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Da stand er nun, der gewaltige Mann, und erlebte einen großen Augenblick. Ja, er war ein wenig zufrieden mit sich; aber er sah nicht aus wie ein gewaltiger Mann, der Großes erlebt. Bescheiden stand er am Hauptportal, ein demütig lächelnder Alter. Er hatte den Kragen des unmodernen schwarzen alten Überziehers hochgeschlagen. Den zerdrückten schwarzen alten Hut, dessen Krempe grünlich wie Schimmel fleckte, hielt er in der Hand, barhäuptig wollte er seine Gäste empfangen.
Als es acht schlug, kamen die ersten Gäste. Der Bürgermeister, die Stadtverordneten mit ihren Damen erschienen pünktlich. Sie kamen in großer Gala, Herren im Frack, pompöse Damen, manche fett und dumm lächelnd in unmodischem Feiertagskleid, manche schlank und elegant. Dupic küßte den Damen die Hände, verbeugte sich devot vor den Herren, er war wie umgewandelt, kaum erkannten sie ihn wieder, er hatte ihnen mehr als einmal gezeigt, wie unangenehm er werden konnte, mit tausend Listen und Ränken hatte er sie in Furcht und Unruhe versetzt. Heute war er 288 demütig. Er wisse die Ehre zu schätzen, versicherte er, unter tiefen Verbeugungen geleitete er »die Hochzuverehrenden« in den Festsaal, dann kehrte er zum Hauptportal zurück. Die Gäste warteten. Kein Kellner ließ sich blicken; auch von den fremden Damen, über die man Erregendes gemunkelt hatte, war nichts zu sehen. Man vertrieb sich die Zeit mit der Besichtigung des Saals. Es war nicht viel zu sehen: eine riesige Tafel in Hufeisenform, eine Menge kleiner Tischchen, aber nichts Festliches. Es war ein erschreckend nüchterner Riesensaal ohne Dekorationen, kahl die Wände, kahl die Tafel. »Wenigstens ein paar Blumen hätte er spendieren können«, sagte eine der Damen, »wenigstens ein Bier hätte man gern«, brummte ein Stadtrat, »wenigstens anstandshalber hätte er uns Gesellschaft leisten sollen«, grollte die Frau des Bürgermeisters.
Dupic hatte die Arbeiter gebeten, um halb neun zu erscheinen; die Bürger um acht, die Arbeiter um halb neun. Die Bürger müssen festsitzen, bevor die Arbeiter erscheinen, hatte Dupic beschlossen; kämen die Arbeiter zuerst, so wären die Bürger imstande, im letzten Augenblick Reißaus zu nehmen; wenn sie aber bereits sitzen, können sie nicht beim Erscheinen der Arbeiterschaft aufspringen und das Lokal verlassen, eine derartige Provokation wagen sie nicht. Bescheiden stand er am Hauptportal, ein demütig lächelnder Alter. »Bitte hereinspaziert, meine Hochzuverehrenden«, buckelte er. Die Rechtsanwälte, Beamten, Kaufleute, Handwerker, alle kamen, Deutsche und Tschechen, Christen und Juden. Den Arbeitern, die vor halb neun das Haus umstanden, flüsterte Dupic zu: »Wartet noch ein 289 kleines Weilchen, Freunde, ihr seid die Hauptpersonen, für euch ist dieses Haus gebaut worden, ihr werdet die feinen Leute da drinnen dezimieren.«
Um halb neun warf er einen Blick in den Saal. »Eine Sekunde, Herr Bürgermeister, jetzt kommen die letzten Gäste, dann kann's losgehn«, rief er dem Bürgermeister zu, riß eine Tür auf, plötzlich brach der betäubende Lärm eines Jazz-Orchesters los. »Sogar ein Saxophon haben wir«, rief Dupic strahlend, rannte zum Hauptportal und lud ein: »Meine Freunde, nehmt euer Haus in Besitz.« Schweinebande, dachte er, die meisten sind nicht gekommen, von Elsa Buxbaums Arbeitern fast niemand. Aber er unterdrückte seinen Unmut, mit demütigem Lächeln führte er seine Arbeiter in den Saal, wie ein armseliger alter Diener sah er aus, der hochgestellte Gäste in ein vornehmes Haus geleitet, mit demütigem Lächeln bat er: »Gestattet, daß ich unter euch Platz nehme.«
Befrackte Kellner umschwirrten plötzlich die Tafel, lauter fremde Gesichter. Die Speisen und Getränke kamen durch einen Schacht aus der Küche und den Vorratskammern in den Saal direkt auf das Büfett gerollt, diese neueste Errungenschaft des Jahrhunderts interessierte brennend die Damen. Dupic saß zuerst unter den Arbeitern, dann trug er seinen Sessel zum Bürgermeister, der nicht wußte, ob er eine Rede halten müsse. »Lieber nicht«, meinte Dupic, »man könnte glauben, ich will mich feiern lassen, das wäre mir peinlich; die Boraner sollen sich hier glücklich fühlen« – er zwinkerte –, »ganz, als ob ich nicht vorhanden wäre.«
Er schien sehr aufgeräumt, aber er war nicht ganz 290 zufrieden, die sozialistischen Parteien waren auffallend schwach vertreten; auch war es ärgerlich, daß man, entgegen seinem Befehl, die Fenster verhängt hatte. Er ließ die Vorhänge hochziehen und blickte hinaus: Bravo, draußen standen sie ja alle, die zu stolz waren, sich von ihm bewirten zu lassen, sie drückten die Nasen an die Scheiben, gierige Augen glänzten.
Dupic ging zum Hauptportal, dort standen Unschlüssige, liebreich lächelte er ihnen zu: »Nicht mir gehört dieses Haus, euch gehört es, nicht meine Gäste seid ihr, an euren eigenen Tisch sollt ihr euch setzen! Wenn ihr wollt, belästige ich euch nicht mit meiner Anwesenheit, ihr dürft mir euer Haus verbieten, es ist euer gutes Recht.« – »Mit den Bürgerlichen setzen wir uns nicht an einen Tisch«, rief ein couragierter Achtzehnjähriger. – »Gut, so vertreibt die Bürgerlichen, ihr seid ja die Mehrheit«, lachte Dupic. »Komm, Söhnchen, pack den Bürgermeister bei der Krawatte und sag ihm: ›Das ist mein Platz.‹«
Da die Arbeiter dennoch nicht eintreten wollten, ließ Dupic die beiden Tore an der rückwärtigen Hausfront und die kleinen Säle öffnen; von hinten werden sie kommen, dachte er. So sicher war er seiner Sache, daß er sich um die Arbeiter einstweilen überhaupt nicht mehr kümmerte und ein Weilchen seinen Beamten Gesellschaft leistete. Er sprach Max Königsegg an: »Mein lieber Graf« – in der Fabrik pflegte er einfach »Königsegg!« zu rufen –, »mein lieber Graf, wie schade, daß die Gräfin uns nicht mit ihrer Anwesenheit beglückt, sie hätte unserem Fest den richtigen Glanz gegeben. Jetzt muß es bald ein Jahr sein, seit sie uns verlassen hat.« 291
»Es war vor dreizehn Monaten«, erwiderte Max höflich, mit starren Augen.
»Wohl ein schwerer Schlag für Sie gewesen, lieber Graf; ich habe es aufrichtig mitempfunden. Das hätte sie nicht tun sollen, das war gar nicht nett, das war ziemlich rücksichtslos, einfach bei Nacht und Nebel –«
»Ich bitte«, unterbrach ihn Max scharf und war plötzlich der Dragoneroffizier Graf Königsegg, »ich wünsche nicht, daß von der Gräfin in diesem Ton gesprochen wird.«
Dupic machte große Augen, Max wischte sich den ausbrechenden Schweiß von der Stirn, im Nu war er wieder der kleine Buchhalter. Leise sagte er: »Verzeihen Sie, Herr Dupic. Ich bin in diesem Punkt empfindlich. Übrigens ist es ein Märchen, daß meine Frau bei Nacht und Nebel durchgebrannt ist. Ich selbst habe sie damals zur Bahn gebracht und die Fahrkarte nach Paris gelöst. Es lag ein vorteilhaftes Angebot von der Prinzessin Esterhazy vor, ich konnte der Gräfin nicht raten, es auszuschlagen.«
»Die Damen haben einen Salon in Paris, wenn ich nicht irre«, lächelte Dupic.
»Jawohl, eine Schneiderei.«
»Oh! Respekt, Respekt! Tüchtige Damen, durchaus zeitgemäß tüchtige Damen! Eine Gräfin Thun-Königsegg und eine Prinzessin Esterhazy als Schneiderinnen – alle Achtung!« Er klopfte Max auf die Schulter: »Mein lieber Graf, das sogenannte schwache Geschlecht ist uns über; seien wir ehrlich. Bei uns zum Beispiel die kleine Buxbaum, dieses arrogante Judenmädel – Donnerwetter! Tüchtige Damen, 292 bewunderungswürdige Damen. Na, mir macht's Spaß, Ihnen hoffentlich auch.«
»Das Leben findet die weisesten Lösungen«, murmelte Max nachdenklich und verstummte.
»Sehr richtig«, lächelte Dupic, »die weisesten Lösungen, das haben Sie sehr gut gesagt. Nun, und kommt sie nicht wenigstens einmal in der Zeit, Sie besuchen? Ich meine, eine so junge Frau –«
Max machte eine schwach abwehrende Handbewegung. Dupic beugte sich über ihn: »Wenn Sie vielleicht einmal nach Paris fahren wollen – ich gebe Ihnen Urlaub.« Max rührte sich nicht. »Jederzeit können Sie den Urlaub haben«, wiederholte Dupic und stand auf; »einstweilen unterhalten Sie sich gut, ich will Ihnen einen besonderen Wein schicken, einen alten ungarischen.«
Inzwischen hatten sich die kleineren Säle gefüllt, die Widerspenstigen, die Dupics Einladung ausgeschlagen hatten, waren durch die rückwärtigen Tore eingedrungen. Der Polizeichef beobachtete unruhig die Stimmung und machte Dupic auf »gewisse Elemente« aufmerksam. Dupic versicherte, alles werde programmgemäß verlaufen; es sei dafür gesorgt, daß niemand Zeit zu unvorhergesehenem Unfug finden könne; einstweilen werde gefressen und gesoffen, später solle noch ein übriges getan werden, um die Leute von unliebsamen Gedanken abzubringen.
Um zehn Uhr erklärte er, den Gästen das ganze Haus zeigen zu wollen; inzwischen werde der große Saal in einen Tanzsaal verwandelt. Die Menge brach auf und folgte Dupic, der den Bürgermeister am Arm hielt; 293 niemand war mehr vollkommen nüchtern, auch die Damen hatten glänzende Augen. Man besichtigte die kleineren Säle und fand dort trinkende Arbeiter und die fremden Mädchen, von denen tagsüber die Rede gewesen war. Auch im ersten und zweiten Stock, überall schimmerten nackte Mädchenrücken. Viele Ehemänner machten sich von ihren Frauen los und überzeugten sich, daß Dupic, dieser Teufelskerl, es tatsächlich gewagt hatte, »Kokotten« nach Boran zu bringen. Das ungewohnte Wort »Kokotten« – der betrunkene Erste Stadtrat hatte es als erster gefunden – rief maßlosen Schrecken und maßlose Hoffnungen hervor. Dupic raunte den Männern zu: »Erstklassige Mädchen, keine über zwanzig Jahre alt.« – »Die Blonde dort dürfte Temperament haben; rassiges Köpfchen.« – »Bitte, diese Beine zu beachten.« – »Sieht diese Schwarze nicht wie eine Südseeinsulanerin aus?« Er machte auch derbere Bemerkungen, die derbsten warf er dem Bürgermeister und dem Polizeichef hin, und zwar so laut, daß auch die andern alles hören konnten. Seht, schien Dupic verkünden zu wollen, die Behörde muß mit allem einverstanden sein, die Gesetze von Boran mache ich, niemand sonst, die Behörde hat zu kuschen. – »Alles in diesem Haus ist höchst sinnvoll und zweckmäßig eingerichtet«, erklärte er laut, »alles Überflüssige ist ausgeschaltet: Hier ist ein Hotel für Liebesbedürftige, wer ein Zimmer braucht, öffnet einfach eine Tür und sperrt zu.« Einige Damen suchten entrüstet ihre Männer, fanden sie nicht, entdeckten, daß das Publikum in den letzten Minuten gewechselt hatte. Im Erdgeschoß dröhnte Musik. 294
Die Entrüsteten flüchteten, alle Ordnung schien aufgelöst. Der große Tanzsaal schien zu bersten, die Wände schmetterten, die Luft war betäubend schwer, die langsamen Tanzrhythmen machten die Knie der Männer schwach, schwer atmend suchten die Bürger ihre Frauen und verließen mit zitternden Knien das Haus. Arbeiter, die mit ihren Frauen gekommen waren, rissen sich fluchend vom Anblick rotgefärbter Mädchenlippen los und gingen in die kleineren Säle trinken, manche packten ihre Frauen, ihre Mädchen, torkelten in den ersten Stock, in den zweiten Stock, in das erste freie Zimmer. Manche, die es zaghaft gewagt hatten, mit einem der fremden Mädchen zu tanzen, wurden tollkühn, trugen die Tänzerin über die Stiegen, heiß atmend warteten sie vor einer versperrten Tür, bis ein Paar aus dem Zimmer taumelte und Platz machte.
Seltsam sah Dupic aus. Er stand in der Nähe des Jazzorchesters, aber er hörte nicht die dröhnenden Tuben und Pauken, die Wahnsinnsschreie der Jazzinstrumente, Tringolo, Carillon und Saxophon, das Maschinengewehrfeuer der kleinen Trommeln, er lauschte nach oben, als hörte er über sich eine Musik, einen Gesang, einen Ruf. Die Arbeiter, die ihm in der Fabrik scheu auswichen, fanden sein entrückt lauschendes Gesicht unheimlicher als das erbarmungslose Dupic-Gesicht, das sie kannten, mancher verließ den Saal, weil es ihn beim Anblick Dupics kalt überlief. Dupic stellte sich in die Tür eines kleinen Saals, blickte in die Wolke aus Rauch und Weindunst, halbnackte Mädchenkörper, Arbeiterblusen, golden glühende Augen leuchteten auf und verschwanden, er nickte der Wolke zu, grinste: 295 »Sauft und liebt euch satt!« Er beobachtete ein Paar, das sich in ein Zimmer schlich, er lächelte, es waren ein Arbeiter und eine Arbeiterin aus der Buxbaumschen Fabrik. Noch immer kamen Nachzügler, lauter Arbeiter aus der Buxbaumschen Fabrik, sie traten ein, sie tranken Wein, verschwanden in der goldenen Wolke der maßlosen Nacht.
Vor Mitternacht kam Peter. Er hatte seit acht Uhr den Blick nicht von dem neuen Haus gelassen. Er hatte die Lichter aufflammen und die Bürger eintreten gesehen. Er hatte das unentschlossene Umherstehen der Arbeiter, ihr Eindringen durch die rückwärtigen Tore beobachtet. Er ahnte, was sein Vater unternahm. Lange zögerte er, ihm heute zu begegnen. »Freude unter die Menschen bringen« – Peter ahnte nun, was dieses Wort des Vaters bedeutet hatte. Nach vierstündigem Zögern entschloß er sich, den Vater aufzusuchen.
Die Woge des Weindunstes nahm ihn auf. Im Keuchen der Menschentiere, im Geschmetter des Orchesters, im Gerülpse der Betrunkenen suchte er seinen Vater. Er fand ihn vor dem Hause, an einem Tor der rückwärtigen Front. Dupic sah ihn nicht, Dupic stand in seinem alten, schwarzen, unmodernen Überzieher im Wehen des kalten Oktoberwinds, er lauschte nach oben, als hörte er über sich eine Musik, einen Gesang, einen Ruf.
»Vater!« rief Peter.
Dupic erschrak, faßte sich aber sofort und lachte: »Gratiskonzert.« Er lauschte, lachte: »Gratisunterhaltung. Heute haben sie alles gratis. Hörst du, wie sie sich freuen? Alles, was Füße hat, ist gekommen, auch 296 die Arbeiter deiner Freundin. Aus dem Anti-Dupic-Verein wird nichts werden.«
»Wirst du oft solche Feste geben?«
»Jeden Tag. Heute haben sie alles gratis, von morgen an müssen sie bezahlen. Von morgen an gewähre ich ihnen Kredit. Jeder kann jederzeit fressen und saufen und ein Mädchen haben, jedem wird Kredit eingeräumt, keiner braucht bar zu bezahlen. Das wird nämlich ein mächtiger Anreiz sein, mein Lieber. Willst du hineingehn? Ich zeig' dir alles. Du wirst staunen, wie zweckmäßig alles eingerichtet ist.«
Peter drehte sich um und entfernte sich. Vor ihm, hinter ihm torkelten Betrunkene. Er torkelte wie sie.