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Es hatte aufgehört zu regnen, der Himmel war blau geworden, und fahle kühle Sonnenstrahlen beleuchteten den Dezembertag.
Ralph O'Flanagan stand vor dem Hotel, ließ den Blick nach links und rechts schweifen, und das Bild, das sich ihm bot, war von so eigenartiger Lieblichkeit, wie er es nach der Fahrt im schäbigen Autotaxi wirklich nicht vermutet hatte. Er querte den Ring, ging bis zur Oper und betrachtete mit hellem Entzücken und unverdorbenem primitiven, aber um so echteren Verständnis den harmonischen Bau und freute sich auf die Kunstgenüsse, die er ihm bieten würde. Oft genug hatte ihm ja seine Mutter von der Wiener Oper, von der Bild und der Schläger, dem Winkelmann und Reichmann erzählt. Und immer hatten ihre Augen vor Stolz dabei geleuchtet, so daß einmal sein Vater mit schneidendem Hohn ausgerufen hatte:
»Machst ja gerade, als hätte die Oper dir gehört!«
Ralph O'Flanagan bog, nachdem er einen Taschenplan zu Hilfe gezogen, in die Kärntnerstraße, und nun erst empfand er es, in einer Großstadt zu sein. Die Straße fast so belebt wie das New Yorker Tenderloin, elegante Herren, schöne Frauen in kostbaren Pelzen, nach der neuesten Mode gekleidet, geschmackvolle Auslagen, gefüllt mit den besten und schönsten Erzeugnissen Wiener Schneider- und Modekunst.
Ralph lächelte und zog einen Vergleich. Die New Yorker Damen traten mit mehr Selbstbewußtsein auf, diese Wienerinnen aber da mit entschieden mehr Grazie. Und wie sie mit ihren großen, schelmischen Augen zu flirten verstanden! Ralph errötete unter dem Kreuzfeuer von Blicken, die mit Wohlgefallen an ihm hängen blieben, und wieder mußte er seiner Mutter gedenken.
»Kokett sind ja die Wiener Mädeln«, hatte sie einmal gesagt, »auch leichtsinnig, aber dabei gut und lieb.«
Schon fühlte sich Ralph vom Tempo des Wiener Lebens erfaßt, langsam wie noch nie in seinem Leben schlenderte er bis zum Stephansplatz, blieb mit weit aufgerissenen Augen vor dem Dom stehen und schloß sich dann dem Mittagsbummel auf dem Graben an. Aber seine Gedanken waren nicht mehr in der neuen Stadt, flogen weit zurück übers Meer und den halben amerikanischen Kontinent, zur toten Mutter, zum freudlosen, nüchternen Elternhaus, zu seinem früheren Leben, aus dem er mit einem jähen Ruck gerissen worden war.
Patrick Ralph O'Flanagan war als das einzige Kind des Sägewerksbesitzers John Patrick O'Flanagan und dessen Gattin Lola, geborene Holub, in St. Paul, der größten Stadt des nordwestlichen Staates Minnesota, aufgewachsen. Sein Vater ein Hüne, Typus des Irländers mit Stiernacken, breiten Schultern, mächtigen Fäusten, trockenem Witz und eisernem Schädel. Die Mutter klein, zierlich, mädchenhaft auch noch mit vierzig Jahren. Und wenn der Vater einen Jähzornanfall bekam und zu brüllen begann, dann wurden ihre großen blauen Augen ganz dunkel und feucht, sie erzitterte am ganzen Leib wie ein junges Reh, und später, als Ralph zwölf und mehr Jahre alt geworden, geschah es oft, daß Frau Lola wie hilfesuchend den Arm ihres Sohnes ergriff, wenn der Vater harte Worte sagte.
Mutter hatte aber neben tausend lieben, guten Eigenschaften auch eine sehr drollige, über die Ralph jetzt, mitten am Wiener Graben, bei der Erinnerung laut auflachen mußte. Mutter hatte nämlich nie ordentlich die englische Sprache erlernen können! Wohl konnte sie sich mit jedermann vollständig und leicht verständigen, jedes englische Buch glatt lesen, aber ihrem Englisch haftete ein entschiedenes Wienerisch-Deutsch an, und wenn sie in Aufregung geriet oder vor ihrem großen, mächtigen Mann Angst hatte, vergaß sie die englische Sprache ganz und produzierte ein Kauderwelsch, über das sich der kleine Ralph krank lachen konnte, der Vater aber erst recht in Tobsucht geriet. Mama sagte ihrem Jungen, wenn sie mit ihm allein war, immer wieder auf deutsch:
»Ralpherl, weißt, ich hab' ja schon so gut englisch sprechen können, aber später, wie ich mit O'Flanagan ein paar Wochen verheiratet war, hab' ich alles wieder vergessen.« Wobei zu bemerken ist, daß seine Mutter von ihrem Gatten nie anders als »der O'Flanagan« sprach.
Mamas Geschichte hatte sich folgendermaßen abgespielt:
Der in Fachkreisen sehr bekannte Wiener Architekt Rudolf Holub hatte im Jahre 1889 von einer großen amerikanischen Gesellschaft den ehrenvollen Auftrag erhalten, herüber zu kommen, um sich am Bau einer mächtigen Brücke über den Delaware zu beteiligen. Und da Rudolf Holub ein armer Teufel trotz seines Ruhmes war und das amerikanische Angebot materiell sehr verlockend, so nahm er an und fuhr mit seiner Frau und dem kaum siebzehnjährigen Töchterchen Lola nach Amerika. Frau und Tochter blieben in New York in einer netten deutschen Pension, Architekt Holub aber fuhr mit den übrigen Architekten, Zeichnern und Ingenieuren dorthin, wo die Brücke gebaut wurde.
Einen einzigen Brief bekam seine Frau von ihm: In diesem Brief hieß es:
»Mir ist bange nach Euch, so bange, wie ich es gar nicht sagen kann. Alles erscheint mir hier wild, so roh und brutal. Der Wind wird zum Orkan, der Regen zum Wolkenbruch, Sonnenwärme zur Höllenqual. Es ist, als wollte sich die amerikanische Erde gegen den weißen Eindringling zur Wehr setzen. Mir ist gar nicht wohl zu Mute, dumme, haltlose Träume und Ahnungen bedrücken mich.«
An einem Montag hatte Frau Holub diesen Brief bekommen und am folgenden Dienstag erschien einer der Manager der Gesellschaft bei ihr und teilte ihr mit, daß ihr Gatte am Samstag von einem gestürzten Eisenpfeiler erschlagen worden sei. Er kondolierte herzlich und außerdem gab er der Witwe noch einen ganzen Wochengehalt, wobei er versicherte, daß Amerikaner nobel seien.
Und Frau Holub stand, der englischen Sprache nicht mächtig, mit ihrem zarten, bildschönen Töchterchen, das hübsch singen und etwas klavierspielen, aber sonst auch gar nichts konnte, mittellos im fremden Lande da.
Die kleine Lola entwickelte ungeahnte Energien. Nachdem sie sich ausgeweint hatte, begab sie sich eines Tages im Oktober nach der vierzehnten Straße, bog auf den Irving Place ein und blieb mit hochklopfendem Herzen vor einem recht schäbigen Theatergebäude stehen, dessen bunte Reklamezettel besagten, daß hier die Direktoren Gustav Amberg und Heinrich Conried Theater spielen. Lola hatte nämlich am Tag vorher in der Staatszeitung gelesen, daß das deutsche Theater durch die Erkrankung zweier weiblicher Mitglieder in arge Verlegenheit geraten sei und besonders das Operettenrepertoire sehr würde leiden müssen. Worauf Lola sich im Spiegel besah, feststellte, daß sie auch im schwarzen Fähnchen sehr reizvoll aussehe, sich im Parlor der Pension an das Klavier setzte, ein paar Töne anschlug und abermals befriedigt konstatierte, daß ihre Stimme gut und hell klinge.
Und nun stand Lola vor dem Theater, hatte Herzklopfen und traute sich nicht hinein. Bis ein freundlicher Mann mit mächtigem Schnurrbart vor ihr stand und nach ihrem Begehr fragte. Es war dies der sehr einflußreiche und wichtige Theaterdiener Herr Steinberg, ehemaliger k. k. Sicherheitswachmann in Wien! Da Steinberg das Mädchen nicht in der verhaßten englischen Sprache anredete, sondern »Freil'n« sagte, wurde sie zutraulich und erklärte, ein Engagement zu suchen. Worauf Steinberg sie ohneweiters beim Arm packte und in die Direktionskanzlei führte, in der eben Herr Amberg und Herr Conried einander die furchtbarsten Grobheiten an den Kopf warfen.
Fünf Minuten später stand Lola auf der Bühne, um, von dem Wiener Kapellmeister Lehner begleitet, das Liedchen zu singen:
»Weißt du Mutterl, was mir träumt hat . . .«
Abermals fünf Minuten später war Lola mit der schandbaren Gage von zwanzig Dollar wöchentlich als Soubrette an das Irving-Place-Theater engagiert.
Den Wert oder Unwert dieser Summe durchaus nicht erkennend, lief Lola beglückt nach Hause und fiel ihrer vergrämten und abgehärmten Mutter jubelnd um den Hals. Die Witwe lauschte der Botschaft, rote Flecken traten in ihre mageren Wangen, sie griff sich mit den wachsgelben Händen ans Herz und sagte: »Kind, du mußt aber brav bleiben, auch wenn ich nicht mehr bin.«
Einige Wochen später, zwei Tage nachdem Frau Holub einem Herzleiden erlegen war, stand Lola auf den Brettern, die ihr die Rettung bedeuteten, und sang in der Fledermaus den Prinzen Orlowsky. Davon, daß sie in den Pausen schluchzte und von den mitleidigen Kollegen mit Whisky gelabt werden mußte, hatte das Publikum, dem die kleine Soubrette sehr gut gefiel, keine Ahnung.