Ludwig Winder
Die nachgeholten Freuden
Ludwig Winder

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Am 3. März 1926 wurde Dupic im Morgengrauen von einem Schrei aus dem Schlaf gerissen. Eine Kinderstimme schrie: »Dupic Dieb! Dupic Dieb!« Sprungbereit setzte er sich auf und lauschte. Es war nichts mehr zu hören. Ich muß geträumt haben, dachte er.

Diese Kinderstimme, diesen Ruf: »Dupic Dieb! Dupic Dieb!« hatte er vor mehr als vierzig Jahren vernommen. Er sah sich nach dem Tode seines Vaters im Wirtshaus von Dugosela bei den Bauern sitzen, sie rückten von ihm ab, er lud sie ein, das neue Haus, die neuen Wirtschaftsgebäude, die modernen Maschinen 325 zu besichtigen, sie zeigten sich nicht geneigt, Freundschaft zu schließen. Am Abend stand er auf, ging heimwärts. Hinter dem letzten Haus von Dugosela hörte er plötzlich einen Schrei. Er blieb stehen, lauschte. Eine Kinderstimme schrie: »Dupic Dieb! Dupic Dieb!« In wilden Sprüngen lief er zurück, der höhnenden Stimme nach. Niemand war zu sehen.

Das alles erlebte er in diesem Augenblick noch einmal. Vierzig Jahre lang hatte er mit vielen Menschenleben gespielt und viele Menschenleben vernichtet, mehr als einmal hatte er den Zuruf: »Mörder!« lachend hingenommen. Keine Beleidigung, keine Beschuldigung konnte ihn treffen. Jetzt aber zitterte er, weil eine Kinderstimme »Dupic Dieb! Dupic Dieb!« gerufen hatte. Dieser Schrei nach dem Begräbnis des Vaters im Dunkel des Dorfabends hinter dem letzten Haus von Dugosela hatte die Richtung seines Lebens bestimmt. Damals hatte er beschlossen, die Bauern von Dugosela zu demütigen. Bis zum Herbst 1914 hatte er diesem Ziel gelebt, die höhnende Kinderstimme hatte ihm befohlen, nichts als das Ziel zu sehen, auf alles andere zu verzichten. Am Ziel, als er erkannte, daß seine kapitulierenden Feinde hilflose alte Männer waren, blickte er nieder auf seinen Bart: der Bart war weiß.

Er verdrängte die Erinnerung. – »Dupic Dieb! Dupic Dieb!« Wie kann mich das aufregen? Ich betrachte es als einen Ehrentitel. Wenn ich Lust habe, lasse ich mir's auf die Visitenkarte drucken:

Dupic
Dieb 326

Vor dieser Visitenkarte fallen Minister und Gräfinnen und Bankpräsidenten auf den Bauch. Er lachte, aber gleich darauf saß er wieder tief in ernsten Gedanken: Ja, die Kinderstimme damals, sie war an allem schuld. Die Bauern wären vielleicht nach einem Jahr, nach zwei Jahren, spätestens nach zehn Jahren bereit gewesen, Frieden zu schließen, sie hätten mir vielleicht gern ihre Felder verkauft, es hätte keine Feindschaft geben müssen, was hätte ich in dieser langen Zeit alles leisten können, wie hätte ich leben können, ich war jung, die ganze Welt hätte ich mir kaufen können, nur die verfluchte Kinderstimme hat mich jahrzehntelang an das elende Dorf gekettet, immer hatte ich ihren Klang im Ohr – bis zum Herbst 1914. Als das Ziel erreicht war, war auch die Stimme verschwunden. Was will sie jetzt wieder? Soll ich mich von Träumen schrecken lassen?

Nachdenklich ging er in die Fabrik. Er begann zu arbeiten, aber ein Unbehagen blieb in ihm zurück. Auch nach dem Mittagessen blieb er mißgestimmt; das war ein schlimmes Zeichen, es kam selten vor. Fange ich an alt zu werden? dachte er. Sollte ich mich in einen kindischen Greis verwandeln? Ausnahmsweise ging er ins Café Grand Hôtel, trank starken schwarzen Kaffee und beschloß, einen kleinen Spazierritt zu unternehmen. Solange ich täglich ausritt, kannte ich keine beunruhigenden Träume und keine schlechte Laune, erinnerte er sich; ich muß von heute an wieder täglich reiten. Sein Reitpferd hatte, wie die Zugpferde, in der Nachbarschaft der Fabrikgarage seinen Stall. Er kleidete sich zum Reiten um und ritt – zum erstenmal seit dem 327 Herbst – am Gitter des Schloßparks vorüber in der Richtung zum Meierhof, kehrte aber bald um und saß um vier Uhr wieder in seinem Kontor in der Fabrik, wo er von auswärtigen Besuchern erwartet wurde. Er konferierte angeregt, unterschrieb Briefe und befand sich endlich in leidlichem Gleichgewicht. Den Abend verbrachte er im Volkshaus, um zehn ging er nach Hause und schlief sofort ein.

Im Morgengrauen wurde er von einem Schrei aus dem Schlaf gerissen. Eine Kinderstimme schrie: »Dupic Dieb! Dupic Dieb!« Im Nu war er überwach. Mit einem Sprung war er beim Fenster, riß es auf. Niemand war zu sehen. Schon wollte er, trotz der Kälte, im Nachthemd auf die Straße – da merkte er, daß er nicht mehr zornig war. Ein Lachen stieg in ihm auf, er lachte aber nicht, er setzte sich aufs Bett und kicherte, krächzte:

»So ein Bengel!« Dabei war er immer noch zornig, aber die Freude über die Wirklichkeit der Kinderstimme überwog. Wenn es nur kein Traum war, das ist die Hauptsache, dachte er; jetzt weiß ich wenigstens, daß es kein Traum war, sondern ein Kind, das von einem beleidigten Vater oder von einer beleidigten Mutter angestiftet worden ist, vor meinem Fenster zu brüllen: »Dupic Dieb!« Wessen Kind es ist, interessiert mich nicht übermäßig, es gibt viele, die es sein könnten, an beleidigten Eltern ist kein Mangel. Ich werde den Bengel schon fangen.

Er dachte nach. Vor allem fielen ihm fünf Familien ein, die so unvorsichtig gewesen waren, ihm ihre Ersparnisse ohne Zeugen als Kaution zu übergeben, er 328 hatte einen Kassierposten ausgeschrieben und sich den Spaß gemacht, den fünf Boraner Anwärtern ihre Kautionen nicht zurückzugeben, nachdem ein auswärtiger Bewerber die Stelle erhalten hatte; er wollte die Leute einige Wochen zappeln lassen. Außerdem kam die Frau eines Arbeiters, der kürzlich wegen einer großen Schuld im Volkshaus Selbstmord verübt hatte, in Betracht. Die Witwe hatte Dupic um Arbeit oder eine Unterstützung gebeten, war aber abgewiesen worden; Dupic hatte angedeutet, die Gesellschaft, der die Fabrik gehöre, habe der Witwe einen namhaften Betrag geschenkt, Dupic wisse aber noch nicht, wann die Übergabe des Geldes möglich sein werde, der Termin sei noch von verschiedenen Umständen abhängig, beeinflussen wolle sich die Gesellschaft nicht lassen, man müsse also geduldig warten. Die Frau, die fast täglich bei Dupic erschienen war – er ließ sie immer vor, ihre bis zur Tollheit gesteigerte Erregung belustigte ihn immer mehr –, hatte zuletzt gedroht, die Strafanzeige gegen Dupic zu erstatten; er wolle offenbar das Geld für sich behalten. Diese Frau, die fünf kleine Kinder hatte – oder waren es sechs? –, war äußerst verdächtig. Es kamen aber auch noch andere Leute in Betracht, eigentlich alle, die vor kurzem bei einem Fest im Volkshaus Lose einer »Dupic-Lotterie« gekauft hatten; den Haupttreffer hatte merkwürdigerweise niemand gewonnen, Dupic hatte einen unbekannten Namen genannt, dem der Haupttreffer zugefallen war, was niemand glaubte. Aber im Grunde war es jetzt gleichgültig, wessen Kind »Dupic Dieb!« gerufen hatte, denn das Kind hätte ebensogut »Dupic Mörder!« oder »Schuft!« 329 rufen können, also etwas ganz Harmloses und Lächerliches, daß es »Dupic Dieb!« gerufen hatte, war reiner Zufall.

Trotzdem blieb er auch an diesem Tag ein wenig unruhig; freilich war diese leichte Nervosität unvergleichlich erträglicher als die gestrige Erregung. Den trübsten Augenblick seines Lebens hatte ein unschuldiges, ahnungsloses Kind nach Jahrzehnten noch einmal lebendig gemacht, das war und blieb ärgerlich; aber den Ärger vertrieb wenigstens teilweise die Freude über die bevorstehende Entdeckung. Daß es ihm binnen vierundzwanzig Stunden gelingen werde, das Kind ausfindig zu machen, bezweifelte er nicht. Er arbeitete in der Fabrik, ritt aus, saß abends im Volkshaus und ging vor zehn schlafen; den Wecker stellte er auf sechs Uhr morgens. Das Kind hatte an beiden Tagen gegen sieben Uhr gerufen, um halb sieben wollte er fertig angekleidet an der Tür warten, um das Kind beim ersten Schrei zu packen.

Er schlief schlecht, endlich dämmerte der Morgen. Er stand von halb sieben bis halb acht sprungbereit an der Tür, das Kind kam nicht, das Kind schrie nicht, kein Kind war zu hören. Dupic geriet in maßlose Wut. Er war sich ganz der Lächerlichkeit dieser Vorgänge bewußt. Es war lächerlich, wegen eines blöden Kindes, das er nicht einmal kannte, schlecht zu schlafen, um sechs aufzustehen und an der Tür zu lauern. Es war unverständlich dumm und lächerlich; und es war besonders lächerlich, jetzt toll vor Wut zu sein, weil das Kind heute, gerade heute nicht gekommen war.

An diesem Vormittag glaubte er wieder – zwar nur minutenlang, aber diese Minuten quälten ihn sehr –, 330 daß er alles nur geträumt habe. Er hatte am gestrigen Morgen die Kinderstimme genau gehört, sie war vor dem Fenster erschollen, auf dem Marktplatz, eine helle, freche Kinderstimme. Trotzdem hörte er wieder die Kinderstimme, die ihn vor vierzig Jahren in Dugosela überfallen hatte, diese gespenstisch gewordene Traumstimme. Heute muß ich den Bengel kriegen, dachte er den ganzen Vormittag, er konnte nichts anderes denken; und wenn ich die ganze Gendarmerie mobilisieren müßte – ich muß den Bengel fangen.

Am Nachmittag ritt er nicht wie sonst am Parkgitter vorbei, sondern durch die langgestreckte Vorstadtstraße, die sich fast bis zum benachbarten Dorf ausstreckte; er hatte die unbestimmte Hoffnung, hier werde sich die Spur des Kindes finden lassen. Er sah einige spielende Kinder vor den ärmlichen Häusern und blickte im Vorbeireiten allen ins Gesicht, beim letzten Haus gab er dem Pferd die Sporen und ritt eine Stunde lang an Feldern vorbei, dann kehrte er um und ritt langsam wieder durch die öde, endlose Vorstadtstraße.

Plötzlich hörte er eine Kinderstimme brüllen: »Dupic Dieb!« Der Ruf ertönte – nur einmal – hinter seinem Rücken, nicht ganz nahe, aber sehr laut. Er wendete so ungestüm, daß das Pferd erschrak. Er sah einen etwa fünfjährigen Knaben beim fünften oder sechsten Haus an der Mauer stehen, mehrere kleinere Kinder spielten vor demselben Haus, aber der Knabe an der Mauer war zweifellos der Schreier, sein Mund stand noch offen. Der Gesichtsausdruck des Knaben war ungewöhnlich läppisch, Dupic sah im selben Augenblick sehr deutlich die wasserblauen Augen des Kindes, die 331 viel zu große schwarze Mütze, die über die Ohren fiel, den zerrissenen grünen, fast bis zur Erde reichenden dünnen Mantel und die Sonne, die am Ende der Vorstadtstraße klein und ungeheuer glühend unterging und einen rötlichen Glanz auf alle Häuser warf. Das also ist er, dieser winzige Rotzbub also, dachte Dupic, na warte, wir wollen dir einen kleinen Schreck einjagen. Er ritt langsam auf den Knaben zu, der, von Dupics Blick hypnotisiert, nicht an Flucht dachte und mit offenem Mund regungslos dastand. Die andern Kinder liefen kreischend davon. Der Knabe sah, daß Dupic das Pferd auf den Gehsteig zulenkte, in diesem Augenblick schrie das Kind auf. Bei dem gellenden Schrei stürzte eine junge Arbeiterfrau aus dem Hause, Dupic erkannte sie sofort, es war die Witwe des Selbstmörders, Dupics Gesicht verklärte sich, also doch, dachte er, also doch diese dumme Person. Die Frau riß den Knaben an sich und wollte mit ihm ins Haustor flüchten, konnte nicht, das Pferd auf dem Gehsteig versperrte den Weg, es tänzelte riesenhaft, die gellenden Schreie der Frau und des Kindes erschreckten das Tier. »Nun, Junge, schrei noch einmal Dupic Dieb, kriegst dafür Schokolade«, schrie Dupic und trieb das Pferd an, auf das Kind loszugehen. In diesem Augenblick bäumte sich das Pferd, scheute, stieg, warf den Reiter ab, raste dem dunkelrot glühenden Sonnenball am Ende der Vorstadtstraße zu.

Dupic lag bewußtlos im Schmutzwasser des schmalen Gehsteigs. Die Frau wich mit dem noch immer brüllenden Kind langsam, Schritt für Schritt, zurück. Drei alte Frauen, die den Vorgang an den Fenstern 332 ihrer Häuser beobachtet hatten, stürzten auf die Straße, aber keine wagte es, sich dem in tiefer Ohnmacht Liegenden zu nähern. Sie bildeten eine flüsternde Gruppe, sie wagten es nicht, die wilde, maßlose Freude, die sie erfüllte, zu zeigen, sie fingen die Kinder ein, die sich dem Ohnmächtigen nähern wollten, endlich kamen zwei Männer des Weges, auch sie wagten nicht, sich Dupic zu nähern, furchtsam standen alle und warteten und blickten den bewußtlosen Mann an. Dann kam ein Arbeiter, der Dupics Pferd eingefangen hatte. Das Pferd stand nun ruhig, als ob nichts geschehen wäre. Plötzlich begann es laut zu wiehern, laut und komisch hallte in der öden Vorstadtstraße das Gewieher. Der Mann, der das Pferd gehalten hatte, beugte sich nun zu Dupic nieder, stand auf und sagte: »Man muß dem Doktor Dupic telephonieren. Jemand muß das Pferd in die Fabrik führen.« Im Abgehen sagte er grimassierend: »Das Pferd freut sich.« Aber noch immer wagte niemand, zu lachen.

In Peters Wohnung meldete sich niemand, Peter war in ein Dorf berufen worden. Ein Arzt, der einige Minuten später den Bewußtlosen untersuchte, ließ ihn ins Krankenhaus überführen. Erst um neun Uhr abends kehrte Peter in die Stadt zurück; als er ins Krankenhaus kam, war Dupic noch immer bewußtlos. Die Ärzte hatten festgestellt, daß es sich nicht nur um eine Gehirnerschütterung, sondern auch um eine Gehirnquetschung und schwere innere Verletzungen handelte. An eine Operation war nicht zu denken.

Um zehn Uhr erwachte Dupic aus der tiefen Bewußtlosigkeit, sah das Zimmer voller Menschen (alle Ärzte 333 des Krankenhauses waren anwesend) und erkannte Peter, der an dem Krankenbett saß. »Licht auslöschen und kein Geräusch, bitte«, ordnete Peter an. Einige Ärzte entfernten sich nun. Dupic hob den Arm und flüsterte, mit einem überraschenden Aufblitzen der Augen: »Mein Sohn . . . soll mich nicht behandeln. Mein Sohn . . . ist ein Patzer.« Dabei verzog sich das Gesicht zu einem Grinsen, das vielleicht nur der Ausdruck unerträglicher Schmerzen war.

Am nächsten Morgen forderte er energisch, in sein Haus gebracht zu werden. Da der Zustand des Patienten hoffnungslos war, erfüllte man seinen Wunsch. Ächzend, mit geschlossenen Augen lag er auf der Tragbahre, als sein Haus aufgesperrt, die Tür des Arbeitszimmers geöffnet wurde. Peter schob die grünen Vorhänge zurück, hinter denen das Bett stand, er glaubte, in diesem Bett, neben der eisernen Kasse, werde der Vater, den in Fieberphantasien Börsenspekulationen beschäftigten, ruhen wollen.

»Nicht hier«, stöhnte Dupic. In der Bauernstube fragte Peter: »In welches Bett, Vater?« – »Ins Bett meiner Mutter – selbstverständlich«, kam es, fast unhörbar, von Dupics Lippen.

Peter telegraphierte um seine Brüder. In der Nacht war Dupic nur wenige Augenblicke bei Bewußtsein. »Jeder Mensch macht einmal Dummheiten«, sagte er nach Mitternacht, dann fiel er wieder in Ohnmacht, die Ärzte glaubten nicht, daß er den Morgen erleben werde. Aber nach dieser Nacht schien er sich etwas besser zu befinden.

Gegen elf Uhr verlangte er Elsa Buxbaum zu sehen. 334 Peter ließ sie kommen. Sie ergriff die schlaffe, bläuliche Hand und setzte sich ans Krankenbett. »Gut seh ich aus«, hauchte Dupic, »sehn Sie, wenn Sie mich geheiratet hätten, könnten Sie jetzt die ganze Konkurrenz aufkaufen.« Er fixierte Elsa scharf, verlangte: »Stehn Sie auf!« Sie stand auf, er versuchte, sich aufzusetzen, es ging nicht, aber er lächelte: »Ergebensten Glückwunsch. In wieviel Monaten . . . wird mein Kadaver . . . Großvater?« Elsa errötete; maßlos erstaunt blickte Peter sie an. »Sehn Sie«, hauchte Dupic, »er hat es nicht gewußt. Er hat es nicht gesehn. Schöner Doktor. Nicht einmal das weiß er.« – »Ich wollte es ihm nicht sagen, damit er nicht glaubt, daß er mich heiraten muß«, lächelte Elsa. – »Jetzt wird er Sie aber . . . doch heiraten«, stöhnte Dupic, »Sie kennen sich aus. Sie sind tüchtig. Aber wer hat Ihnen . . . den Tip gegeben? Erinnern Sie sich?« Peter suchte Elsas Hand, flüsterte: »Laß ihn reden, es stärkt ihn, obwohl das Sprechen an und für sich schädlich ist.« Laut sagte er: »Heiraten werden wir jedenfalls – ob mit oder ohne Kind.« Dupic winkte ärgerlich ab, schloß die Augen, verlor wieder das Bewußtsein. Elsa ging.

Am Abend kamen Dupics elf Söhne aus Berlin und Wien. Peter empfing sie vor dem Hause, wollte sie nur einzeln in das Krankenzimmer lassen, Dupic verlangte aber: »Alle herein!« Sie kamen auf den Fußspitzen, die ungeschlachten Riesen, große grobe Gesichter, wollige schwarze Bärte, glühende Augen drängten sich zum Bett. In dem uralten Bauernbett schimmerte matt ein zusammengeschrumpftes gelbes Gesicht, ein langer weißer Bart. 335

»Ich kann es als Arzt nicht verantworten, daß wir alle hier herumstehn, diese Krankheit ist mit Überempfindlichkeit gegen Geräusche verbunden«, sagte Peter. – »Wer will, kann gehn«, brummte der älteste Bruder, ein riesenhafter, robuster Mann mit ergrauendem Bart. Der Kranke krächzte, atemlos lauschten die Söhne. Dupic musterte alle, dann flüsterte er in die Stille: »Kassaschlüssel.« – »In Vaters Rock oder Hose werden sie sein, bringt sie ihm«, sagte Peter. – »Geh selbst!« forderte Dupic. Peter ging, Dupic flüsterte: »Er . . . kriegt . . . nichts.« Peter brachte die Schlüssel, Dupic griff nach ihnen, flüsterte: »Geht!«

Die Brüder zögerten, einer fragte endlich: »Sollen wir nicht einen Geistlichen holen, Vater?« Dupic lehnte mit einer heftigen Handbewegung ab, dann ächzte er: »Kommt morgen . . . mit dem Notar Spucknapf.«

In der Nacht kamen die elf Brüder jede Stunde fragen, ob der Vater noch am Leben sei. Am Morgen holten sie den Notar Spucknapf. Auf dem Wege zu Dupic blickte der alte Notar die Männer mit ironischem Mitgefühl an und erzählte: »Falls das Befürchtete eintritt, werde ich zum drittenmal an der Übergabe des Schlosses Boran beteiligt sein. Zuerst übergab ich es im Auftrag des seligen alten Grafen – er war ein guter Herr, ich durfte mich zu seinen Freunden zählen – dem jungen Grafen. Dann übergab ich es – im August 1918 – Ihrem Herrn Vater. Und jetzt, falls Ihr Herr Vater das Testament, das er vor einem Vierteljahr gemacht hat, nicht umstößt . . . übergebe ich das Schloß –« Er machte eine Pause und lächelte: »Wem ich es zu übergeben habe, ist Amtsgeheimnis. Aber glücklicherweise sind wir 336 noch nicht soweit. Vielleicht wird der Herr Vater noch gesund. Bei seiner wunderbaren Konstitution!« Die Brüder stießen einander an, einer sagte endlich: »Sie könnten uns wenigstens verraten, Herr Notar, ob wir . . . das heißt, wer von uns . . .« – »Nichts kann ich verraten«, erwiderte der Notar, »nicht ein Wort, solange der Herr Vater es nicht wünscht.«

Als sie eintraten, schlief Dupic. Ein Arzt, der mit Peter die Nacht am Krankenbett verbracht hatte, teilte den Söhnen mit, es gehe zu Ende. Peter berichtete, der Vater erwache zuweilen und frage jedesmal ungeduldig, ob der Notar und die Kinder noch nicht gekommen seien. Dupics sägendes Schnarchen erfüllte den Raum. Der Puls ging immer langsamer. Die Brüder flüsterten. Der älteste sagte: »Wir meinen alle, man sollte ihn wecken. Der Herr Notar wird nicht viel Zeit haben.«

»O bitte, was mich betrifft: ich kann warten«, sagte der Notar.

In diesem Augenblick schlug Dupic die Augen auf.

»Drängt euch nicht«, hauchte er; den Notar lud er mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen.

Die Brüder wichen einen Schritt zurück.

Der Notar fragte: »Wünschen Sie ein neues Testament zu machen, Herr Dupic? In diesem Fall wären einige Formalitäten zu erledigen.«

Dupic antwortete nicht. Die elf Söhne starrten ihn an. Er blinzelte sie an, dann schloß er die Augen. »Um Gottes willen, er schläft wieder ein«, sagte einer der Brüder in so verärgertem Ton, daß Peter ihm einen Blick zuwarf, der den Ungeduldigen erröten machte. 337

»Du solltest wieder den Puls fühlen«, rief der älteste Bruder laut Peter zu.

Die laute Stimme schien Erfolg zu haben. Dupic öffnete die Augen, öffnete den Mund. Er flüsterte:

»Herr Notar . . . mein letztes Testament . . . bleibt unverändert.«

Er haschte nach der Hand des Notars:

»Erst nach dem Begräbnis . . . bekanntgeben.«

Er schloß die Augen.

Die Söhne lauschten.

Der Sterbende flüsterte: »Adieu, Herr Notar.«

Der Notar ging.

Der Mund des Sterbenden bewegte sich.

»Geht!« flüsterte er, etwas lauter. Und noch einmal: »Geht!«

Am Nachmittag traten Lähmungserscheinungen ein. Um sechs Uhr abends starb Dupic nach kurzem Todeskampf.

Zwei Tage später fand das Leichenbegängnis statt. Nahezu sämtliche Bewohner von Boran erschienen auf dem Friedhof. Die Trauerrede war kurz, die Söhne hatten es so gewünscht, sie befürchteten peinliche Zwischenfälle. Als der Sarg in die Grube versenkt wurde, erlitt der alte Kocourek, der während der Rede laut geschluchzt hatte, einen Lachkrampf, man mußte ihn rasch entfernen, weil einige Männer und Frauen mitzulachen begannen. Als eine Arbeiterfrau, die sich mit einem Säugling im Arm bis zur Grube vorgedrängt hatte, plötzlich den Säugling auf die Erde legte und mit einem hysterischen Schrei die Röcke hob und das Gesäß entblößte, trieb die Polizei die Menge zum 338 Friedhofstor. Die Söhne blieben eine halbe Stunde am Grabe, das Friedhofstor blieb unter polizeilicher Bewachung.

Zwei Stunden nach dem Leichenbegängnis wurde in der Notariatskanzlei das Testament eröffnet. Es hatte folgenden Wortlaut:

»In der Voraussicht, daß ich einem Attentat zum Opfer fallen werde, ernenne ich meinen Mörder zu meinem Universalerben. Falls der Mörder die Erbschaft nicht annimmt, oder falls er sich binnen Jahresfrist nach meinem Tode zum Antritt der Erbschaft nicht meldet, oder falls ich eines natürlichen Todes sterbe, fällt mein gesamter Besitz – nach Abzug der gesetzlichen Pflichtteile für meine Kinder – den gegenwärtigen Bewohnern des Schlosses Boran zu gleichen Teilen zu.«

Das Testament wurde von sämtlichen Söhnen Dupics mit Ausnahme Peters angefochten. Sie verloren den Prozeß. Sie trösteten sich mit dem Grundbesitz, den sie im August 1918 als Schenkung empfangen hatten und erst jetzt übernehmen konnten.

Viel belacht wurden die ernsthaften Bemühungen einer armen Witwe, die ihren fünfjährigen Sohn als Dupics Universalerben bezeichnete; sie behauptete, der Kleine habe Dupic mit dem Ruf: »Dupic Dieb!« in den Tod getrieben, wegen des Kindes sei Dupic vom Pferd gestürzt, das Kind müsse als Dupics Mörder anerkannt werden. Erst nach mehreren Wochen sah die Frau die Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen ein.

Die Bewohner des Schlosses, denen Dupics gesamter Besitz nach dem Wortlaut des Testaments »zu gleichen 339 Teilen« zufiel, beschäftigten sämtliche Rechtsanwälte von Boran. Im Schloß kam es eine Zeitlang täglich zu förmlichen Schlachten. Der alte Ziehharmonikaspieler, der Anspruch auf das Musikzimmer erhob, erlitt infolge der täglichen Erregungen drei Wochen nach Dupics Tod einen Herzschlag. Die Prozesse um Dupics Erbe werden sich voraussichtlich noch jahrelang hinziehen.

 


 


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