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Der sechsundzwanzigjährige Kriegsgefangene Karl Buxbaum trat im Oktober 1918 die Heimreise an. Was 138 ihm bis zum Tag der Gefangennahme widerfahren war, unterschied sich kaum von den Erlebnissen der Millionen, die gleich ihm in den Krieg getrieben worden waren. Sein Haß gegen den Krieg, seine Furcht vor Verkrüppelung und Tod war stumm geblieben, er hatte sich schon vor dem Krieg, schon als Gymnasiast und später als Student in Prag stumm gegen die Ungerechtigkeit der herrschenden Weltordnung empört. Er war Jurist geworden, weil er als Jurist am ehesten gegen die bürgerliche Gesellschaft kämpfen zu können geglaubt hatte. Er machte schlimme Erfahrungen. Die gleichgesinnten Studenten, mit denen er verkehrte, berauschten sich an Phrasen. Wagte er einmal, den Älteren seine Enttäuschung, seine erbitterte Ratlosigkeit zu gestehen, hieß es: Unreifer Junge.
In den ersten Tagen des Krieges hatte er die schmerzliche Genugtuung, alle seine Ahnungen bestätigt zu sehen. Daß dieser Krieg nur um die gemeinsten Güter, um Geld und Macht, geführt werde, war ihm klar. Daß die Sozialisten aller Länder begeistert oder bestenfalls stumm den Regierenden gehorchten, überraschte ihn nicht, er hatte nichts anderes erwartet. Er selbst wurde vom Wahnsinn der Kriegsbegeisterung zwar nicht mitgerissen, aber immerhin beeinflußt. Vielleicht müsse man den Krieg wirklich als reinigendes Gewitter auffassen. Diese Unsicherheit dauerte nicht lang, der erste Verwundetentransport, den er auf einem Prager Bahnhof sah, bestimmte endgültig seine Haltung. Es litt ihn nicht in dem stillen Boran, er fuhr schon Mitte September nach Prag, nach der Ankunft las er in den Zeitungen, ein Zug mit dreihundert Verwundeten solle an 139 diesem Abend eintreffen. Zur angesagten Stunde stahl er sich auf den abgesperrten Perron, dort stand der lange hagere Statthalter Fürst Thun in Beamtenuniform, der unnahbare Aristokrat, in dessen Nähe niemand sich wagte. Karl stellte sich hinter ihn, gleich darauf fuhr der Verwundetenzug langsam ein, die Waggontüren wurden aufgerissen, der Statthalter nahm gnädig die Meldung des Kommandanten entgegen, der lange Zug der Tragbahren wurde in die mit dem Roten Kreuz gekennzeichneten Elektrischen dirigiert, auf jeder Bahre lag ein angeschossener, regungslos den Schmerz verbeißender Mensch, es waren fast lauter Schwerverwundete. Ein fröhliche junge Dame in Schwesterntracht hob neugierig die Decke eines Verwundeten, ließ sie rasch fallen, der Mann hatte keine Beine. Karl sah die Stümpfe von diesem Abend an immer vor sich, wenn er die Siegesmeldungen las, wenn er die patriotischen Umzüge anglotzte, die von den eingeschüchterten Tschechen mit stummer Wut geduldet werden mußten. Er sah sich selbst mit weiß umhüllten Stümpfen auf der Tragbahre liegen, sooft er zur Musterung befohlen wurde. Bei der dritten Musterung, im Sommer 1915, hörte er das gefürchtete »Tauglich«, im Herbst kam er mit einem tschechischen Regiment an die russische Front, wurde mit dem ganzen Regiment, das sich rasch mit den Russen verständigte, gefangengenommen, nach Sibirien transportiert. Im Winter wurde er dem Rechtsanwalt und Gutsbesitzer Wladimir Dmitriewitsch Michowski in Topolka, einem elenden Städtchen, zur beliebigen Verwendung übergeben.
Karl merkte schon am ersten Tag, daß er sich unter 140 guten Menschen befand. Michowski, ein schweigsamer, in sich gekehrter Mann, war mehr Gutsbesitzer als Jurist, mehr Bauer als Gutsbesitzer. Er trachtete die Streitigkeiten der Bauern patriarchalisch auszugleichen, jeder Weg zu Gericht fiel ihm lästig.
Karl war schwächlich, grobe Arbeiten konnte man ihm nicht zuweisen; er zeigte aber guten Willen und bemühte sich, seine manuelle Ungeschicklichkeit zu verheimlichen. Trotzdem beabsichtigte Michowski, ihn im Frühling ins Gefangenenlager zurückzusenden und einen geeigneteren Helfer anzufordern. Inzwischen hatte Karl jedoch seine russischen Sprachkenntnisse so weit verbessert, daß er sich einigermaßen verständlich machen konnte; die beiden Männer hatten, wie sich nun herausstellte, eine gemeinsame Abneigung, die Juristerei; diese Übereinstimmung fesselte einen an den andern mehr als eine gemeinsame Liebhaberei. Karl machte sich erbötig, dem Rechtsanwalt nach und nach Kanzleiarbeiten abzunehmen. So kam es, daß er blieb.
Er sah die furchtbaren Leiden des russischen Volkes. In den Dörfern, die er mit dem Rechtsanwalt besuchte, sah er unvorstellbares Elend. Als die Revolution kam, glaubte er, alle Völker seien nun reif, sich zu befreien, der Weltfriede müsse nun beginnen. In Topolka glaubte man mißtrauisch, der Kriegsgefangene freue sich, weil Deutschland nun siegen werde. Der Rechtsanwalt meinte vorsichtig, man müsse nun abwarten, was das neue System bringen werde. Es brachte Krieg, bei Topolka gab es Schlachten zwischen Koltschaks Truppen und den Bolschewiken, der Rechtsanwalt unterstützte 141 anfangs die Weißen, sie vergalten es ihm schlecht, plünderten den Hof, schändeten die Mägde. Karl fand alle seine Forderungen an die Welt in den Manifesten und Flugblättern der Bolschewiken wieder, er versuchte den Rechtsanwalt zu bekehren. Eines Tages, als die Stadt von Donkosaken heimgesucht worden war, flüchtete Michowski ins Ausland. Karl entschloß sich zur Heimreise. Er nahm sich vor, nur einige Tage in Boran zu bleiben, vor Weihnachten wollte er unbedingt nach Moskau.
Auf dem Boraner Bahnhof wurde er vom Vater und von der Schwester erwartet, den Vater fand er erschreckend gealtert, mehr noch überraschte ihn das ernste, wissende Gesicht der Schwester, die er sich als dummes kleines Mädchen vorgestellt hatte. Sie war schön, aber ein nervöses Blinzeln und ein Zucken um ihren Mund zerstörten oft die Schönheit.
Das Land war unruhig, auf dem Kirchturm der nahen Stadt Brüx hatte die Bürgerwehr ein Maschinengewehr aufgestellt, am Abend nach Karls Heimkehr kam die Nachricht, es seien in Brüx zehn Menschen getötet worden. Die Prager Regierung sandte Truppen in deutsch-böhmische Städte, in Reichenberg hatte sich eine Gegenregierung gebildet, die den Anschluß Deutschböhmens an Deutschland proklamierte, Reichenberg wurde von tschechischem Militär besetzt, die deutsche Gegenregierung setzte sich in Teplitz fest, sie mahnte Wilson an sein Wort vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Man sprach überdies von einer bevorstehenden Mobilisierung gegen Ungarn. Von diesen Konflikten hatte Karl nichts geahnt, er suchte die 142 Stimme des Proletariats, er fand überall nationale Kämpfe. Europa schickte sich an, den Krieg der Nationen auf unbestimmte Zeit zu prolongieren. Karl verschob die Abreise von Woche zu Woche, am letzten Tag des Jahres entschloß er sich endgültig zu bleiben. Wo er stand, war sein Kampfplatz, überall verrieten die Menschen einander, das war ihm klar. Überall gab es Parteien mit Sonderinteressen, jede Partei spaltete sich in Gruppen und Untergruppen. Jeder Mensch in dieser Zeit, sagte er sich, trägt die Verantwortung für die nächsten hundert Jahre, und jeder drückt sich; ich werde mich nicht drücken. Aber das Leben, das er führte, verhöhnte ihn, wie vor dem Krieg war er ein ruhiger Student, fuhr nach Prag, Prüfungen machen, ein überflüssiger, überzähliger Mensch wie die meisten andern.
Eines Abends, in der letzten Januarwoche, ging er, ein reparaturbedürftiges Paar Schuhe in der Hand, zu einem alten Schuster namens Prikryl, den er seit vielen Jahren kannte. Vor der Werkstätte hörte er ein hemmungsloses Schluchzen, es war der alte Mann, der so fassungslos weinte. Karl lauschte verwundert. Der alte Schuster, Witwer von heiterer Gemütsart, harmloses Kind von sechzig Jahren, hatte im Krieg die Gelegenheit versäumt, sich zu bereichern, rechtzeitig Ledervorräte zu häufen, wie es die Konkurrenten getan hatten. Seine Tochter, ein dreißigjähriges mageres Mädchen, hatte eine Zeitlang in der Kunstdüngerfabrik gearbeitet, seit der Schließung der Fabrik litten sie Not, zwei Personen konnte die Schusterwerkstätte nicht ernähren. Karl wartete minutenlang, das Schluchzen hörte nicht auf, er klopfte. Die Tochter kam öffnen, 143 wollte vor der Tür die Schuhe übernehmen, Karl fragte, warum der Vater weine, er hatte ihn seit fünf Jahren nicht gesehen, aber er erinnerte sich noch an die lachenden Augen des kindlichen Mannes, nie hatte er ihn anders als heiter und sorglos gesehen. »Er will sich aufhängen«, sagte das Mädchen trocken. Sie hatte Karl nicht nach dem Namen gefragt, es war nicht anzunehmen, daß sie ihn kannte. – »Aufhängen?« sagte Karl, »was tun Sie da? Warum lassen Sie ihn allein?« – »Ich werde ihn nicht hindern, was hat man denn vom Leben«, sagte das Mädchen gleichmütig, »wenn ich so alt wäre wie er, meiner Seel', ich tät' es auch.« – »Lassen Sie mich zu ihm«, flüsterte Karl und trat ein.
Der Alte saß auf seinem Schusterschemel, den Kopf zwischen die Knie gepreßt, so hockte er und schluchzte, ohne sich um den Eintretenden zu kümmern. Karl wollte das Mädchen ausfragen, sie setzte sich in eine Ecke und blickte auf ihre Hände nieder, große, grobe, rötliche Arbeitshände, die das bleiche, schmale Gesicht tragödinnenhaft erscheinen ließen. Sie gab keine Antwort; als Karl in sie drang, ihm den Grund dieser Verzweiflung zu nennen, lehnte sie mit einer verächtlichen Handbewegung ab. Er versuchte, mit dem Schuster zu sprechen; der Alte stieß wie ein Kind mit beiden Armen um sich, ohne aufzublicken. Karl bat das Mädchen, ihn mit dem Alten allein zu lassen. Sie nahm ein Tuch um den Kopf und ging.
Karl schob sich einen Stuhl neben den Schemel des Alten. Die plötzliche Stille schien den Schuster zur Besinnung zu bringen, sein Schluchzen wurde schwächer, hörte ganz auf. Karl legte den Arm um die Schulter des 144 Zusammengekauerten und wartete. Der Alte hob den Kopf und blickte Karl an, aus den entzündeten Augen fielen die letzten Tränen langsam und schwer auf die Arbeitsschürze nieder. Nun glaubte Karl fragen zu dürfen. Der Alte verstand vielleicht kein Wort; aber er begann unartikulierte Laute hervorzustoßen, dann ein Wort, einen halben Satz; zuletzt konnte er ganz sein Herz entladen.
Er hatte von Dupic fünfhundert Kronen erhalten und einen Wechsel unterschrieben, am heutigen Tag war der Wechsel fällig, der heutige Tag hatte folgende Ereignisse gebracht:
Am frühen Morgen begibt sich der Schuster zu Dupic und bittet um Prolongierung des Wechsels. Dupic verhält sich schroff ablehnend, erklärt, das Geld gehöre einer Gesellschaft, als Bevollmächtigter dieser Gesellschaft müsse er Forderungen pünktlich eintreiben. Plötzlich fragt er: »Wie heißt doch das Fräulein Tochter?« – »Manja«, antwortet Prikryl erstaunt. – »Gut, das Fräulein Manja soll sich den Wechsel holen«, grinst Dupic. Der Schuster beginnt zu zittern, brüllt: »Meine Tochter ist keine Hure!« – »Reden Sie keinen Unsinn«, sagt Dupic, »fragen Sie Ihre Tochter, dann reden wir weiter.« Der Schuster taumelt zurück, taumelt nach Hause. Wutbebend berichtet er der Tochter, sie erschrickt, wendet sich ab, der Vater springt ihr an die Kehle, sie schüttelt ihn ab, sagt gelassen: »Es ist wahr, aber es hat sein müssen.« Dann erzählt sie. Als die Entlassungen in der Fabrik begannen, bestimmte der Direktor, welche Arbeiterinnen zu entlassen waren. Die ihm zu Willen waren, hatten die Entlassung bis zur 145 Stillegung der Fabrik nicht zu fürchten. So war es gekommen. Woher Dupic es wußte? Vielleicht hatte eines der Mädchen es weitererzählt, vielleicht der Direktor selbst, er war selbst stellenlos geworden und hatte sich dem Trunk ergeben. Die Tochter steht vor dem Vater ruhig und würdig, nicht anders als sonst. Er sagt nichts mehr, er seufzt und beginnt zu arbeiten. Am Nachmittag fragte Manja, ob er nicht noch einmal wegen des Wechsels zu Dupic gehen wolle, er will nicht, sperrt die Werkstätte ab. Gegen fünf Uhr nachmittag erscheint Dupic. Der Schuster gibt Manja einen Wink, sie begibt sich ins Wohnzimmer, das neben der Werkstätte liegt. Sie horcht an der Tür, sie hört jedes Wort, das in der Werkstätte gesprochen wird. Dupic spricht in wohlwollendem Ton. Er sagt: »Ich komme wegen des Wechsels. Wollen wir nicht die Sache in Ordnung bringen?« Der Schuster antwortet: »Ich kann nicht zahlen.« Dupic setzt sich, fragt: »Wollen Sie wirklich vor Gericht wegen so einer Lappalie?« Der Schuster antwortet, ohne zu überlegen: »Jawohl, klagen Sie den Wechsel ruhig ein.« Dupic: »Der Bürgermeister und die Genossenschaften, alle tanzen, wie ich pfeife. Wenn ich will, sind Sie ein ruinierter Mann.« Der Schuster überlegt, atmet schwer, findet kein Wort. Dupic sagt leise: »Rufen Sie Ihre Tochter.« – »Nein!« brüllt der Schuster, aber in diesem Augenblick steht Manja bereits in der Tür, ihr Gesicht einer bleichen Tragödin ist seitlich geneigt, sie spricht ruhig und würdevoll Dupic an: »Was wollen Sie von mir?« Und, da er nicht antwortet: »Was wollen Sie von meinem Vater? Was treiben Sie mit uns armen Leuten Spott?« Dupic 146 blickt in das fahle Tragödinnengesicht, blickt auf die großen groben Arbeitshände des Mädchens und sagt: »Ich will Ihnen den Wechsel schenken, Fräulein.« Vater und Tochter halten den Atem an, das Mädchen ballt unwillkürlich die Fäuste. Und nun neigt Dupic sich vor und sagt in ruhigem, gleichmütigem Ton: »Geben Sie mir einen Pinsel und Leim, Vater Prikryl, ich will dem Fräulein Tochter zum Andenken das Wechselchen auf den nackten Bauch kleben.« Im selben Augenblick wälzt sich das Mädchen schreiend auf dem Fußboden, reißt sich die Kleider vom Leib, hebt das Hemd und spuckt sich auf den nackten Bauch, spuckt und brüllt: »Spucken Sie mir auf den Bauch, spuckt mich alle an, die ganze Stadt soll mich anspucken, mit Spucke klebt mir den Wechsel auf den Bauch, dazu bin ich da!« Und während sie tobt und sich in Krämpfen windet, fällt der Schuster schwer zu Boden wie ein umgeworfener Schrank und gibt keinen Laut.
Bei der Schilderung dieser Szene hatte der Schuster wieder zu schluchzen begonnen. Karl rief die Tochter. Sie kam und streichelte die Glatze des Vaters. Dann wandte sie sich an Karl: »Der Herr darf nicht glauben, daß ich sonst ein hysterisches Frauenzimmer bin. Ich weiß nicht, wie mir das passiert ist, es war ein Krampf, ich war unzurechnungsfähig, sonst hätt' ich den elenden Menschen mit diesen meinen Händen erwürgt, das wär' besser gewesen. Das hätt' ich tun sollen, bei Gericht hätten sie mich freigesprochen.« Karl stammelte fassungslos, er wolle sich der Sache annehmen, er werde dafür sorgen, daß etwas so Ungeheuerliches nicht ungestraft bleibe. »Lassen Sie's gut sein«, sagte das 147 Mädchen, »das ist einmal vorbei.« Flüsternd bat sie, Karl möge jetzt gehen, der Vater scheine einzuschlafen, der Schlaf werde ihm am besten über alles hinweghelfen.
Karl rannte auf einen vereisten Feldweg und versuchte, sich zu sammeln. An der Richtigkeit der Darstellung war nicht zu zweifeln. Er kannte Dupic nur flüchtig, er war bis jetzt so sehr von Plänen, Schwierigkeiten, verzweifelten Stimmungen bedrängt gewesen, daß er sich um die Stadt, ja selbst um die eigene Familie überhaupt nicht gekümmert hatte. Er dachte: Wahrscheinlich ist Dupic ein übermütiger Kriegsgewinnler, man wird kurzen Prozeß mit ihm machen, gegen so ein Schwein muß man rücksichtslos vorgehen. Aber irgend etwas stimmt da nicht, ganz einfach scheint der Fall nicht zu liegen. Er hat dem Volk den gräflichen Park geschenkt, dadurch wird der Fall kompliziert, denn so etwas tut kein Feind des Volkes. Was erzählt man sonst noch von Dupic? Ja richtig, der Mann hat ja auch bares Geld hergegeben, wer hat das doch erzählt, er soll armen Leuten, die er kaum kannte, Geld gegeben haben, sogar namhafte Beträge, von wem weiß ich das, ich komm' nicht darauf, aber ich erinnere mich jetzt, von einigen Leuten hab' ich das gehört, ganz bestimmt haben mehrere Leute mir das erzählt, es muß also wahr sein.
Er ging erregt in die Stadt zurück, traf zu Hause den Vater und Elsa an und überfiel sie mit der Frage: »Sagt mal, kennt ihr eigentlich diesen Herrn Dupic?« – »Natürlich«, antwortete der Vater, offensichtlich verlegen, »wie sollte ich ihn nicht kennen, er ist ja schon ziemlich lang in Boran.« 148
»Was für ein Mensch ist er? Ist es wahr, daß er vom ersten Tag an jedem, der wollte, Geld gegeben hat?«
Der Vater blickte unschlüssig Elsa an. In diesem Augenblick fiel Karl ein, daß der Vater in früheren Jahren von reichen Leuten Zigarren und kleine Geldgeschenke angenommen hatte. Der Vater hatte demnach auch von Dupic Geld genommen, warum wäre er sonst so verlegen? Elsa scheint es zu wissen, auch sie ist verlegen, beide wissen, daß ich mich über derartige Dinge immer sehr geärgert habe.
Der Vater stellte sich zum Fenster, um Karls forschenden Blicken zu entgehen, und sagte:
»Ja, es ist richtig, er hat als Bevollmächtigter einer Gesellschaft vielen Leuten, die in Not waren, Geld vorgestreckt.«
»Gegen Wucherzinsen natürlich.«
»Nein, ohne Zinsen.«
»Aus Edelmut also?«
Der Vater zuckte die Achseln. Elsa, die sich bis zu diesem Augenblick an dem Gespräch nicht beteiligt hatte, lächelte ironisch: »Warum interessiert dich das so?«
»Das will ich dir sagen. Hört zu.«
Er erzählte, was er heute erlebt hatte; nur den Namen des Schusters verschwieg er. Der Vater mußte sich setzen. Auch Elsa war auffallend bleich geworden. Als Karl zu Ende erzählt hatte, sagte sie: »Das ist so tierisch, daß ich's nicht glauben kann.«
Der Vater saß schweißbedeckt vor ihnen.
»Dem Vater ist ganz schlecht geworden von deiner Geschichte«, sagte Elsa. 149
Der Vater lächelte mit großer Anstrengung: »Was fällt dir ein, mir ist gar nichts.«
Als Elsa in die Küche ging, folgte Karl ihr und fuhr sie an: »Der Vater hat sich natürlich auch von Dupic Geld geben lassen, wie?«
»Ja.«
»Viel?«
»Tausend Kronen, glaub' ich.«
Karl stampfte auf.
»Verflucht. Wieviel habt ihr noch von dem Geld?«
Elsa antwortete nicht.
»Wann muß es zurückgezahlt werden?«
»Im März, glaub' ich.«
»Was nun? Willst du auch so etwas erleben wie dieses Mädchen?«
Elsa setzte sich auf den Küchenstuhl, starrte vor sich hin. Karl ging auf und ab, blieb endlich knapp vor ihr stehen und flüsterte: »Ich werde mir das Geld verschaffen. Du wirst mir noch heute sagen, wieviel von den tausend Kronen fehlt. Noch diese Woche muß ich dem Kerl seine tausend Kronen geben.«
Elsa lachte auf. Verblüfft starrte Karl sie an.
»Warte einen Augenblick«, sagte sie.
Sie ging ins Zimmer, kam nach einer Minute zurück und überreichte Karl zehn Hundertkronennoten.
»Da hast du die tausend Kronen«, lächelte sie.
»Ihr habt das Geld gar nicht angerührt? Wozu habt ihr es genommen, wenn ihr's nicht braucht?«
Elsa saß wieder auf dem Küchensessel und starrte vor sich hin. Karl fiel ihr seltsames Benehmen nicht auf, er arbeitete bereits seinen Kriegsplan gegen Dupic aus. 150
»Jetzt hab' ich wenigstens eine klar vorgezeichnete Aufgabe«, sagte er. »Jetzt weiß ich wenigstens, welchen Sinn es hat, daß ich hier meine Zeit verschwende. Dieser Dupic soll mich kennenlernen. Ich muß mir nur genaue Informationen verschaffen. Ich vermute, daß der Mann ein ganz raffinierter Volksbetrüger ist. Er hat seine Sache sehr geschickt angepackt. Kommt nach Boran, kauft den Thunschen Besitz und stellt dem Publikum den Schloßpark zur Verfügung. Das muß natürlich guten Eindruck machen. Jeder denkt: Sozial fühlender Mensch, hat ein Herz fürs Volk. Dann bietet er den Leuten Geld an, nimmt keine Zinsen und tut, als ob er nicht daran dächte, es jemals zurückzuverlangen. Am Verfallstag aber ist nicht er der Gläubiger, sondern eine nicht existierende ›Gesellschaft‹. Verstehst du. Er ist und bleibt der edle Volksbeglücker, den die böse ›Gesellschaft‹ zwingt, jeden Heller einzutreiben. Ich werde mich noch heute überzeugen, ob meine Vermutungen richtig sind. Vor allem muß ich erfahren, welchen Zweck das alles hat. Was der Mann eigentlich will. Das ist mir nämlich durchaus nicht klar.«
Er nahm Mantel und Hut. Elsa hielt ihn zurück.
»Willst du noch heute das Geld zurückgeben?« fragte sie.
»Vielleicht heute, vielleicht erst morgen oder übermorgen. Vorher will ich erfahren, mit wem ich es zu tun habe.«
»Gib die tausend Kronen her, Karl. Der Vater ist das Geld schuldig, er soll es selbst zurückzahlen.«
»Nein. Ihn lass' aus dem Spiel. Ihm werden wir nur sagen, daß er sich mit Dupic nie mehr einlassen darf. 151 Zu Dupic geh' ich selbst. Ich will ihn zwingen, Farbe zu bekennen.«
Schon stürmte er hinaus. Elsa schloß die Augen. Es ist ja einerlei, ob er es heute erfährt oder später, dachte sie. Einerlei, ob er es von mir erfährt oder von Dupic oder von einer dritten Person. Eigentlich ist's ja ein Wunder, daß er es noch nicht weiß. Der Bankbeamte, der mein Konto führt, wird es doch längst weitererzählt haben. Selbstverständlich wird es der Bankbeamte weitererzählt haben. Wenn die Tochter des Lehrers Buxbaum dreißigtausend Kronen in die Bank bringt, ist das eine Boraner Sensation. Wahrscheinlich weiß es längst die ganze Stadt; nur der Vater und Karl haben es nicht erfahren, vor ihnen hält man den Mund.
Sie dachte nicht mehr an Karl. Sie beugte sich über die Kurstabelle, die sie angelegt hatte. Sie trug den neuesten Kurs ein. Poldi war wieder gefallen. Seit Wochen fiel das Papier Tag für Tag. Sie dachte: Kann man es glauben? Auf den nackten Bauch! Was wird er mit mir machen! Sie erschrak, als ob sie es laut gesagt hätte.
Karl forschte die Bevölkerung aus. Das Bild, das er gewann, war sehr verwirrend. Je mehr er erfuhr, desto rätselhafter wurde der Mann Dupic. Ein System schien Dupic nicht zu haben, Widersprüche häuften sich. Es war schwer, zu erraten, wer die Wahrheit sprach, wer aus Schamgefühl oder aus Furcht vor Dupic log.
Zweifellos echt war die Empörung des siebzigjährigen Drechslers, der berichtete, Dupic wolle ihn Ziegel schleppen lassen. Groß war die Wut eines pensionierten städtischen Oberbuchhalters, der sich schriftlich verpflichtet hatte, Portier in einer Fabrik zu werden, die 152 Dupic zu bauen beabsichtigte. Als Karl sagte, der Beruf eines Portiers könne nicht unbedingt als erniedrigend angesehen werden, wandte sich der Zorn des Oberbuchhalters gegen ihn.
Viele sprachen mit Abscheu von Dupic, aber niemand wollte von Scheußlichkeiten wissen, die sich mit dem Erlebnis der Schusterstochter vergleichen ließen. Das Letzte, Beschämendste, Empörendste verschwiegen wohl alle. Es gab hingegen einige Menschen, die von Dupic schwärmten. Mandler, der neben der Schule wohnte, erzählte, Dupic sei ein feiner Mann. Dupic habe gesagt: »Machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden mir das Geld schon zurückgeben, wenn Sie einen Haupttreffer machen.« Der alte Kocourek, den Karl für unbedingt wahrheitsliebend und vertrauenswürdig hielt, berichtete, zitternd sei er zu Dupic gegangen, um einen Zahlungsaufschub zu erwirken, Dupic aber, dieser Wohltäter, dieser goldene Mensch, habe den Schuldschein aus der Kasse genommen, ein Streichholz angezündet und das Papier vor Kocoureks Augen verbrannt, einfach verbrannt, wie eine alte, wertlose Zeitung verbrannt. Und Dupic, dieser herrliche Mann, habe ihm, dem weiß Gott unwürdigen alten Kocourek, eine Wohnung in Aussicht gestellt, eine schöne neue Wohnung – ganz umsonst.
Um zehn Uhr abends waren die Recherchen beendet. Karl wußte nun, daß Dupic kein Wucherer, kein Geizhals war, sondern ein Mensch, der sich in keine Kategorie einreihen ließ. Ein Wahnsinniger? Karl erwog diesen Gedanken und verwarf ihn. Was Dupic tat, kam nicht aus den trüben Niederungen eines wohlfeilen 153 ungefährlichen Wahnsinns. Es kam aus einer geheimen Ordnung, aus unsichtbaren Höhen schoß es nieder, aus unsichtbaren Tiefen schoß es auf. Karl fühlte, was alle fühlten, die sich Dupics Dasein nicht erklären konnten.
Er ging schlafen, er hörte Elsa im Schlaf stöhnen und fühlte: Dupic ist ihr Alpdruck. Es nahm ihn nicht wunder, obwohl er nicht vermuten konnte, daß eine Verbindung zwischen ihr und Dupic bestand. Er war die ganze Nacht in einem beklemmenden Halbtraum. Er dachte die ganze Nacht an Dupic, schrie mit ihm, duckte sich vor ihm und wußte nicht, war es Wirklichkeit oder Traum.
Am Morgen ging er zu Dupic. Er legte die tausend Kronen auf den Tisch und sagte: »Ich komme die Schuld meines Vaters begleichen.« Dupic blickte ihn erstaunt an, nickte, sagte: »Bitte sehr«, sperrte die eiserne Kasse auf. Während er das Papier mit der Unterschrift des Lehrers Buxbaum suchte, wendete er halb den Kopf, in seinen Augen war ein listiges, humoristisches Funkeln, sofort spürte Karl übermächtigen Haß in sich aufsteigen, in diesem Augenblick war ihm das Gesicht der Schusterstochter gegenwärtig, das fahle Tragödinnengesicht, er sah Dupic dieses Gesicht und die großen, groben Arbeitshände des Mädchens abschätzen, hörte ihn in ruhigem, gleichmütigem Ton sagen: »Geben Sie mir einen Pinsel und Leim, Vater Prikryl, ich will dem Fräulein Tochter zum Andenken das Wechselchen auf den nackten Bauch kleben.« Dupic nahm ein Papier aus der Kasse, drehte sich um, Karl sah das grinsende Greisengesicht, schreiend wälzte sich das Mädchen auf dem Fußboden, Dupic sprang auf Karl zu, 154 fragte besorgt: »Ist Ihnen schlecht? Trinken Sie einen Kognak.« Karl entriß ihm das Papier, las die Unterschrift des Vaters und wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann mußte er sich setzen und trank den Kognak, den Dupic vor ihn hingestellt hatte. »Sie waren gewiß lang im Krieg, Herr Buxbaum, wer im Krieg war, wird diese nervösen Zustände nicht so bald los«, sagte er teilnahmsvoll. Karl stand auf, die Ohnmacht war vorüber. »Bleiben Sie noch«, sagte Dupic, »Sie sind Jurist, nicht wahr? Falls Sie mit dem Studium bald fertig werden, können Sie mein Mitarbeiter werden, ich habe die Absicht, ein paar junge Juristen in meinem Unternehmen zu beschäftigen.«
Karl sagte leise: »Ich habe erfahren, was gestern beim Schuster Prikryl vorgefallen ist.«
Dupic schien überrascht, dann fragte er in vertraulichem Ton: »Sind Sie der Liebhaber des Mädchens?«
»Ich werde von nun an jeden Ihrer Schritte überwachen«, sagte Karl und mühte sich, nicht zu schreien. Er schrie: »Ich werde Ihnen keine Gemeinheit durchgehen lassen! Ich werde Sie unschädlich machen!«
Dupic lächelte. Es entstand eine lange Pause. Dann sagte Dupic: »Apropos, wollten Sie mir nicht auch die dreißigtausend Kronen bringen, die Ihr Fräulein Schwester mir schuldig ist? Der Verfallstag ist erst im Herbst; aber die tausend Kronen waren ja auch noch nicht fällig.«
Karl bohrte die Fäuste in die Rocktaschen. Er ging langsam zur Tür, Dupic folgte ihm mit vielen kleinen Verbeugungen.
Karl ging nach Hause. Er wußte, es wäre besser, jetzt 155 nicht nach Hause zu gehen. Elsa trat ihm in der Tür entgegen. Sie sah, daß Dupic ihm alles gesagt hatte. So müssen die Männer im Nahkampf ausgesehen haben, dachte sie. Sie hatte die Markttasche in der Hand, sie hätte ihm, ohne eine Ausrede gebrauchen zu müssen, entwischen können. Ein Schritt über die Schwelle hätte genügt. Aber sie drehte sich um und ging ins Haus zurück. Sie legte die Markttasche in die Küche und ging ins Zimmer. Karl folgte ihr. Sie schloß die Tür und setzte sich, Karl blieb an der Tür stehen. Er atmete schwer, er nahm die Hände aus den Taschen. Nun blickte er die Schwester an. Sie hob ein wenig den Kopf, ihr Gesicht war sehr ernst und schön, aber die Züge schienen ihm seltsam fremd. Er sah, daß Elsa eingefallene Wangen und die energieglühenden Augen der Mutter hatte. Er fragte nichts. Schwerfällig drehte er sich um und ging.
Elsa blieb noch ein Weilchen sitzen, dann holte sie die Markttasche aus der Küche und verließ ebenfalls das Haus.