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Die Bevölkerung von Boran verbrachte den Winter 1925 in krankhafter Überreiztheit. Mit unwiderstehlicher Gewalt zog das Volkshaus die Menschen in seinen Zauberkreis; anfangs nur die vergnügungssüchtigen jungen Leute, später auch die Familienväter, die Besonnenen. Nur ein geringer Teil der Bevölkerung widerstand. Die Tage vor der Lohnauszahlung waren die gefährlichsten. Zerschlagen von der Arbeit, stand man mit leerer Tasche auf der Straße. Die dunkle Kleinstadt war ausgestorben, trübselig der Heimweg, trostlos der Gedanke an die Abendstunden. Was gab es da zu überlegen? Nur im Volkshaus war man mit leerer Tasche 319 willkommen. Aus dem feindlichen Dunkel der eisigen Gassen trat man in brausendes Licht. Im ganzen Hause hörte man Musik. Wer Hunger hatte, rief das Tischleindeckdich. Wer trinken wollte, hatte die Auswahl unter den feinsten Weinen und Schnäpsen, man durfte aber auch Bier bestellen. Wer Liebe wollte, ging in das erste oder zweite Stockwerk und sperrte sich mit seinem Mädchen ein.
Niemand war genötigt, an Geld zu denken. Das Essen, das Trinken, die Liebe: alles war ohne Geld zu haben, jeder hatte Kredit. Das Essen, das Trinken, die Liebe: alles wurde gebucht von Dupics Kellnern, verflucht von den Frauen und Kindern, die zu Hause hungerten und froren. Das Schmatzen der Lippen, das Wohlbehagen des Bauches, jeder Schluck und jede Umarmung war gebucht und verflucht.
Eines Tages hieß es aber: Schluß! Dein Kredit ist erschöpft, wie wirst du deine Schuld begleichen? Nur wenigen wurde einstweilen der Kredit gesperrt, aber jeder mußte auf diese Eröffnung gefaßt sein. Die Ausgewiesenen trugen ihren Lohn ins Volkshaus, sie zahlten freiwillig. Die andern aber, die noch nicht zahlen mußten – Dupic hatte genau festgesetzt, an welchem Tag jeder gemahnt und ausgeschlossen werden sollte –, genossen, solange die Genüsse ihnen zugänglich waren, besinnungslos.
Der Bürgermeister, der von den Frauen gebeten wurde, dem Treiben im Volkshaus Einhalt zu tun, verwies auf die Industriekrise. In Nordböhmen war die Hälfte aller Fabriken stillgelegt. Die meisten Industrieorte wußten mit der arbeitslosen Bevölkerung 320 nichts anzufangen. Uralte große Industrien waren im Niedergang begriffen, es fehlte an Absatzmöglichkeiten, die hohen Produktionskosten machten jede Initiative zunichte. Die junge Kunstseideindustrie hielt einstweilen stand. Die Anfangserfolge wirkten lange nach. Die Krise ging zwar nicht spurlos an Dupics Fabriken vorüber – er sprach gern von einem katastrophalen Mißerfolg –, aber nur ein geringer Prozentsatz der Arbeiterschaft wurde entlassen. Auch in Elsas Fabrik, die schwer zu kämpfen hatte, wurden nur wenige entlassen. Der Bürgermeister verglich in einer großen Rede im Plenum des Gemeinderats die Vorteile und Nachteile des Dupicschen Einflusses auf die Entwicklung der Stadt. Das Resultat war, daß nichts gegen Dupic unternommen wurde.
Alle Versuche, Dupic Widerstand zu leisten, mißglückten. Der Arbeiter Domansky, der einmal im Winter an der Spitze einer kleinen Schar einen nächtlichen Überfall auf Dupics Haus unternahm, wurde mit seinen Leuten von zwanzig Dupic ergebenen Arbeitern, die sich Stunden vorher unauffällig in die Küche geschlichen hatten, verprügelt und der Polizei übergeben; Peter, dem Domanskys Plan verraten worden war, hatte seinen Vater rechtzeitig gewarnt.
Am nächsten Abend kam Dupic in Elsas Wohnung. Wenige Minuten vorher war Peter eingetreten. Dupic rief Elsa zu: »Ich komme eigentlich nicht zu Ihnen, ich komme zu meinem Sohn, ich dachte, daß man ihn hier am ehesten antrifft.« Peter zeigte sich nun, Dupic schüttelte ihm die Hand: »Ich danke dir, mein Sohn Hamlet. Aber nächstens brauchst du mir Komplotte 321 nicht mehr zu verraten, es gibt gewisse Mechanismen in meinem Haus, die mich genügend schützen. Wer zum Beispiel die Küchenschwelle bei Nacht betritt, während ich schlafe, erhält einen elektrischen Schlag und erholt sich erst nach acht Stunden. Wer sich bei Nacht vor die eiserne Kasse stellt, verschwindet in der Versenkung und muß im Keller mit gebrochenen Gliedern den Rest der Nacht verbringen. Mit ähnlichen humoristischen Fertigkeiten ist jeder Winkel in meiner Wohnung ausgestattet. Du brauchst dich also um mich nicht zu kümmern.« Er wandte sich an Elsa: »Warum heiratet er Sie nicht, der dumme Kerl? Wenn Sie wollen, verrate ich Ihnen, wie Sie ihn am besten so weit bringen könnten.« Er führte Elsa in ein anderes Zimmer, Peter machte ein finsteres Gesicht. Nachdem Dupic gegangen war, sagte Elsa: »Du ahnst nicht, Peter, wie ähnlich eure Charaktere sind. Du bist genauso ein Dickschädel wie er, nur ein kleiner Unterschied trennt euch: Ihn zieht's zur Hölle, dich zum Himmel. Ich glaube wirklich, daß du nicht mehr versuchen solltest, ihn von der Hölle abzubringen.«
»Weißt du denn nicht, daß ich es längst nicht mehr versuche?« erwiderte Peter. »Ich war zu schwach. Ich bin eine komische Figur.«
»Wer das Gute will, ist immer der Schwächere«, stellte Elsa fest.
»Es scheint so – und doch ist es nicht wahr«, sagte Peter nach langem Nachdenken. »Es müßte nur der richtige Mann kommen.«
Domansky und seine Leute wurden wegen des nächtlichen Überfalls eingesperrt. Nun konzentrierten 322 sich alle Hoffnungen auf Dr. Karl Buxbaum, der bereits Karriere gemacht hatte und als kommunistischer Abgeordneter im Prager Parlament die »Boraner Zustände« von Zeit zu Zeit besprach. Er war kein blindwütiger Draufgänger mehr. Seine Reden klangen ruhig, fast nüchtern. Zu sinnlosen Demonstrationen ließ er sich nicht hinreißen. Bei der großen Menge war er noch immer ebensowenig beliebt wie vor sechs Jahren; man schätzte ihn, aber man liebte ihn nicht. Wer ihn genau kannte, vertraute ihm blind; wer ihn reden hörte, blieb kalt, bewunderte höchstens den Intellekt des allzu besonnenen Fanatikers, dessen Äußeres sich immer mehr verbürgerlichte. Vor sechs Jahren hatten seine glühenden schwarzen Augen, die hohe Stirn, das lange schwarze Haar die Arbeiter in den Versammlungen abgestoßen; jetzt waren sie vor dem bürgerlich korrekten Advokatenkopf auf der Hut, die hohe Stirn ging in eine mächtige Glatze über, die Augen waren unangenehm überlegene Prüfer. Er gab die Parole aus: Ruhig abwarten, keine unüberlegten Streiche!
Dupic lachte über Karl, über Domansky, über Peter. Dupics Gelächter war über Boran. Mißratene Generation, keine Muskeln, kein Unternehmungsgeist – und das will jünger sein als ich, will mich überleben und beerben!
Abends saß er im Volkshaus im Bureau der Hausverwaltung und ließ sich berichten, wer in den Sälen fresse und saufe.
»Der Arbeiter Wenzel Karafiat ist schon achthundert Kronen schuldig«, wurde gemeldet. Dupic ließ den Mann aus dem großen Saal ans Telephon holen und rief 323 ihm zu: »Hier Direktion des Volkshauses. Herr Karafiat, wir erlauben uns anzufragen, wie das Essen geschmeckt hat, wie das Weinchen schmeckt. Ausgezeichnet? Freut uns wirklich, freut uns riesig. Wir bitten, uns gütigst weiterempfehlen zu wollen, vielleicht bei Gelegenheit auch die Frau Gemahlin mitzubringen, nur müssen wir leider darauf aufmerksam machen, daß Ihre Rechnung sich bereits auf achthundert Kronen beziffert, ganz richtig, Sie haben ganz richtig verstanden, achthundert Kronen. Weiter reicht leider Ihr Kredit nicht, verehrter Herr; hat aber gar nichts zu sagen, der Betrag wird nach und nach von Ihrem Lohn abgezogen, Herr Dupic hat sich zu diesem Modus bereit erklärt, Herr Dupic schätzt Sie sehr. Wie, bitte? Nein, bei Herrn Dupic können wir leider nicht intervenieren, wo denken Sie hin! So ein Herr hat ganz andere Sachen im Kopf, der kann sich um solche Lappalien nicht kümmern. Wie? Aufhängen wollen Sie sich? Erlauben Sie, das ist lächerlich. Wenn Sie sich aufhängen müssen, muß sich ganz Boran aufhängen. Trinken Sie ruhig Ihren Wein aus, verehrter Herr, und legen Sie sich schlafen, einen besseren Rat können wir Ihnen nicht geben. Gute Nacht, Herr Karafiat.«
Meldung des Hausverwalters: »Werkmeister Pfaumüller hat seinen Kredit bereits überschritten.« Dupic ließ den Werkmeister ans Telephon holen. »Hier Direktion des Volkshauses. Herr Werkmeister Pfaumüller, wir müssen Ihnen leider mitteilen, daß Sie uns bereits neunhundertdreißig Kronen schuldig sind. Wie das möglich ist? Bitte sehr, es ist alles genau notiert und gebucht. Wie meinen? Hören Sie, das sollten Sie nicht 324 sagen. Herr Dupic ist unserer Überzeugung nach durchaus nicht ein ganz gemeiner Schuft. Bitte, lassen Sie uns ausreden, wir haben Ihnen im Auftrag des Herrn Dupic noch etwas mitzuteilen. Wir beehren uns, Ihnen mitzuteilen, daß Herr Dupic den ganzen Betrag – neunhundertdreißig Kronen – für Sie beglichen hat. Sie sind uns demnach keinen Heller mehr schuldig. Der Kellner wird Ihnen sofort die saldierte Rechnung überreichen. Guten Abend, Meister!«
Das waren Dupics Vergnügungen. Zu lachen hatten wenige, zu klagen viele. Das Fluchen der Männer und das Gejammer der Weiber berührte ihn nicht. Kein Mann und kein Weib war ihm gewachsen.
Es war ein Kind, das ihn zu Fall brachte.