Ludwig Winder
Die nachgeholten Freuden
Ludwig Winder

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Dritter Teil

1

Der Bau der sechs Fabriken machte auffallend langsam Fortschritte. Die Wiener Architekten mußten den Bauarbeitern und Lieferanten in Boran tschechische Kronen geben und erhielten von Dupic wertloses österreichisches Geld. Sie forderten Aufwertung, er berief sich auf die Vereinbarungen. Sie sprachen von Halsabschneiderei, er höhnte: »Wer hat euch gezwungen, das Geschäft zu machen?« Von Zeit zu Zeit ließ er sich erbitten, ihnen freiwillig – jedesmal betonte er: freiwillig! – »tschechische Kronen-Injektionen zu verabreichen«, nach einigen Wochen begann wieder der Jammer, die Arbeit ruhte, dann griff Dupic wieder ein. Mittlerweile war die österreichische Krone immer tiefer gefallen. Wir verlieren bei diesem Unternehmen unser ganzes Vermögen, klagten die Architekten, und mußten ausharren, um nicht noch mehr zu verlieren.

Boran wartete mit Ungeduld auf die Fertigstellung der Fabriken, Zahlreiche Beamte wurden abgebaut, den kleinen Kaufleuten, Handwerkern, Gewerbetreibenden mißlang der Übergang zur Friedenswirtschaft, die Kriegsanleihebesitzer hatten fast alles verloren. Die wenigen Kriegsgewinnler, die es in Boran gab, sahen nach kurzer Zeit ihren Reichtum zerrinnen. Alle hofften, in den Fabriken unterzukommen, die Lehrer der deutschen Schulen, deren Klassen reduziert wurden, 248 lernten Buchhaltung und Handelskorrespondenz, Greise und Greisinnen turnten, um die zur Arbeit an der Maschine erforderlichen Kräfte zu erlangen, die Vierzehnjährigen zwang man, ein Buch über Kunstseidefabrikation zu lesen, das in jedem Haus angeschafft wurde. Die Kunstseidefabrikation war eine in Böhmen unbekannte Industrie, man glaubte an eine beispiellose Zukunft der Dupicschen Fabriken.

Dupic wurde von Tag zu Tag reicher.

Er kaufte an der Wiener Börse tschechoslowakische Industriepapiere und verkaufte sie an der Prager Börse. Er nützte den Kredit, der ihm in Wien eingeräumt wurde, ließ die österreichische Milliardenschuld wachsen – und erhielt die Aktien fast umsonst, weil die österreichische Krone von Tag zu Tag fiel. Diese ungeheuer einträgliche Spekulation machte ihm wenig Freude, es war eine Allerweltsspekulation; was Tausende im kleinen versuchten, projizierte er ins Riesenhafte.

Die freien Stunden widmete er der Landwirtschaft. Er hatte seine Felder und Wälder in den Jahren 1918 und 1919 nur zweimal flüchtig besichtigt. Jahrzehntelang war er Bauer gewesen, trotzdem hatte er sich nie als Bauer gefühlt. Aber als er eines Tages, im Juli 1920, in der Eisenbahn vorbeifahrend, seine vernachlässigten Felder und Wälder sah, beschloß er, sich seinem Grundbesitz zu widmen. Die beschlagnahmten Reviere hatte er zum zweitenmal erworben. Er zog die alten Röhrenstiefel an, die er in seiner Heimat getragen hatte, und ging »Ordnung machen«. Die Förster und Heger faulenzten, die Wälder waren von der Nonne zerfressen. Er entließ den Oberförster und entwarf eine 249 neue Einteilung der Reviere. Bisher waren die Reviere quadratisch abgegrenzt gewesen. Dupic teilte jedem Förster ein neues Revier zu, das die Form eines sehr schmalen Rechtecks hatte. Die Reviere waren nun so langgestreckt, daß die Förster, die sich kontrolliert sahen, nicht mehr zu Atem kamen.

Max Königsegg, der von Försterentlassungen hörte, besprach mit Allegra den Plan, sich um eine Stelle bei Dupic zu bewerben. Er glaubte auf der Besitzung seines Onkels, der inzwischen verarmt war, genügende Fachkenntnisse erworben zu haben. Max und Allegra hatten mit Rücksicht auf die Gräfin den Gang zu Dupic stillschweigend auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben; nun aber erklärte Allegra, es müsse ein Ende gemacht werden, sie halte es im Schloß nicht länger aus.

Der alte Richard war gestorben, Allegra meinte, er habe sich absichtlich eine Lungenentzündung geholt. Er hatte den Korridor vor den vier Zimmern, die der gräflichen Familie geblieben waren, zwölf Stunden täglich mit der Beharrlichkeit eines Irrsinnigen gesäubert, eine Mumie mit dem Besen in der vertrockneten Hand. Nach seinem Tod wurde dieser Korridor zur Hölle. Der Ziehharmonikaspieler, den Richard tagsüber verjagt hatte, erfüllte schon am Morgen den Korridor mit dem marternden Gequiek. Auf dem Fußboden lagen schreiende Säuglinge. Sechsjährige Kinder, die den Weg zum Klosett scheuten, verrichteten vor den Türen ihre Notdurft. Auf langen Stricken, die über den Korridor gespannt waren, hing immer Wäsche. Halbnackte, schmutzige Weiber standen keifend umher, aus allen Zimmern kamen Schreie, strömte Gestank. 250

Die Erwachsenen und die Kinder lauerten der Gräfin auf, nur wenige Tage lang war es ihr gelungen, die Glotzenden einzuschüchtern, hemmungslos gaben sie sich der Wollust hin, die »Königliche Hoheit« zu verhöhnen.

Sie trug, obwohl sie kein Reitpferd mehr hatte – ihr Lieblingspferd wurde jetzt von Dupic geritten –, seit Richards Tod immer Reithosen, sie betrat den Korridor in Reithosen, den Reitstock in der Hand. Die Weiber und Kinder lachten ihr ins Gesicht, sie mußte sich den Weg bahnen, auf diesen Augenblick freuten sich beständig die Mitbewohner des Stockwerks. Fassungslos blieb sie vor dem Wäschestrick stehen, der als Hindernis über den Korridor gespannt war. Einmal hatte sie sich nicht beherrschen können und den Strick samt der nassen Wäsche mit einem Ruck zu Boden gerissen. Sie tat es nicht wieder, sie hatte damals unangenehme Dinge zu hören bekommen, fast hätte man ihr ins Gesicht gespuckt. Sie blieb immer konsterniert vor dem Strick stehen, dann bückte sie sich blitzschnell und ging steif und feierlich weiter, ohne sich um das Gelächter zu kümmern.

Versuche, eine Änderung herbeizuführen, waren erfolglos unternommen worden. Die Gräfin war nach Richards Tod zu ihren bayerischen Verwandten gereist und nach vier Tagen zurückgekehrt, nicht einmal der Graf erfuhr jemals, was man ihr in München gesagt hatte. Der zweite und letzte Versuch war ein Brief an Dupic, eine Beschwerde in knappen drei Sätzen; Dupic antwortete brieflich, er bedaure außerordentlich, den verehrten Herrschaften nicht helfen zu können, 251 Proletarier seien schwer von heute auf morgen an hochherrschaftliche Sitten zu gewöhnen.

Allegra hatte nach dem Einzug der neuen Schloßbewohner keineswegs gleich den Humor verloren; sie fand den Schmutz anfangs romantisch, beobachtete interessiert die Weiber, die auf dem Korridor die Säuglinge an die Brust nahmen, hörte mit Gruseln, wie die Männer ihre Weiber schlugen, aufs Bett warfen. Sie vergaß nicht, daß diese Leute nicht Proletarier, sondern Sträflinge, Verbrecher waren. Die Leidensmiene der Gräfin nahm sie nicht tragisch; vielleicht bin ich eine schlechte Tochter, dachte sie, aber, weiß Gott, ich bin der Meinung, daß man auch so leben kann. Mama sollte sich endlich eingewöhnen, sie macht sich's schwerer, als es ist. Aber nach einiger Zeit merkte Allegra, daß ihr Vater tiefer bedrückt war als die Mutter; das war kaum zu ertragen. Er hatte immer behauptet, das äußre Leben sei unwichtig, seine unveränderliche stille Heiterkeit hatte Allegras Charakter entscheidend beeinflußt. Papa ist der größte Philosoph der Welt, hatte sie immer denken müssen. Nun aber zeigte es sich, daß er allmählich zusammenbrach. Seine Augen wurden ausdruckslos, als ob er schon völlig erblindet wäre; er saß stundenlang am Klavier, ohne die Tasten zu berühren, er blieb teilnahmslos, wenn Allegra kam, hörte nicht zu, wenn sie sprach. Sie bat ihn, ein wenig zu spielen, er spielte zwei, drei Takte, dann ließ er die Arme sinken und hob den Kopf. Draußen quiekte die Ziehharmonika, draußen brüllten die Kinder. Sogar Allegra störte ihn, nie hätte sie das für möglich gehalten. Die Kinder rissen alle fünf Minuten die Tür seines Zimmers auf, er 252 sperrte die Tür, sie klopften, sie schlugen mit Fäusten an die verschlossene Tür. Auf dem Korridor tastete er sich mit geschlossenen Augen vorwärts, manchmal griff er sich plötzlich wild in den Bart, diese Geste belustigte die Kinder. Er sagte Allegra nicht, daß er leide, aber sie hörte seinen ungeduldigen Rundgang um den Tisch, nie war er ungeduldig gewesen, sie versuchte, ihn zu zerstreuen, er ging nur gezwungen auf ihren Ton ein, immer war er ungezwungen gewesen, immer war er jung mit ihr gewesen. »Könnten wir nicht einfach in eine andere Stadt übersiedeln, uns irgendwie weiterhelfen?« fragte sie einmal. Bei dieser Gelegenheit klagte der Graf zum ersten- und letztenmal. Er klagte, daß er nichts verdienen könne und keinen Heller besitze; daß er alles durchgebracht habe; daß er immer ein unfähiger Mensch gewesen sei. (Allegra wußte, daß ihre Mutter an dem Zusammenbruch schuld war, die Mutter hatte auf zu großem Fuß gelebt.)

Max verriet nicht, wo er seinen ständigen Wohnsitz hatte, er schrieb aus Leipzig, Wien, Prag und kleinen Provinzstädten lange temperamentlose Briefe, in denen nichts über seine Beschäftigung oder über den Zweck seiner Reisen stand. Wahrscheinlich ist er Agent, dachte Allegra, warum schämt er sich, es zu sagen? Selten kam er nach Boran. Er trug immer denselben Anzug, in jeder Jahreszeit, einen dunkelbraunen, sorgfältig gebügelten Anzug, die Hose war unten geflickt, wahrscheinlich ist er Agent, dachte Allegra, das ist doch nichts für ihn, er ist zu schüchtern, er kann nicht zudringlich sein. Sie brachte es nicht über sich, ihn zu fragen, wovon er lebe, sie stellte fest, daß er nicht 253 mehr vom Heiraten sprach, sondern nur in allgemeinen Wendungen sehr verlegen andeutete, es wolle ihm noch nicht recht gelingen, sich fortzubringen, es seien überall zu viele Tüchtigere. Er war zufällig in Boran, als die Entlassungen auf dem Dupicschen Großgrundbesitz das Tagesgespräch bildeten. Das könnte die Rettung sein, dachte er, nie mehr müßte ich Boran verlassen, wenn ich als Forstgehilfe bei Dupic unterkriechen dürfte, nie mehr die entsetzlichen Nachtfahrten von Stadt zu Stadt, das Klopfen an fremde Türen, die kläglichen Versuche, etwas zu verdienen, nie mehr von Allegra getrennt werden. Es durchströmte ihn heiß: lieber Gott, wenn das möglich wäre, wenn sich das verwirklichen ließe!

Er entwickelte ihr den Plan.

»Gehn wir zu Dupic«, sagte sie, ohne zu überlegen.

Die Gräfin wird es nicht zugeben, sie hebt die Verlobung auf, wenn ich in Dupics Dienste trete, dachte er, sagte aber nichts, um Allegra in ihrem Entschluß nicht wankend zu machen; auch sie dachte an die Mutter und sagte nichts, sie hatte es satt, sie konnte es nicht länger ansehen, wie der Vater sich quälte, ihm war nicht zu helfen, sie mußte trachten, sich selbst zu helfen. Scheußlich, dachte sie, so viel Anstrengung, so viel Anspannung um nichts, um fast nichts; wenn ich mir einen Mann zu erkämpfen hätte, an dem mein Herz hinge, wäre alles leicht, aber so . . . Gut, daß Max mir wenigstens nicht unsympathisch ist, vielleicht wird in der Ehe etwas mehr Wärme entstehen, wie sehr wünsche ich das, in meinem und in seinem Interesse. Ich muß mich bemühen, mich für ihn zu erwärmen. Scheußlich ist das. 254

Sie gingen zu Dupic. Er empfing sie ehrfurchtsvoll, beklagte das Los der gräflichen Familie: »Wenn ich könnte –, noch heute schmisse ich das Gesindel, das sich im Schloß einquartiert hat, auf die Straße, aber das Wohnungsamt ist unnachgiebig, ich muß meine soziale Pflicht erfüllen, heutzutage hat man ja keine Rechte, nichts als soziale Pflichten. Es zerreißt mir das Herz, daß die verehrten Herrschaften mitbetroffen sind, aber was tun? Es ist nicht meine Schuld.« Allegra fragte, ob man nicht wenigstens für mehr Reinlichkeit sorgen könnte, Dupic beteuerte, machtlos zu sein, einen Hausverwalter könne er nicht engagieren, die Zeiten seien miserabel, man müsse sparen. »Uns Alten ist nicht mehr zu helfen. Aber vielleicht kann man für die jungen Herrschaften etwas tun?« Allegra fand es charmant, daß er es Max erleichterte, das Anliegen vorzubringen; Max schwieg aber angeekelt. »Die jungen Herrschaften wollten doch heiraten, klappt vielleicht etwas nicht, kann ich den verehrten Herrschaften vielleicht behilflich sein?« fragte Dupic munter; »Herr Graf, wie sind Sie zu beneiden! Sie bekommen eine wunderbare Frau, die entzückendste Frau der Welt.« Allegra lachte: »Wenn ich so entzückend bin, geben Sie ihm eine gutbezahlte Stelle, dann laden wir Sie zur Hochzeit ein.« – »Mit Vergnügen«, beteuerte Dupic, »ich betrachte es als Auszeichnung, den Herrn Grafen als Mitarbeiter zu gewinnen, die Einladung zur Hochzeit nehme ich mit respektvollem Dank an, falls Ihre Königliche Hoheit nichts dagegen hat. Überlegen Sie, Herr Graf, welcher Posten Ihnen am besten zusagen würde.« – »Förster will er werden«, rief Allegra, »werd' 255 ich nicht eine fesche Försterin sein?« – »Entzückend«, grinste Dupic, »die Rehe und Hasen kämen in Massen gelaufen, wenn Sie, gnädigste Komtesse, in einer Försterei säßen, der Förster hätte nichts weiter zu tun, als hinter Ihnen zu stehn und zu schießen. Aber leider« -seine Miene verdüsterte sich – »leider fürchte ich, daß dem Herrn Grafen die nötigen Kenntnisse fehlen.« Nun entschloß sich Max, zu sagen, es käme auf einen Versuch an, er traue sich die Fähigkeiten zu, obwohl er auf keiner Forstakademie gewesen sei, er wolle sich rasch einarbeiten, sich eifrig ins Zeug legen, bei seinem Onkel habe er manches gelernt. Dupic schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Ein Förster ohne Forstakademie – wo denken Sie hin! Was man in der Schule nicht erlernt, kann man später nicht nachholen. Ich zum Beispiel, ich bin vielleicht nicht viel dümmer als die meisten andern Menschen; wenn ich eine Hochschule bezogen hätte, wäre vielleicht etwas aus mir geworden. Ich war aber auf keiner höheren Schule, deshalb ist nichts aus mir geworden. Aber wir werden schon etwas für Sie finden.« Er schien nachzudenken, sprang plötzlich auf, rief: »Ich hab's, ich hab's! Auf dem Bauplatz ist eine nette kleine Bretterbude für mich gebaut worden, dort können Sie gemütlich sitzen und schreiben. Ich werde Ihnen dort Briefe diktieren. Ich gebe Ihnen auch eine Wohnung. Gehn Sie sofort aufs Rathaus und setzen Sie den Termin der Trauung an, ich kann es kaum erwarten, Sie als glückliches Ehepaar zu sehn, in drei Wochen müssen Sie verheiratet sein.«

Am nächsten Tag um acht Uhr morgens erschien Max in der Bretterbude auf dem Bauplatz, dort saß er 256 von nun an täglich von acht bis zwölf, von zwei bis sechs. Hie und da erschien Dupic, plauderte ein Weilchen, nie diktierte er einen Brief. Acht Stunden täglich saß Max in der Bretterbude und stierte die Bretter an. Ich muß es aushalten, dachte er, und wenn er mir befiehlt, in eine Lehmgrube zu steigen und dort regungslos acht Stunden zu sitzen, ich muß es aushalten. Nach drei Wochen war die Hochzeit. Die Gräfin hatte kaum Widerstand geleistet. Als Max gestand, in Dupics Dienste getreten zu sein, sagte sie bloß: »Es wäre anständiger, sich zu erschießen.« Damit war es abgetan. Sie ging mit dem Grafen aufs Standesamt zur Trauung, auf die kirchliche Trauung hatte sie schweren Herzens verzichtet, nach der Trauung kehrte das gräfliche Paar schweigend ins Schloß zurück. Dupic schleppte das junge Paar ins Grand Hôtel, er hatte ein Hochzeitsmahl bestellt und sprach einen Toast »aufs Wohl der Jugend, der die Zukunft gehört«.

Max und Allegra bezogen eine Zweizimmerwohnung in einem kleinen Haus, das Dupic kürzlich gekauft hatte, sie durften Möbel und die Kücheneinrichtung aus dem Schloß in ihr neues Heim transportieren lassen, Dupic erlaubte es, sie durften eine Woche lang ungestört Flitterwochen feiern, Dupic gab dem jungen Ehemann Urlaub. Allegra hätte gern eine kleine Reise gemacht, aber sie hatten kein Geld, Max konnte sich nicht entschließen, Vorschuß zu verlangen. Stundenlang dachte er nach, wie er sich benehmen solle, um Allegra möglichst wenig zu langweilen. Er wagte nicht, sie zu fragen, ob sie zufrieden sei, er blickte sie immer nur an, er schlief wenig, weil er sich nicht sattsehen 257 konnte, nicht fassen konnte er es, daß Allegra neben ihm lag, daß es wirklich Allegra war, die neben ihm atmete und im Traum die Polster zerknüllte. Er schlief jede Nacht sehr spät ein, erst gegen Morgen, so daß er Allegras Erwachen versäumte und immer zusammenschrak, wenn er im Erwachen etwas Helles, Weißes, Rosiges neben sich sah. Allegra lag bis zum Hals zugedeckt, nur das halbe Gesicht und die nackten Arme waren sichtbar. Es ist doch alles gut geworden, dachte er, sie hätte mich am Abend nicht so fest an sich gedrückt, wenn ich ihr lästig wäre, sie hätte die Arme nicht so vergehend um meinen Hals geschlungen, wenn sie mich nicht gern hätte. Aber es entging ihm nicht, daß Allegra immer die Augen schloß und zu schlafen vorgab, wenn er erwachte, er kleidete sich leise an, dann erst schlug sie die Augen auf. Die Abende blieben wochenlang schön, wochenlang glaubte Max, es sei doch alles gut geworden, er wollte nicht zur Kenntnis nehmen, daß sie tagsüber nervös war. Allegra nervös – war das überhaupt möglich? Sie gab ihm keinen Morgenkuß; nachdem er sich entfernt hatte, erhob sie sich und schüttelte den Kopf, Max hätte sich gegrämt, wenn er dieses Kopfschütteln gesehen hätte, das immer wieder dieselben Überlegungen abschloß: Nein, es ist nicht das Richtige.

Dann kam die Zeit der trüben Abende. Manchmal machte Allegra sich stundenlang im Nebenzimmer oder in der Küche zu schaffen, Max ging zu Bett und wartete. Wenn sie doch käme, dachte er, ich bekomme sie überhaupt nicht mehr zu Gesicht, nur während der Mahlzeiten. Was hat sie so lange in der Küche zu tun, 258 bleibt sie so lange in der Küche, um nicht bei mir sein zu müssen? »Bist du bald fertig, es ist schon spät«, rief er. »Gleich, gleich«, antwortete sie, aber sie kam nicht, sie blieb draußen, bis er eingeschlafen war. Manchmal aber ging sie schon um acht Uhr abends zu Bett, sofort nach dem Abendessen; während des Essens warf sie hin: »Ich hab' Kopfschmerzen«, da wußte er, daß sie ihn an diesem Abend nicht mehr sehen und hören wollte. Sie legte sich in den Kleidern ins Bett und rührte sich nicht. »Willst du dich nicht ausziehn, darf ich dir helfen?« fragte er. »Später«, hauchte sie. Er nahm ein Buch und las, er las nicht, verstohlen schielte er zu Allegras Bett hinüber. Nach einer Stunde ging er zu Bett und fragte leise: »Wirst du in den Kleidern schlafen? Das ist nicht gut, du wirst nicht gut schlafen.« Er wußte, daß sie wach war. Sie antwortete aber nicht, rührte sich nicht. Er drehte das Licht ab und wartete. Lange blieb sie regungslos, endlich machte sie sehr vorsichtig eine Bewegung, als ob sie sich vergewissern wollte, daß er schlief, dann atmete sie erleichtert auf und entkleidete sich im Dunkeln und schlief ein. Vielleicht wacht sie die ganze Nacht, dachte Max, jedenfalls hat sie erleichtert aufgeatmet. Jetzt sind wir ein paar Wochen verheiratet, wie wird das später werden? Es kamen aber zuweilen bessere Tage. Manchmal war Allegra ausgelassen wie in früheren Zeiten, mittags speisten sie in einem Gasthaus, an manchen Tagen holte sie ihn in seiner Bretterbude ab und nahm seinen Arm und lachte: »Geh stramm, man soll sehen, daß ich einen Dragoneroberleutnant geheiratet hab'.« Sonderbar, dachte er, das hab' ich ganz vergessen, daß ich 259 einmal Dragoneroberleutnant gewesen bin, vielleicht gefiele ich ihr besser, wenn ich ein richtiger Dragoneroberleutnant gewesen wäre wie meine Kameraden, diese feschen Idioten. Aber nein, ich tu ihr unrecht, ich muß ihr Zeit lassen, sie muß sich erst in dieses ärmliche Leben hineinfinden, es ist doch kein Spaß, dieses Leben in der Zweizimmerwohnung, dieses schlechte Essen im Gasthaus – und daß ich kein sehr amüsanter Mann bin, ist eine feststehende Tatsache. Ich muß trachten, mich zu ändern und unseren Lebensstandard zu bessern.

Zwei Monate verbrachte er in der Bretterbude, dann schien Dupic plötzlich den Entschluß gefaßt zu haben, den Bau zu Ende zu bringen. Die Bauplätze belebten sich, die Arbeiten kamen in Schwung. Im Herbst 1922 waren die sechs Fabriken fertig.

Alle sechs Kunstseidefabriken begannen gleichzeitig zu arbeiten. Fast alle Boraner, die in den Fabriken arbeiten wollten, wurden untergebracht. Nun arbeitete buchstäblich ganz Boran für Dupic.

Max wurde Buchhalter. Er saß in der Nähe des Chefzimmers unter den Buchhaltern, er hatte sehr viel zu tun, kam selten vor neun Uhr abends nach Hause, die Arbeit tat ihm wohl, die Arbeit war erträglicher als die freie Zeit. Es hatte sich immer deutlicher herausgestellt, daß Allegra und er nichts miteinander anzufangen wußten. Er erzählte ihr täglich Wunderdinge von Dupic. Das kann doch nicht jahrelang so weitergehen?! dachte Allegra. »Jahrelang könnte ich Dupic zusehn, ohne zu ermüden«, pflegte Max zu sagen, »du kannst dir nicht vorstellen, was er treibt, es ist unglaublich, was alle sich von ihm gefallen lassen, auch ich übrigens. 260 Da hat es jahrzehntelang eine erfolgreiche Arbeiterbewegung gegeben, da ist jahrzehntelang ein sogenanntes Klassenbewußtsein in der Arbeiterschaft geweckt worden, in mehreren Staaten sind die Arbeiter sogar zur Regierung gelangt – und ein einziger Mensch bringt es mit Leichtigkeit fertig, alle Gesetze der Zeit umzustoßen.«

Allegra hörte interesselos zu. Ihre Augen hatten oft den Ausdruck tiefen Erstaunens. Ist es möglich, daß ich es bin, die jeden Abend diesem subalternen Menschen gegenübersitzt, mit ihm schlafen geht, die Pflicht übernommen hat, ihm zuliebe auf die ganze Welt zu verzichten? dachte sie. Ist es möglich, daß es jahrelang so weitergeht, vielleicht das ganze Leben lang? Das kann nicht sein, das ist nicht möglich.

Er ahnte ihre Gedanken, er war jeden Abend gefaßt, eine leere Wohnung und einen Abschiedsbrief vorzufinden. Wenn er abends das Haus betrat und Allegra gegenüber Platz nahm, dachte er: Wieder ein Tag gewonnen. Und sie: Wieder ein Tag verloren.

 


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