicht faßte er zu den strahlenden Augen Vertrauen, jedenfalls änderte sich in diesem Augenblick sein Verhalten. Er lachte kurz auf, sie kehrten auf den Marktplatz zurück, sie gingen Arm in Arm. Vor seiner Wohnung sagte Peter: »Kommen Sie zu mir, Sie haben doch hoffentlich Zeit?«