Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nachdem Peter an Elsa die Frage gerichtet hatte, ob sie auf ihn warten wolle, geschah einige Tage lang nichts. Sie war entschlossen, auf ihn zu warten, so lange er wollte; aber zermürbt von den Aufregungen des Besuchs bei Dupic, niedergedrückt von der hämischen, 261 grotesk verzerrenden und dennoch nicht ganz sinnlosen Dupicschen Auslegung ihres Tuns und ihres Charakters, gepeinigt überdies von aufsteigenden Kopfschmerzen, hatte sie nicht die Kraft gehabt, einfach ja zu sagen. Sie bereute es weder am nächsten Tag noch später, denn es wollte ihr nicht gelingen, Verständnis für Peters sonderbare Erklärung aufzubringen. Er wollte ihr gehören, wie sie ihm gehören wollte, das war wohl das Wichtigste; aber sie fühlte sich gekränkt, weil sie ihm offenbar unvergleichlich weniger wichtig war als seine Mission.
Sie konnte ihm nicht sagen, daß sie seine Mission zwar überaus heroisch, aber (wie alles Heroische) auch ein wenig lächerlich fand. Was wollte und was konnte er erreichen? Dupics bösen Geist austreiben? Dupic ändern? Die Welt ändern? Sich selbst opfern? Wem hülfe dieses Opfer? Das alles schien ihr sinnlos; er hatte sich verrannt und wollte es nicht sehen. Und selbst wenn er annehmen dürfte, daß seine Mission nicht ganz aussichtslos sei – wie lange wollte er sich Zeit lassen? Jahre? Jahrzehnte? Und sie sollte so lange warten? Vielleicht alt werden und zusehen, wie er alt wurde, das Leben ungenützt vorübergehen lassen, bloß, weil dieser böse alte Mann Adam Dupic lebte? War das nicht irrsinnig? Und vor allem: Was in aller Welt hielt Peter ab, mit ihr glücklich zu sein und gleichzeitig seiner Mission zu gehören? Wie kam eins zum andern? Würde sie ihn jemals abhalten, seine Pflicht zu erfüllen, würde sie ihn jemals stören? Es wäre doch alles so einfach, wenn er nur wollte – warum mußte er alles komplizieren? Zuerst mein Vater, dann du – sollte das etwa 262 heißen: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen? So gering konnte er von ihr nicht denken.
In den nächsten Tagen sah sie ihn nicht, er suchte sie nicht auf, auch das fand sie sonderbar. Vielleicht bereut er schon, die Frage gestellt zu haben, dachte sie, jedenfalls ist er kein sehr stürmischer Liebhaber. Ich muß ihn mißverstanden haben; wenn ein Mann eine Frau liebt, verschiebt er nicht die Vereinigung auf unbestimmte Zeit, selbst Peter nicht, der anders ist als die andern.
Als sie ihm endlich – nach einer Woche – begegnete, schien er ganz vergessen zu haben, daß er ihre Antwort zu erwarten hatte. Die letzte Zusammenkunft wurde nicht erwähnt, gesprochen wurde nur von gleichgültigen Dingen. Dennoch war alles anders als früher: etwas Neues war in seinem Blick, in seinen Augen – oder hatte sie es früher nicht bemerkt? Sein Blick strafte jedes gleichgültige Wort Lügen; es entging ihr auch nicht, daß er unauffällig ihren Arm zu berühren versuchte; er umgab sie mit einer einigermaßen fatalen Zärtlichkeit, die sich hütete, deutlich zu werden. Wahrscheinlich sind auch seine Ratschläge und Tips, die mich immer in Wut versetzt haben, derartige allzu sorgfältig maskierte Zärtlichkeitsbeweise gewesen, dachte sie. Komisch; es stimmt nicht mit seinem Wesen überein. Alles an ihm ist gesund und natürlich; warum gibt er sich mir gegenüber so unnatürlich?
Als ob er diese Gedanken erraten hätte, begann er – verallgemeinernd – von der »Erniedrigung der Liebe« zu sprechen. Wie alles, sei auch die Liebe seit dem Krieg grauenhaft verroht, sagte er; vielleicht sei das übrigens 263 schon vor dem Krieg nicht besser gewesen, er wisse es nicht, er könne sich an die Zeit vor dem Kriege kaum erinnern. Gegenwärtig spiele die Liebe jedenfalls im Leben eines Mannes – von den Frauen spreche er nicht – eine klägliche Rolle, eine viel geringere Rolle als beispielsweise ein Geschäftsabschluß oder eine Vergnügungsreise. Jeder Mann gehe in der Jagd nach Geld oder in nervenaufpeitschenden Liebhabereien auf, für die Frau bleibe wenig oder nichts übrig; man besuche hie und da eine Frau, während der Umarmung löse man sich minutenlang von den Sorgen los, aber schon den Abschiedskuß geben man ungeduldig, mit wichtigeren Dingen beschäftigt – und das nenne man Liebe. Und die heutigen Ehen – was seien sie anderes als ein Geschäftsabschluß oder ein Unternehmen von der Wichtigkeit einer Vergnügungsreise! Der Staat habe nach dem Krieg aus Mitleid mit den ausgebeuteten Mädchen die Bordelle aufgehoben; jetzt aber sehe das ganze Leben, insbesondere aber die Stillung des Liebesbedürfnisses einem Bordellbetrieb verteufelt ähnlich. Die Liebe sei etwas Unreines geworden, man behandle sie wie eine zwar nicht lebensgefährliche, aber peinliche Krankheit, mit der jeder so rasch wie möglich fertig zu werden trachte. Kein Mann sei heute imstande, bei einer Frau zu sein, ohne an »wichtigere« Dinge, Beruf, Gelderwerb, Forderungen und Ansprüche des Ehrgeizes oder des Selbsterhaltungstriebs zu denken. Glücklicherweise hätten sich die Frauen dieser Auffassung von der Unwichtigkeit der Liebe widerstandslos angepaßt – nur zu sehr, nur zu vollkommen, so daß die Männer nicht ganz ohne Berechtigung den Spieß umdrehen 264 und behaupten, die Frauen seien an dieser Umstellung schuld. Selbstverständlich sei niemand schuld – oder alle zusammen; es habe sich einfach so gefügt, das Leben sei heute eben so, man ziehe die Konsequenzen. Wenn es aber einmal vorkomme, daß ein Mann eine Frau nicht bloß flüchtig begehre, sondern liebe – ob Elsa übrigens bemerkt habe, welchen sentimental-ironischen Klang das Wort »lieben« in unserer Zeit erhalten habe? –, wenn also ein Mann eine Frau wirklich liebe, was ja immerhin jedem einmal im Leben trotz aller Abwehr beschieden sein könne, so müsse der glückliche oder unglückliche Mann wenigstens versuchen, diese Liebe vor Beschmutzung oder Bagatellisierung zu bewahren. (Elsa merkte an ihrem Herzklopfen, daß er nun persönlich zu werden begann.)
»Die meisten Menschen«, setzte er fort, »leben verantwortungslos im Tempo unserer Zeit, ohne die Mächte, deren Spielball sie sind, überhaupt zu erkennen. Wer aber diese Mächte erkennt, hat die Pflicht, den Kampf mit ihnen aufzunehmen und anständig zu Ende zu führen. Nun begibt es sich, daß ein Mann, der von dieser Mission erfüllt ist, eine Frau kennenlernt, mit der er sein Leben verknüpfen möchte. Wie kann er das, ohne sich und ihr Schaden zuzufügen? Darf man eine Frau umarmen und gleichzeitig an etwas ganz anderes, an die Mission, die man zu erfüllen hat, denken? Es wäre schlimmer als jeder Betrug. Man muß sich also darüber klarwerden, was wichtiger ist: die Frau oder die Mission; und wenn man sich an beide mit gleicher Unentrinnbarkeit gebunden fühlt, muß man sich fragen, ob man mit der Mission in absehbarer Zeit fertig 265 werden kann. In diesem Fall darf man von der Frau fordern, daß auch sie ein Opfer bringe und sich ganz in die Hand des Mannes gebe – selbstverständlich vorausgesetzt, daß sie ihn liebt und ihre Liebe ebenfalls nicht erniedrigen will.«
An dieser Stelle wurde das Gespräch an diesem Tag abgebrochen, um einige Tage später fortgesetzt zu werden. In dieser Zeit hatte Elsa sich über Peters Standpunkt klarzuwerden. Er schien ihr zuerst ungesund, fast verbohrt. Nahezu jeder Mensch, dachte sie, stellt sich eine Aufgabe, die er für ungeheuer wichtig hält, fast jeder hat ein Ziel oder, wenn das hochtrabende Wort schon gelten soll, eine Mission; wohin käme man, wenn jeder Mann wegen seiner Lebensaufgabe oder wegen seiner »Mission« auf die Frau verzichten wollte? Da ist es beinahe besser, die Liebe zu »beschmutzen«, zu »bagatellisieren«.
Je mehr aber Elsa über Peters Erklärungen nachdachte, nicht nur über den Sinn, sondern vor allem über die Inbrunst, mit der er gesprochen hatte, desto beunruhigender veränderte sich Peters Gestalt vor ihren Augen. In einer Nacht, als Elsa, wie es jetzt öfter zu geschehen pflegte, aus lustvollen Träumen erwachte, war ihr plötzlich alles klar. Plötzlich wußte sie, daß Peter nicht mit einem Menschen, sondern mit Gott rang. Wie die aszetischen Heiligen, die sich in die Wüste zurückzogen, um mit Gott allein zu sein, allen niedrigen Anfechtungen zu entfliehen, allem Irdischen zu entsagen, genauso zog Peter sich von der Welt zurück, genauso wollte er der irdischen Liebe entsagen, um stark zu sein in seinem Kampf. So war es, nun wußte sie es, nun war 266 ihr alles klar. Er weiß es selbst nicht, dachte sie. Die Erkenntnis erfüllte sie mit Bangen; wie bin ich klein neben ihm, dachte sie, ich Allzuirdische, Allzuvernünftige – wie soll ich neben dieser heiligen Unvernunft bestehen. Warum muß gerade ich mich in diese unerträglich hohe Sphäre aufschwingen?! Ich, die Adam Dupics Geliebte werden wollte, ich, die skeptische Jungfrau mit dem Kurszettel statt des Lilienstengels in der Hand. Ich Unreine, ich Gottlose. Ich wage nicht, mir einzugestehen, wer ich bin. Ich bin ein fiebernder weiblicher Körper, der sich sehnt, von einem männlichen Körper erdrückt zu werden. Ich bin das Zittern zweier Brüste, die schamlos wünschen, in der Liebkosung des Mannes zu erstarren. Ich bin der Schoß der Erde.
Peter wiederholte nicht die Frage, ob Elsa auf ihn warten wolle. Als das Gespräch nach einigen Tagen fortgesetzt wurde, war es Elsa, die Fragen stellte. Sie vermied das Wort »Mission«, das ihr nicht über die Lippen gehen wollte. Sie fragte also nicht, ob er glaube, daß er in absehbarer Zeit seine Mission erfüllt haben werde, sondern sie fragte, ob er an die Wandlungsmöglichkeit eines Charakters glaube, ob er die Möglichkeit in Betracht ziehe, seinen Vater vom Bösen ablenken zu können. Sie war überrascht, als Peter versicherte, sein Vater mache eine seelische Krise durch, man müsse nur noch das Ende dieser Krise abwarten. »Er wollte ein Gott sein – und er hat nur erreicht, daß er der einsamste Mensch geworden ist. Das wird er nicht ertragen können«, sagte Peter. Er deutete an, der Vater sei auf ihn eifersüchtig, weil ihn, den armen, machtlosen Mann, alle liebten; der Vater erkenne nun die Wertlosigkeit 267 des Geldes, die Bedeutungslosigkeit von Geld und Macht. Das sei die heilsame Krise.
Elsa schwieg, sie war anderer Ansicht. Er hat sich verrannt, er sieht, was er sehen will, aber es ist nichts zu sehen, dachte sie, nie wird diese Krise eintreten, nie wird Dupic sich ändern. Ich muß etwas tun, sonst müßten wir endlos warten. Wenn ich nichts tue, geschieht nichts bis zu Dupics Tod. Es ist nicht angenehm, auf den Tod eines Menschen zu warten.
Sie widersprach Peter nicht, aber sie nahm ihren alten Plan wieder auf, weil sie erkannte, daß ihr ursprünglicher Weg jetzt mehr denn je der richtige war. Sie konnte und wollte sich nicht in die unerträglich hohe Sphäre aufschwingen, sie empfand, daß sie Peter und sich am besten helfen konnte, wenn sie den Weg nicht verließ, der ihren Kräften angemessen war. Ihr Bezirk war die dem Nächstliegenden zugewandte Vernunft, die logische Verwertung der vorhandenen Kräfte. Sie war schön, sie wollte ihre Schönheit spielen lassen. Sie war reich, sie wollte mit ihrem Reichtum Dupics Alleinherrschaft in Boran erschüttern. Sie wußte, daß sie mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln keine ernste Konkurrenz für Dupic bedeuten konnte, aber sie hoffte, durch einen geschickten Schachzug eine seelische Krise Dupics eher herbeiführen zu können als Peter mit seinem hohen Glauben.
Zunächst verschwand sie aus Boran, ohne ihre Pläne zu verraten. Ihrem Vater und Peter sagte sie nur, daß sie »geschäftlich« verreise. Peter wollte mit ihr korrespondieren, sie lehnte es ab, sie meinte, Briefe wären nur Anlässe zu Mißverständnissen. Der Vater schrieb 268 ihr, Peter frage jeden Tag, ob sie geschrieben habe, ob sie bald zurückkehre. Zauber der Entfernung! frohlockte sie. Bald wird er mich ungeduldig fragen, wie lange er noch warten müsse; vielleicht wird es bald seine wichtigste Mission sein, auf mich zu warten. Jetzt will ich dich warten lassen; es ist hart, aber es muß sein. Sie schrieb dem Vater, daß sie sich wohl befinde; kein Wort über die Art ihrer Geschäfte. Er war besorgt. Immer wieder bereiteten die Kinder ihm Kummer. Der Sohn opferte sich der Politik, immer war er in gefährliche Prozesse verwickelt, immer nahm er an den bedenklichsten Affären teil; einmal wird man ihn erschlagen, dachte der Lehrer. Nun ging auch die Tochter geheime, vielleicht gefährliche Wege, statt froh zu sein, daß sie versorgt war und sorglos leben konnte. Sie braucht ja nicht mehr den Lehrer Kohn oder den Lehrer Hirsch zu heiraten, dachte er, sie könnte jetzt den Dr. Dupic bekommen, der junge Mann scheint sich in sie verliebt zu haben, als seine Gattin hätte sie eine schöne soziale Position, sie könnte mit ihrem Geld heute jeden Mann bekommen, die Gnädige spielen, ein ruhiges Familienleben haben und die ganze Welt auslachen; aber nein, das will sie nicht, der Himmel weiß, was sie eigentlich will, wer weiß, wie es enden wird, die Welt ist voller Schlechtigkeit, Elsa kennt die Welt nicht, sie wird alles verlieren, überall lauern Betrüger, überall wird man ihr Fallen stellen. Meine Kinder wollen hoch hinaus, das ist ein Unglück.
Manchmal schrieb Elsa zwei, drei Wochen lang nicht, da ging der Lehrer ins Grand Hôtel und las alle Zeitungen, die närrischsten Einfälle gingen ihm durch 269 den Kopf, er ließ sich die illustrierten ausländischen Blätter geben und suchte Elsas Photographie, er sah die Überschrift »Opfer von Mädchenhändlern« und fuhr zusammen, atmete erleichtert auf, Gott sei Dank, sie war es nicht, er sah eine große Photographie: »Hochsaison in Nizza, Promenade des Anglais«, und suchte Elsa unter den Damen, die am Strand promenierten, Gott sei Dank, sie war nicht auf der Photographie.
Elsa hielt sich zuerst ein halbes Jahr in einer westdeutschen Industriestadt auf. Sie suchte eine Stelle in einer Glanzstoff-Fabrik, es war keine Stelle frei. Man bot ihr Stellen in anderen Industrien an, sie nahm keine an, wartete vier Wochen, dann kam sie bei einem Kunstseidenunternehmen unter, zwar nicht in der Kunstseidefabrik, auf die sie sich versteift hatte, aber in einer der Färbereien, die derselben Firma gehörten. Sie arbeitete sich rasch ein, nach zwei Monaten wurde ihr Gehalt erhöht, sie erklärte, auf die Gehaltserhöhung zu verzichten, falls man sie in der Kunstseidefabrik beschäftigen wolle. Man räumte ihr die gewünschte Stellung ein. Sie machte freiwillig Überstunden, ein Prokurist interessierte sich für sie, bat um ein Rendezvous, sie ging mit ihm in ein Restaurant. Der behäbige Mann – er war verheiratet, Familienvater, er wollte kein großes Erlebnis, nur ein kleines Abenteuer, nur die günstige Gelegenheit ausnützen – hoffte, rasch zum Ziel zu gelangen, sie nahm seine Andeutungen ohne Zimperlichkeit auf, hörte geduldig seine zweideutigen Scherze an, wehrte sich nicht, als er ihre Hand streichelte, aber es fiel ihm auf, daß sie sehr oft das Gespräch auf Kunstseide lenkte, es war offenbar die Spionin einer 270 Konkurrenzfirma. Dieser Verdacht wurde zur Gewißheit, als sie ihn bat, ihr den ganzen Betrieb zu zeigen. Er zeigte ihr nur, was jedem Fremden gefahrlos gezeigt werden konnte. Als er zudringlich zu werden begann, kündigte sie. Nach ihrem Austritt fand er sie eines Tages als Arbeiterin im Maschinensaal. Vierzehn Tage arbeitete sie an der Maschine, dann verließ sie die Stadt.
Sie fuhr nach Italien, arbeitete ein halbes Jahr in einer Kunstseidefabrik in der Nähe von Ferrara. Hier lernte sie mit Ätznatron, Natron-Zellulose, Schwefelkohlenstoff, Xanthat, Spinnsalz, Viskose arbeiten, hier sah sie, wie der glänzende Faden entstand. Nachdem sie ein halbes Jahr hier verbracht hatte, drang das beunruhigende Gerücht nach Ferrara, der deutschen Kunstseiden-Industrie sei es gelungen, die erste waschbare Kunstseide herzustellen. (Bis zu dieser Stunde hatten alle Fabrikdirektoren gejammert: ja, wenn das Gespinst waschbar wäre – die ganze Seiden- und Wolle-Industrie könnten wir schlagen, unser Produkt ist billiger als Seide und Wolle!) Drei Tage später war Elsa wieder in der westdeutschen Industriestadt, der Prokurist nahm sie respektvoll auf, nachdem sie offen erklärt hatte, sie wolle es in Böhmen mit einer ganz kleinen, ganz bescheidenen Kunstseidefabrik versuchen, sie habe nicht den Ehrgeiz, der größten Kunstseidefabrik Deutschlands Konkurrenz zu machen. Der künftigen Fabrikantin gegenüber kehrte er sofort den Gentleman hervor.
Im Herbst 1921 wußte sie alles, was in dem Betrieb erlernbar war, und reiste nach Hause. 271
Sie war sehr ruhig und gelassen, als sie Peter zum erstenmal wiedersah. Bewundernd blickte er sie an. Ihr eckiges Kinn war ein liebliches Oval geworden, das veränderte sie sehr, sie sah mädchenhafter aus als früher, obwohl ihre Stimme dunkler klang als vor der Reise. Sie fragte, wie es seinem Vater gehe, er lächelte: »Alles ist, wie es war.« Sonderbare Zeit, in der wir leben, dachte sie, er denkt immer noch ausschließlich an seinen Vater, und ich, ich bin ganz Kunstseide, ganz Ätznatron, Natron-Zellulose, Schwefelkohlenstoff, Xanthat, Spinnsalz, Viskose, vor hundert, vor zwanzig, vor zehn Jahren wäre ein solches Verhältnis nicht möglich gewesen. Sie sah die schmale, baumlose Straße, die von der Fabrik nach Ferrara führte, die Arbeiter und Arbeiterinnen, die engumschlungen nach der Arbeit in die Stadt gingen und sich küßten, unbekümmert um die Zuschauer. Lächelnd dachte sie: Man ist heute nicht anders als vor hundert Jahren, auf dem Weg von der Fabrik nach Ferrara war ich jeden Abend wie toll vor Sehnsucht: Wenn ich ihn hier hätte und küssen könnte, wie diese Burschen und Mädchen sich küssen! Das war mein einziger Gedanke. Ebenso war ich sein einziger Gedanke, täglich ging er zu meinem Vater, um etwas von mir zu hören. »Ich habe die Zeit gut genützt«, erzählte sie, »ich bin heute ein perfekter Fachmann in Kunstseide, ich werde Ihrem Vater Konkurrenz machen.«
Sie besichtigte die sechs Dupicschen Fabriken, die noch nicht fertig waren. Wenn ich mich beeile, wird meine Fabrik früher als seine fertig, dachte sie. Sie bedauerte, Dupic beim Bau nicht angetroffen zu haben, 272 sie hätte ihm gern gesagt: »Auch ich baue eine Kunstseidefabrik, wir werden Konkurrenten sein.« Sie hatte eine mehrstündige Besprechung mit dem Baumeister, dem sie den Bauauftrag gab, zwei Tage und zwei Nächte lang befaßte sie sich mit den Kalkulationen, dann wurde zu bauen begonnen. Boraner Arbeiter bauten Elsas Fabrik, manche, die bei Dupic gearbeitet hatten, gingen zu Elsas Bau über, es meldeten sich manche, die bei Dupic nicht gearbeitet hatten, unter ihnen war Domansky, der Riese Domansky, der sich rühmte, er habe den alten Dupic zweimal springen lassen, zuerst einen halben Meter hoch, dann noch höher.
Dupic war verreist. Nach seiner Rückkehr erschien er auf Elsas Bauplatz. Die Arbeiter sahen ihn lachen. Er machte zweimal die Runde um den Bauplatz und spähte aufmerksam, blickte jedem Arbeiter ins Gesicht, dann zog er ein Papier aus der Brieftasche und notierte etwas. »Er soll uns nur nicht zu nahe kommen, sonst lass' ich ihn wieder springen«, sagte Domansky laut, damit Dupic es höre. Dupic tat, als ob er nichts gehört hätte, aber gleich darauf drehte er sich um und verließ den Bauplatz. »Vor mir hat er Respekt«, renommierte Domansky.
Elsa wurde berichtet, daß Dupic auf ihrem Bauplatz gewesen sei. Als sie ihm tags darauf in der Bahnhofstraße begegnete, hatte sie starkes Herzklopfen und fürchtete, daß sie wie ein verlegenes Schulmädchen vor ihm stehen werde. Er rief sie schon von weitem an: »Ergebenster Diener, Fräulein Buxbaum, wie geht's, wie steht's?« Er schüttelte ihr die Hand. Blickte ihr treuherzig in die Augen: »Ist's immer gut gegangen, hat man viel Schönes erlebt? Ich will hoffen, man ist 273 zufrieden?« – »Man ist sehr zufrieden«, erwiderte sie schnippisch, »man hat ein schönes Stück Welt gesehen und etwas Ordentliches gelernt, jetzt wird man versuchen, die erworbenen Kenntnisse in Boran zu verwerten.« – »Was soll das werden?« fragte Dupic und wies nach der Richtung des unsichtbaren Bauplatzes. – »Raten Sie«, lächelte Elsa. Dupic blinzelte sie an, feixte: »Das wird wohl nicht schwer zu erraten sein. Sie haben in einer deutschen Kunstseidefabrik gearbeitet.« – »Das wissen Sie auch?« lachte Elsa. – »Ich weiß alles«, grinste Dupic, »Sie bauen eine Kunstseidefabrik, Sie wollen mir zeigen, was das weibliche Geschlecht leisten kann.« – »Richtig«, lächelte Elsa, »das will ich allerdings.« Dupic blickte sie prüfend an, sein Gesicht wurde ernst, bedauernd sagte er: »Schade.« Er packte Elsas Arm, dämpfte die Stimme: »Ein so schönes Mädchen wie Sie gehört ins Bett. Ein Betthase sind Sie, keine Kunstseidefabrikantin. Im Liebeskampf können Sie große Siege erringen, nicht im kommerziellen Wettbewerb. Mit Ihren zwei Augen und mit Ihren zwei Beinen könnten Sie die Welt erobern.« – »Sie überschätzen mich«, lachte Elsa und entzog ihm den Arm, »ich kann nicht mit Männern umgehn, ich will auch nicht die Welt erobern, ich will mir nur ein kleines Absatzgebiet schaffen, es wird keine ins Gewicht fallende Konkurrenz für Sie sein.« – »Warum nicht?« krähte Dupic, »machen Sie mir nur tüchtig Konkurrenz, es wird mir ein Vergnügen sein! Ohne Konkurrenz ist das Geschäft langweilig. Aber« – er dämpfte wieder die Stimme – »es ist kein Honiglecken. Sie werden ja sehn, wie schwer es ist, mit den Leuten auszukommen. Die 274 Deutschen können die Tschechen nicht schmecken. Die Tschechen spucken die Deutschen an. Dann haben wir deutsche Sozialdemokraten und tschechische Sozialdemokraten. Und Kommunisten. Dann haben wir deutsche Nationalsozialisten und tschechische Nationalsozialisten. Dann haben wir Hakenkreuzler. Dann haben wir tschechische Nationaldemokraten. Alle kämpfen gegen alle; so ist es heute überall. Einig sind sie nur, wenn sie an mich denken, an den verfluchten Unternehmer. Und Sie, mein liebes Fräulein, Sie werden es noch schwerer haben als ich, weil Sie Jüdin sind.« – »Sie wollen mich entmutigen«, lächelte Elsa. – »Durchaus nicht«, protestierte Dupic, »im Gegenteil: wenn Sie einen Rat brauchen – ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung. Sie wissen ja, daß Sie meine heimliche Liebe sind. Und wie steht die Sache mit Peter, wenn man fragen darf? Keine Verlobung in Aussicht? Ich dachte, daß Sie ein Liebespaar sind.« – Elsa schüttelte den Kopf. – »Was nicht ist, kann werden«, tröstete Dupic und verabschiedete sich mit einem Handkuß.
Ich bin nicht größenwahnsinnig, aber daß ich ihn nervös mache, wird mir niemand ausreden, dachte sie.
Peter konnte es bestätigen. Auch Fremde merkten es. Dupic war nervös. Seine Nervosität äußerte sich vor allem in der Hast, mit der er plötzlich die Fertigstellung der Fabrikgebäude betrieb. Man sah ihn in der Nacht Elsas Bauplatz umschleichen. Elsa war erstaunt, sie meinte, Dupic müsse sehen, daß sie nur eine kleine »Quetsche« baue, die seinen sechs riesigen Fabriken nicht Konkurrenz machen könne. Peter erläuterte, es handle sich nicht um den Umfang des Unternehmens, 275 nicht um die Konkurrenz, die Dupic in der Tat von vornherein ausgeschaltet habe, weil er über unerschöpfliche Mittel verfüge. Sondern: das Bewußtsein, daß es von nun an Menschen in Boran gebe, die nicht auf ihn angewiesen seien, mache ihn nervös. Diesen Gedanken könne er nicht ertragen.
Das waren bloß Vermutungen; Dupic äußerte sich über Elsas Bau wohlwollend, er sprach von ihrer werdenden Fabrik wie von einem originellen Kinderspielzeug.
Elsas Fabrik wurde fünf Monate nach den Dupicschen Fabriken fertig. Die Fabrik beschäftigte achtzig Arbeiter. Sie war wenig vergrößerungsfähig, das Baugeld war knapp bemessen gewesen; Elsa wollte eine kleine, aber schwer einnehmbare Festung gegen Dupic verteidigen. Vom Bau einer Villa, die sie gern besessen hätte, mußte sie Abstand nehmen; sie ließ neben der Fabrik ein kleines Einfamilienhaus errichten, das sie mit einer Köchin bewohnte. Der Vater blieb in seinem Schulhaus.
Sie richtete ihr neues Heim mit kindlicher Hingabe an ihre karge Phantasie ein. Bei jedem Sessel, jedem Bild, jedem Kaffeelöffel, den sie kaufte, dachte sie an Peter. Wird ihm alles gefallen? Errate ich seinen Geschmack? Wird er in diesem Sessel gut sitzen? Wird ihm die Tönung der Tapete zusagen? Sie führte keinen Menschen in ihr Haus; nur der Vater durfte es besichtigen. Niemand sollte sehen, daß sie ein ungeheuer breites französisches Doppelbett gekauft hatte. Sie fühlte sich sehr wohl in diesem ungeheuren Bett. Sie sprach mit den Dingen. Mein lieber Klubsessel, nicht für mich habe ich dich gekauft, ich sitze ebenso gern auf einem harten Küchenstuhl, aber warte nur, du wirst 276 nicht ewig ein überflüssiges Möbelstück sein, du wirst Peter gehören, dann erst werde auch ich dich schätzen. Hier wird Peter sitzen, ich auf seinem Schoß. Meine lieben schönen Bilder, seid nicht traurig, ich weiß, daß ihr unzufrieden seid, weil ihr, von keinem gewürdigt, an der Wand hängen müßt, ich bin ein amusischer Mensch, ich bin Geschäftsfrau, ich weiß kaum, was Schönheit ist. Aber bald wird Peter kommen und euch sehen, dann beginnt auch für euch eine bessere Zeit, er wird euch zu würdigen wissen; wie glücklich wäre ich, wenn ihr ihm gefielet, wenn er euch liebgewönne. Einstweilen wollen wir alle, ihr toten Dinge, geduldig warten, unsere Zeit wird kommen. Dann werdet ihr keine toten Dinge mehr sein, dann werden wir alle zu leben beginnen, auch ich. Denn seht, ich stehe in diesen Zimmern umher und gehe in die Fabrik und rühre mich, so sehr ich kann, ich rechne, schreibe, zeichne, telephoniere und telegraphiere, ich unterhandle, bin bei den Maschinen, greife überall ein, wo etwas nicht klappt, alles geht gut, alle sagen, ich sei enorm tüchtig, das Geschäft wird von Tag zu Tag rentabler, alle bewundern meine Energie, meine Vitalität, aber trotzdem bin ich einstweilen nur ein totes Ding wie du, unberührter Klubsessel, wie ihr, meine nicht gewürdigten Bilder.