Hugo Bettauer
Der Kampf um Wien
Hugo Bettauer

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60. Kapitel

Hilde Wehningen und ihre Freier.

Eine Fahrtstunde von dem kleinen, idyllisch gelegenen Orte Krieglach in der Steiermark entfernt, befindet sich das Gut, dessen Herrin die verwitwete Frau Leonie Stuppach, vor dem Umsturz Baronin Stuppach, geborene Gräfin Boos, ist. Bei ihr hielt sich nun schon seit Wochen Hilde Wehningen mit ihrer Mutter, einer Schwester der Gutsherrin auf.

Frau Stuppach hatte nach dem Tode ihres Gatten mit starken, harten Händen die Zügel ergriffen, um den über und über verschuldeten und mit Hypotheken belasteten Herrensitz für sich zu retten. Ihrer zähen Energie, verbunden mit sprichwörtlichem Geiz, war die schwierige Aufgabe gelungen, und die letzten Jahre mit ihren unaufhörlichen Preissteigerungen für Vieh, Molkereiprodukte, Gemüse und Geflügel hatten es mit sich gebracht, daß das Gut Stuppach schuldenfrei wurde und reiche Erträgnisse abwarf.

Frau Stuppach hatte gewußt, daß ihre einzige Schwester als verarmte Witwe in Wien darbte, ihre Nichte mühsam das kärgliche Brot verdienen mußte – trotzdem war es ihr nie in den Sinn gekommen, die beiden Frauen irgendwie zu unterstützen. Im Gegenteil, um es zu vermeiden, daß die armen Verwandten sich an sie wenden würden, hatte sie jeden Briefwechsel aufgegeben, war nie nach Wien gefahren, so daß Hilde sich nur dunkel entsinnen konnte, als kleines Mädchen einmal die große, knochige Tante mit ihrer tiefen Stimme und dem fast männlich-derben Gehaben gesehen zu haben.

Allerdings, als Frau Wehningen nach der Verhaftung und gleich darauf erfolgten Rehabilitierung ihrer Tochter der Schwester einen jammervollen Brief schrieb, da erwachte Mitleid und Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gutsherrin und sie verstieg sich zu der Ausgabe eines Telegrammes, um Schwester und Nichte einzuladen.

Und als sie das bildhaft schöne, zarte, junge Geschöpf mit den bleichen Wangen und den traurigen, vom Weinen ermatteten, großen Augen vor sich sah, da wurde sie von fast erstarrten Gefühlen übermannt und schloß Hilde in die Arme, eine Geste, deren sie sich gleich darauf schämte, weil sie alles, was man sentimental nennen konnte, für lächerlich erklärte.

Lange hielt dieser Gefühlsüberschwang allerdings nicht an. Nach einigen Tagen dröhnte wieder ihr männlicher Baß durch das große, weitläufige Herrenhaus, sah sie in Schwester und Nichte unnütze Esser, ließ keine Mahlzeit vorübergehen, ohne sich ausführlich über die geltenden Lebensmittelpreise zu äußern und zu erklären, welchen großen Wert die aufgetragenen Speisen hätten. Sorgte aber doch dafür, daß Hilde immer einen Krug frischer Milch auf ihrem Zimmer hatte und sich langsam wieder an die seit vielen Jahren entbehrte Fleischkost gewöhnte.

Hilde empfand mit ihren überempfindlichen Nerven sehr wohl das Peinliche ihrer Lage, empörte sich innerlich über das Dasein einer Almosenempfängerin, das sie führte, war aber körperlich zu schwach, zu müde, um sich aufzulehnen.

In einen alten Reisepelz ihrer Tante gehüllt, die Füße in derben, genagelten Schuhen, pflegte Hilde die Vormittage mit einsamen Wanderungen durch die schneereiche Landschaft zu verbringen.

So sehr war sie durch die Ereignisse der letzten Wochen erschüttert und aufgewühlt, daß sie mitunter stundenlang halblaute Selbstgespräche führte. Der Mittelpunkt ihrer Gedanken und Gespräche aber war immer und immer wieder Ralph.

Jetzt, ferne von Wien und ihrer betäubenden Bureauarbeit, innerlich ganz auf sich selbst gestellt, kam es ihr klar zum Bewußtsein, wie groß und wie tief ihre Liebe zu Ralph war. Und wenn sie in Schnee und Sturm die Straße gegen Mürzzuschlag hinanstieg, kreisten ihre Gedanken stundenlang um den einen Punkt:

War es recht gewesen, daß sie Ralph endgültig von sich gestoßen, mußte sie ernstlich der Echtheit seiner Gefühle mißtrauen, oder war es nur dummer, alberner Mädchenstolz, von den Ahnen ererbter Hochmut gewesen, der sie gezwungen, die Bewerbung Ralphs zurückzuweisen?

Sie schloß bei solchen Gedanken oft die Augen und dann sah sie das männlich-schöne, Güte und Liebe ausstrahlende Gesicht Ralphs vor sich, und sie schluchzte laut auf in jener tiefen Verzweiflung, die Menschen überfällt, wenn sie ihr Glück mit eigenen Füßen von sich gestoßen haben.

Mitunter war sie nahe daran, Ralph zu schreiben. Aber immer wieder verwarf sie diese Absicht. Müßte er nicht glauben, daß sie nur Komödie gespielt hatte? Und wer weiß, in wessen Bann Ralph mit seinen unverdorbenen, allen Eindrücken zugänglichen Sinnen jetzt stand? Schließlich mochte sie ihm doch nur ein liebes Spielzeug gewesen sein und er begann ihrer zu vergessen, war froh; in heiterer, leichtsinniger Gesellschaft nicht immer von sittlichen Forderungen und dem Ernst des Lebens verfolgt zu werden.

Da Frau Suppach nur den Wochenanzeiger für Krieglach und Umgebung hielt und dieser nur die geltenden Preise für agrarische Artikel, die Termine der Märkte und etliche Anzeigen veröffentlichte, wußte Hilde nichts von den Vorgängen in Wien. Frau Stuppach hätte das Halten einer Grazer oder gar Wiener Zeitung für gottlose Verschwendung erklärt, glaubte um so eher darauf verzichten zu können, als sie bei ihren sonntäglichen Kirchenbesuchen in Krieglach ohnedies von welterschütternden Ereignissen auf mündlichem Wege einiges erfuhr.

Wohl nahm Hilde an Körpergewicht zu, wohl färbten Wind und Luft ihre Wangen wieder rot, aber die Gemütsdepression, von der sie umfangen wurde, hielt an, begann in jene Melancholie überzugehen, aus der sich bei jungen Menschen oft schwere psychische Störungen entwickeln.

Frau Wehningen beobachtete die traumverlorene Versunkenheit ihrer Hilde längst mit Schmerzen, schließlich bemerkte sie auch Frau Stuppach, und als ihr eine der Mägde einmal mitteilte, daß das gnädige Fräulein die halben Nächte in ihrem Zimmer ruhelos auf- und abzugehen pflege, da war sie mit ihrem Urteil fertig und erklärte der Schwester in dröhnendem Baß:

»Hilde braucht einen Mann, das ist alles! Ich werde sie einfach verheiraten und damit basta!«

Richtig brachte Frau Stuppach am nächsten Sonntag aus Krieglach einen Gast mit: den Ökonomen und Mühlenbesitzer Herrn Peter Kunzel, einen braven, biederen, durchaus ehrbaren Witwer, in den besten Jahren, das heißt hoch in den Vierzigern, der für seine Ökonomie, Mühle, die zwei halbwüchsigen Kinder und schließlich auch für sich selbst unbedingt ein Weib brauchte.

Er war von Hilde entzückt, hätte sie am liebsten vom Fleck weg geheiratet und erklärte ein- über das anderemal: »Unter meiner Pflege tät' das gnä' Freil'n in drei Monat' dreißig Kilo zunehmen! Ich versteh' mich auf die Aufzucht, was, Frau Baronin?«

Nach Tisch fuhr er mit der einwandfreien Begründung, sich um die Schweine kümmern zu müssen, deren zwei am Rotlauf erkrankt seien, nach seiner Ökonomie bei Mürzzuschlag zurück, nicht ohne mit vielsagendem Blinzeln zu erklären, daß er bald wieder kommen würde. Und küßte Hilde zweimal heftig die Hand, was sie sich nur widerstrebend gefallen ließ, da ihr sein dichter, buschiger Schnurrbart Unbehagen verursachte.

Abends bei Tisch verkündete Frau Stuppach kategorisch:

»Hilde, der Herr Kunzel ist zwar nur ein einfacher Mann, der nicht aus unseren Kreisen stammt, aber er ist ein zuverlässiger Mensch, schwerreich, durchaus gutmütig, kurz und gut, der richtige Mann für dich. Wenn es dir paßt, so könnt' Ihr euch am nächsten Sonntag verloben und noch vor Ostern Hochzeit halten.«

Hilde hatte eben an Ralph gedacht und wie in greifbarer Nähe seine warmen braunen Augen auf sich gerichtet gefühlt. Die Erinnerung an die vielen hübschen Stunden, die sie in seiner Gesellschaft verbracht, überkam sie so lebendig, daß sie glücklich vor sich hingelächelt hatte. Und nun war sie durch die Worte ihrer Tante aus ihren Träumen in die Wirklichkeit gerissen worden. Und schon lag in der gereizten Art, in der sie fast überlaut antwortete, ein Anflug von Hysterie, dieser Mitgift armer, unzufriedener, unglücklicher Frauen:

»Nein Tante, es paßt mir nicht und ich finde es eigentlich unerhört, daß du mir einen derartigen Menschen auch nur in Gedanken zumutest.«

Frau Stuppach fuhr auf, es kam zu heftigen Worten, vergebens versuchte Frau Wehningen zu beschwichtigen, die Tante schmetterte erbost ihrer Nichte zu:

»Lieber will die Bettelprinzessin fremdes Brot essen, als die Frau eines anständigen Menschen werden, der kein geschniegelter Windhund ist!«

Der Schluß war, daß Hilde in krampfhaftes Schluchzen verfiel, das stundenlang anhielt, und ihre Tante trotz ihres Ingrimmes ihr die besten Worte geben mußte, um sie zu verhindern, schon am nächsten Tag nach Wien zurückzukehren.

Im Februar erhielt Frau Stuppach von ihrem Gutsnachbarn, der ehemalig gräflichen Familie Borstorf, eine Einladung, die natürlich auch Frau Wehningen und Hilde galt. Die fast zweistündige Schlittenfahrt über meterhohen Schnee verursachte Hilde tiefes Behagen, sie konnte sich an der Schönheit der in Schnee gehüllten Berge und Wälder nicht satt sehen, war von der Pracht des alten Barockschlosses der Borstorfs angenehm überrascht.

Das Ehepaar Borstorf galt als außerordentlich begütert und hatte neben einer verheirateten Tochter, deren Gatte dereinst das Gut übernehmen würde, noch einen Sohn, der der österreichischen Gesandtschaft in Berlin attachiert war und nun einen kurzen Urlaub bei seinen Eltern verbrachte.

Rudolf Borstorf, schlank, sehr blond mit sehr hellblauen Augen, überschüttete Hilde, die ihm in ihrer strahlenden Schönheit wie eine Königin erschien, mit Aufmerksamkeiten, machte ihr sofort auf Tod und Leben den Hof, verliebte sich bis über beide reichlich langen und abstehenden Ohren in sie.

Hilde empfand seine Huldigung nicht als unangenehm, es war schließlich ein Mann von ihrer Art und Gesittung, benahm sich taktvoll und diskret, und es entwickelte sich ein herzlicher, freundnachbarschaftlicher Verkehr, der ein wenig Farbe in Hildes monotones Leben brachte. Rudolf Borstorf fuhr täglich mit dem Schlitten herüber, um sie abzuholen und mit ihr weiter in kleine, freundliche steierische Dörfer zu fahren, deren Wirtshäuser ihnen Apfelwein, schwarzes Brot und Räucherspeck boten.

So verging die Zeit und mit ihr Rudolfs Urlaub.

Es war an einem Tag zu Mitte Februar, als bei solch gemeinsamer Schlittenfahrt Rudolf Borstorf die Hand Hildes ergriff und warm sagte:

»Hilde, ein paar Tage noch und ich muß zurück nach Berlin. Möchte aber vorher wissen, woran ich bin. Sie müssen doch fühlen, wie teuer Sie mir sind, wie sehr ich Sie liebe und an Ihnen hänge. Ich weiß, Sie sind mir geistig überlegen, sind feiner und besser als ich, aber schließlich, das bißchen Verstand, das ich für meinen Beruf als Diplomat brauche, habe ich, und es ist doch wohl nicht unwesentlich, daß ich reich genug bin, um Ihnen ein sorgenloses Leben zu bereiten. Und so frage ich Sie denn in aller Form, ob Sie meine Frau werden wollen!«

Hilde hatte diese Erklärung erwartet und gefürchtet. War sich immer ganz klar darüber gewesen, daß sie auch diesen Antrag ablehnen würde. Wie aber nun Rudolf Borstorf ihr so schlicht und treuherzig seine Liebe erklärte, mußte sie die Augen schließen, um im Bruchteil einer Sekunde ihr Leben und seine Möglichkeiten zu betrachten.

Auf der einen Seite Frondienst, kleinliche, erbärmliche Sorgen, die alternde Mutter mit ihrer steten Angst vor Hunger und Schande, sie selbst in ein paar Jahren ein gealtertes Mädchen, auf der anderen Seite Sorglosigkeit, ein behagliches Heim, Reisen nach fremden Ländern, und ein Mann, den sie zwar nicht liebte, aber doch würde schätzen und achten können.

Hilde krampfte die Hände in Qual zusammen. Brennende, maßlose Sehnsucht überkam sie. Sehnsucht nach Ralph, aber auch nach Frieden, nach Ruhe, Glück und dem eigenen Heim.

Schweratmend wandte sie sich Rudolf Borstorf zu:

»Und wenn ich Ihnen sage, daß ich in Ihnen zwar einen guten Freund sehe, aber Sie nicht lieben kann, wie es sein soll, weil ich mein Herz schon längst einem anderen geschenkt habe, einem, von dem ich allerdings nicht einmal mehr weiß, ob er noch in Europa weilt?«

Einen Augenblick empfand Rudolf diese unerwartete Antwort wie einen Schlag ins Gesicht, dann gewann der Wunsch, Hilde zu erobern, in ihm die Oberhand.

»Die Liebe wird kommen, wenn Sie erst mein sind! Ich werde mir Ihre Liebe langsam, Schritt für Schritt erkämpfen. Werden Sie meine Frau, wir werden es beide nicht zu bereuen haben!«

Müde, zaghaft, innerlich zerquält tat Hilde das, was Frauen in solchen Lagen stets zu tun pflegen: Sie verschob die Entscheidung.

»Geben Sie mir Zeit, zu überlegen und mit mir klar zu werden! Drei Tage meinethalben nur, dann werde ich Ihnen sagen, ob ich Ihnen eine gute, treue Frau sein kann oder ob sich unsere Wege trennen müssen.«

Dabei blieb es und Borstorf fuhr nach Graz, weil er, wie er sagte, es nicht ertragen würde, sie drei Tage nicht zu sehen, vor ihrer endgültigen Beschlußfassung aber nicht mir ihr zusammenkommen wollte. Es wurde verabredet, daß er nach drei Tagen, am kommenden Sonntag also, unmittelbar nach Tisch Besuch machen würde.

Bevor die Frist um war, hatte Hilde den Entschluß gefaßt, Rudolfs Frau zu werden. Entscheidend war eine Aussprache mit ihrer Mutter gewesen. Frau Wehningen fragte abends vor dem Schlafengehen Hilde, wie sie eigentlich zu Rudolf Borstorf stehe und ob sich dieser nicht mit ernstlichen Absichten trage. Als Hilde darauf von dem Antrag Rudolfs und der Bedenkzeit, die sie sich ausbedungen, erzählte, begann Frau Wehningen bitterlich zu weinen und sagte schluchzend:

»Hilde, das ist das große Glück für dich und auch für mich! Mit einem Schlag wirst du eine reiche, vornehme Dame sein, nicht mehr arbeiten müssen und nicht in solche Situationen kommen, wie damals – – Und ich selbst, ich werde meine alten Tage in Ruhe und Zufriedenheit verbringen können und mir vielleicht sogar ein neues schwarzseidenes Kleid machen lassen können – du weißt, Hilde, daß ich meines kaum noch tragen kann. Und du brauchst auch dringend ein Winterkostüm.«

Hilde mußte unter Tränen lachen, sie sah in dieser Kombination von Ehe, Schwarzseidenem und Winterkostüm den rührenden Jammer einer Mutter, deren schwacher Kopf von tausend kleinlichen Sorgen zerquält war. Sie küßte die Mutter auf die Stirne und sagte, während es um ihre Mundwinkel zuckte:

»Gut, Mutti, wein' nicht mehr, ich werde ihn heiraten und du wirst ein herrliches schwarzseidenes Kleid bekommen.«

Frostklar brach der entscheidende Sonntag an, es schien, als wollte der Winter nochmals mit letzter Kraft gegen den jungen Frühling, der mittag seinen warmen Hauch auf die Erde sandte, ankämpfen.

Hilde suchte ihren Lieblingsplatz, eine vom Wind geschützte Waldlichtung, auf und es war ihr todtraurig zu Mute. Sie, die den Glauben an eine persönliche höhere Macht, die in das Schicksal der Menschen eingreifen könnte, längst verloren, rang verzweifelt die Hände und rief in sich hinein:

»Lieber Gott, sag du mir, was ich tun soll, laß ein Wunder geschehen, damit ich mich nicht einem, den ich nicht liebe, verkaufen muß!«

Und als ein paar Stunden später das Schellengeläute eines Schlittens ihr ankündigte, daß eben ihr Freier angefahren kam, da hatte sie die Vision, daß es Ralph sei, der dem Schlitten entsteige und auf sie zustürzen werde. Es war aber nur Rudolf. Sein erster Blick galt Hilde und seine Augen enthielten die Frage, die sie nun mit einem abgerungenen Ja beantworten wollte.

Sie, ihre Tante und Mutter saßen noch beim Dessert, als Rudolf eintrat, er mußte sich also noch gedulden, bis er mit Hilde allein sein würde.

Nach der ersten Begrüßung fragte ihn Hilde, nur um Gleichgültiges zu sagen, was er in Graz alles erlebt habe. Lachend erzählte er:

»Na, Graz hat wieder einmal eine kleine Sensation gehabt. Der verrückte Amerikaner, der zuerst Österreich erobern wollte und dann plötzlich um sein Geld gekommen ist, war in Graz und –«

Hilde, die totenblaß geworden war, stieß einen kleinen Schrei aus, so daß Frau Stuppach und Rudolf sie verwundert ansahen, während die im Denken schwerfällige Frau Wehningen die Zusammenhänge nur langsam erfaßte.

Hilde nahm ihre ganze Kraft zusammen und sagte tonlos:

»Von welchem Amerikaner sprechen Sie?«

»Na, von diesem Ralph O'Flanagan! Richtig, Sie lesen ja in ihrer idyllischen Einsamkeit keine Zeitungen, also wissen Sie gar nicht, was seit Ihrer Abreise von Wien vorgefallen ist. Nun, dieser Amerikaner, der, wie mir scheint, nicht ganz normal ist, mußte eines Tages, es dürfte drei, vier Wochen her sein, seinen Plan, aus Österreich so eine Art Suppen- und Teeanstalt zu machen, aufgeben, denn plötzlich meldete sich drüben in Amerika sein älterer Stiefbruder, von dessen Existenz er keine Ahnung gehabt hatte. Dieser Stiefbruder, mit Namen John, war der richtige Erbe des ganzen Vermögens und ist jetzt der reichste Mann der Welt, während Monsieur Ralph ein armer Teufel mit einer kleinen Rente ist. Was er in Graz wollte, weiß man nicht, aber eines von den Grazer Blatteln schrieb, daß er unter die Schieber gegangen ist. Nachdem das in der Zeitung erschienen ist, verschwand er wieder aus Graz, wahrscheinlich, um in Wien seine paar Dollars zum höchsten Kurs anzubringen.«

Rudolf Borstorf lachte intensiv über seinen Witz, Frau Wehningen sah ihre Tochter triumphierend an, als wollte sie sagen: Siehst du, diese Amerikaner sind alle nichts als Plebejer und Schwindler. Frau Stuppach aber begann sich nach den neuesten Grazer Preisnotierungen für Eier und Butter zu erkundigen.

In Hilde tobte ein Aufruhr. Sie würgte und grub die Fingernägel in die Handballen, um nicht in ein lautes Weinen und Lachen auszubrechen, zitterte am ganzen Leib, sprang plötzlich auf und rannte mit einer flüchtigen Entschuldigung aus dem Zimmer. Bestürzt folgte ihr Rudolf, holte sie ein, als sie gerade die Treppe hinauf in ihr Zimmer gehen wollte.

»Hilde, was ist Ihnen nur? Sie sind so blaß und verstört! Wird es Ihnen so schwer, mir Ihr Jawort zu geben?«

Das Mädchen preßte die beiden Hände gegen das Herz.

»Rudolf, seien Sie mir nicht böse, – ich kann nicht – es darf nicht sein – ich gehöre einem anderen und muß den jetzt suchen gehen –«

So viel eiserne Entschlossenheit leuchtete aus ihren weit aufgerissenen Augen, daß der junge Mann, auch ohne ein guter Diplomat zu sein, erkannte, hier nichts mehr hoffen zu dürfen.

Wortlos beugte er sich über ihre zitternde, eiskalte Hand, küßte sie und ging.

Hilde log später ihre Mutter an.

»Ich habe noch eine kurze Bedenkzeit erbeten! Er wird später nach Wien kommen und da werde ich mich entschließen. Aber nun will ich weg von hier, sofort, womöglich heute noch! Ich habe vergessen, dir zu sagen, daß gestern eine Postkarte von meinen Chefs gekommen ist, mit der Bitte, sobald als möglich meine Stellung wieder anzutreten. Wir müssen zurück, Mutti, bitte quäl mich nicht, es wird ja alles gut werden, du wirst dein neues Seidenkleid bekommen, nur jetzt fort von hier, zurück nach Wien!«

»Hängt das nicht vielleicht gar mit dem Amerikaner zusammen?« fragte Frau Wehningen ängstlich.

»Nein, Mutti, nein«, log Hilde, »es hängt nur mit mir selbst zusammen! Komm, laß uns jetzt packen!«

Frau Stuppach war zwar über diesen plötzlichen Entschluß empört, innerlich aber ziemlich froh, Frau Wehningen seufzte und versicherte, daß früher, in der Monarchie, solche Dinge unmöglich gewesen wären und half Hilde höchst umständlich beim Einpacken. Da der Nachmittagszug nicht mehr hätte erreicht werden können, mußte Hilde ihre Ungeduld bezähmen und die Reise nach Wien konnte erst am folgenden Tag in den frühen Morgenstunden angetreten werden.

Um zehn Uhr vormittags trafen die beiden Frauen in Wien ein, fuhren mit dem Handgepäck mittels Straßenbahn nach ihrer Wohnung in der Kreuzgasse, wo eiskalte, ungeheizte Zimmer sie erwarteten. Hilde, die vor Erregung fieberte, mußte Holz und Kohle holen, nach dem Markt eilen, damit ihre Mutter ein Mittagessen zurecht mache, es wurde zwölf Uhr, bevor sie sich verabschieden und mit der Bemerkung, sie werde eine Kleinigkeit unterwegs essen, davoneilen konnte.

Hilde hatte damals bei der Polizei erfahren, daß Ralph im Hotel Imperial wohnte. Dort würde sie also wohl seine Adresse erfahren, wenn er, was ja anzunehmen war, die Wohnung gewechselt hatte.

Der Beamte im Hotelbureau wies sie kurz an den Portier. Dieser hatte sehr dringend mit einem Herrn zu tun, der um jeden Preis, auf Tod und Leben, noch eine Loge für Breitbart haben mußte, und als Hilde endlich an die Reihe kam, begann er in einem Büchel nachzuschlagen, in Zetteln zu suchen und erklärte schließlich achselzuckend:

»Irgendwo wohnt der Herr, das weiß ich ganz genau! Aber wo er wohnt, das weiß ich nicht. Der Hauptportier, der es wahrscheinlich genau weiß, hat heute nämlich seinen freien Tag. Am besten, Sie fragen morgen wieder nach.«

Verstört entfernte sich Hilde. Bis morgen warten? Ausgeschlossen! Sie fühlte, daß sie der Qual einer längeren Ungewißheit nicht gewachsen war. Aber es gab ja ein polizeiliches Meldeamt, dort würde sie die Adresse sicher erfahren können.

Die Elektrische brachte sie nach dem Schottenring zur Polizeidirektion. Dort erfuhr sie, daß sich das Meldeamt auf der Elisabethpromenade befinde. Also dort, wo sie die furchtbarsten Stunden ihres Lebens verbracht hatte!

Todmüde legte sie zu Fuß den Weg nach der Elisabethpromenade zurück. Und kam genau zehn Minuten zu spät. Das Meldeamt war schon geschlossen!

Hilde fühlte ihre Kräfte schwinden. Sie war noch nüchtern, hatte seit fünf Uhr morgens nichts zu sich genommen. Wie im Traum ging sie zurück nach dem Schottenring und dann hinauf bis zum Schottentor.

Ein wehes, verzweifeltes Lächeln huschte über ihr bleiches Gesicht. Hier war es gewesen, wo sie vor drei Monaten Ralph zum erstenmal gesehen hatte. Sie in der Straßenbahn, er auf der Straße, ihre Blicke hatten sich gekreuzt und damit war ihr Schicksal besiegelt gewesen. Ihres, aber nicht seines. Groll stieg in ihr auf. Er, er hatte sie wohl schon vergessen, empfand den Verlust seines Vermögens als Katastrophe, ahnte nicht, daß er ihr junges Leben verpfuscht, zerstört, vernichtet. Er war ein Mann, ein junger, starker Mann, der wieder in die Höhe kommen konnte, sie aber ein armes, schwaches Ding, immer abhängig von anderen, ein Blättchen im Winde, das nicht Kraft genug besaß, um sich irgendwo festzuklammern.

Ein wüstes Huppensignal, ein Fluch und Aufschrei riß sie aus ihrer Träumerei. Fast wäre sie von einem Automobil überfahren worden. Und der Chauffeur brüllte sie noch dazu an und war so wütend, daß sich sein ganzes kohlschwarzes Gesicht verzerrte. In der nächsten Sekunde aber wurde aus der wütenden Grimasse eine grinsende und der Neger rief:

»Oh, Fräulein Wehningen, Sie sein das Person, was ich beinah' überfahren hätt'!«

Sam lenkte das geschlossene Auto dicht an das Trottoir, während Hilde, nicht wissend ob sie wachte oder träumte, ihn anstarrte.

»Sam, Sie sind es? Wo ist Herr O'Flanagan?«

Sams Gesicht wurde ganz tiefes Bedauern.

»Oh, Master Ralph Geld verloren, kann Auto nicht mehr halten. Ich sein jetzt Chaffeur bei reichem Wiener Herrn, aber ich nicht zufrieden sein, möcht' lieber Master Ralph umsonst bedienen.«

Fast geschluchzt kamen die Worte heraus.

»Wo wohnt Herr O'Flanagan? Ich will ihn sprechen.«

Sam grinste über das ganze Gesicht.

»Steigen S' nur ein, Fräulein Wehningen! Ich haben gerade Zeit und werde Ihnen zu Master führen. Wohnt weit, in Weimarerstraße.«

Gedanken über das Unerlaubte dieser Schwarzfahrt wurden nicht groß. Hildes Müdigkeit verscheuchte jedes Bedenken. Sie stieg ein, und in sausender Fahrt ging es die Währingerstraße hinauf.


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