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Der Schriftsteller Felix Korn begann Ralph ins Schlepptau zu nehmen und unter die Oberfläche zu ziehen. Nicht nur, weil ihm die Soupers im Imperial und bei Sacher behagten, nicht nur weil ihn der Amerikaner reich beschenkte und seinen steten Geldnöten ein Ende bereitete, sondern in erster Linie weil ihn O'FIanagan als neuartiger Menschentypus interessierte. Korn spielte oft den Schmarotzer, aber er war keiner. Pumpte nur Leute an, die er liebte oder die er verachtete. War der Ansicht, daß der Philister seine amüsante Gesellschaft zu bezahlen hatte, der Reiche verpflichtet war, ihm von seinem Überfluß abzugeben. Weil er sich hoch genug einschätzte, um durch seine Gesellschaft Werte zu geben. Und Ralph fand an ihm Gefallen, sah in ihm den Bohemien, den es in Amerika nicht gibt und der auch in Europa abstirbt, freute sich der Bosheit, des sprudelnden und übersprudelnden Temperaments, der Verachtung alles Ungeistigen und des offenen, betonten Bekenntnisses zur Rasse.
Voll Behagen lauschte er dem Vortrag Korns über die »reichen Juden«, ergötzte sich an den Keckheiten und an den geistigen Jongleurstückchen dieses Psychoakrobaten. Und als nach Schluß der Vorlesung sich vor dem Konzerthaus eine Schar bierbenebelter Jünglinge mit dem Hakenkreuz als Symbol ihrer Inferiorität ansammelte, um den verhaßten Korn zu attackieren, da bedauerte der junge Amerikaner von ganzem Herzen, daß die Polizei so rasch einschritt. Er hätte die Ritter der Geistesarmut zu gerne mit der Kunst des Boxens vertraut gemacht.
Die letzten Tage des Jahres verbrachte Ralph mit Korn, der ganz Wien kannte, im Wirbel gesellschaftlichen Lebens. Nachmittags im Café Herrenhof unter echten und falschen Literaten, abends mit Schauspielern und Sängern, spät nachts noch mit Leuten, die irgendwie anders waren als die guten Bürger.
Jour bei Sektionschef Harz. Eigentlich bei seiner Gattin, der nimmermüden Anregerin, Veranstalterin, Pädagogin Frau Dr. Eugenia Harz. Der Frau, in deren rundem knabenhaftem Kopf mit den kurzen Haaren immerwährend neue Ideen brodelten, menschheitsbeglückende, erzieherische, geniale und mitunter auch abstruse. Aus dem Nichts heraus schuf sie Mittelstandsheime, Freiluftanstalten, Speisehallen. Launenhaft wie sie war, konnte sie liebenswürdig wie keine andere sein, aber auch abstoßend und kalt, das Äußere des Menschen war ihr mehr als nur Zufall und Hülle, war ihr das Wesentliche. Schöne schlanke Menschen vergötterte sie, Kinder mit viel Geist, aber großen Ohren und blutleeren Lippen konnte sie nicht leiden.
Ihr Gatte das Gegenteil in allem. Ganz Geist, Härte, Logik und Kälte. Jetzt stand er in schwerem politischem Kampf, hervorgerufen durch seine rücksichtslose Art, die vor keinem Faustschlag zurückschreckte.
Ein kurioseres gesellschaftliches Kunterbunt hatte Ralph nie erlebt, nie erträumt. Da war eine dänische Schriftstellerin von Rang und Geist, zerfließend im eigenen Fett, die Beine ohne Strümpfe, weil sie Strümpfe für unhygienisch hielt. Ein schwerhöriger Architekt verkörperte Wiens beste und erlesenste Kultur. Stilist von gigantischer Bizarrerie, Schöpfer der extravagantesten Bauten und Interieurs, und als erbitterter Feind jedes Kitsches oft weit über das Ziel schießend. Ein Gelehrter aus Grönland mit wallendem Bart lebte nur von Nüssen, eine hektische junge Frau agitierte für freie Ehe und staatliche Kinderhäuser, in die alle Paare ihre Kinder abgeben müßten, ein Maler war da, der behauptete, daß man als wirklicher Künstler nur mit geschlossenen Augen malen dürfe, ein Jüngling las eben aus seinem ersten Gedichtenbuch vor, das den Dadaismus übertrumpfte. Die Gedichte bestanden nur aus Vokalen.
Für Ralph waren diese Stunden von unschätzbarem Wert. Neue Menschen, neue Ideen, Loslösung von uralten ererbten Vorurteilen, tiefe Anregung, oft genug aber auch Einblick in geistiges Hochstaplertum, Borniertheit, die sich hinter Bizarrerie versteckte, Modespekulation und Konjunkturpolitik erwuchsen ihm. Er lernte Menschen kennen, die sich Schriftsteller nannten, ohne deutsch schreiben zu können, Frauen – Wohltätigkeitsfurien nannte sie Korn –, die ein üppiges Leben auf Kosten jener Armen führten, für die sie Bälle und Konzerte veranstalteten, machte die Bekanntschaft der Operettenlieblinge, der Kabarettgrößen und Theaterdirektoren, zechte mit ihnen, zahlte Soupers für sie, ließ sich aber nur selten anpumpen, von der ewigen Angst gepeinigt, den Leuten nur das zu sein, was man in Wien mit dem unübersetzbaren Wort »Würzen« bezeichnet. Erfuhr er aber von Not und Elend, von der Möglichkeit, eine Existenz aufzurichten, dann gab er rasch, viel und diskret.
Eine Karl Kraus-Vorlesung wurde für O'Flanagan zum großen Erlebnis. Hier und da hatte er schon in Amerika die »Fackel« zu Gesicht bekommen, nicht alles verstanden, aber die Gewalt der Sprache, die Hingebung an die Idee dennoch empfunden. Er war mehr als gespannt, diesen Mann, der gegen den Willen und Einfluß aller Mächtigen sich durchgesetzt, die geistige Jugend erobert, der Größte und Stärkste geworden war, kennen zu lernen. In Wien hatte sich Ralph über die »Tragödie der Menschheit« gestürzt und war erschüttert wie nie vorher. Ihm war dieses Werk nicht Herabsetzung, Schmähung, boshafte Glossierung, ihm erschien es das große Dokument einer furchtbaren Zeit zu sein, eines der wenigen Werke, das nach Jahrhunderten noch bestehen würde. Im Gespräch mit Korn, der anderer Meinung war, sagte Ralph:
»Kleinlichkeitskrämer, Buchstabensucher, Druckfehlerentdecker? Boshaft und hämisch? Ich glaube von allem das Gegenteil. Einer, der aus kleinen Symptomen den faulen Kern erkennt, im Druckfehler den wahren Willen, in der Kleinigkeit den kleinen Menschen. Und einer, der von brennender Menschenliebe so erfüllt ist, daß er nicht anders kann als hassen. Glauben Sie nicht auch, daß einer, der schöne Bilder, wertvolle Musik liebt, ein fanatischer Hasser allen Kitsches sein muß? Und weil Karl Kraus eben den echten Menschen liebt, muß er den unechten hassen. Es gibt aber für je einen echten eine Million unechter, also sieht man leicht wie ein Menschenhasser aus.«
»Ein Neider und Geiferer ist er«, grollte Korn. »Sehen Sie, dieser Karl Kraus hatte einen Schulkollegen, ihm einst durch Kinderfreundschaft verbunden. Kaum hat dieser Schulkollege mit einem Buch »Die Stadt ohne Juden« einen Erfolg, als er ihm auch schon Schmählichstes antut, ihn auf eine Stufe mit Idioten stellt. Ist das nicht gemein?«
»Nein, nicht gemein ist es, sondern nur konsequent. Das Buch, das mir ein hingeworfener guter Einfall zu sein scheint, hat eben den großen Erfolg nicht verdient, ihn auf Kosten anderer, wertvoller Bücher, die hinter dem Ladentisch liegen blieben, errungen, also konnte Kraus, der alle Zeichen und Symptome beachtet und verarbeitet, nicht kritiklos daran vorübergehen. Rücksicht ist Korruption, Augenzudrücken der erste Schritt zur Gemeinheit. Und Karl Kraus ist eben kein Augenzudrücker, sondern einer, der mit schweren Schritten seinen Weg geht ohne Rücksicht, ohne Schwächeanfall, ohne Konzession! Wer »Die letzten Tage der Menschheit« geschrieben hat, muß hart sein gegen sich und gegen die Anderen. Gäbe es mehr Menschen wie er, so würde die Welt anders aussehen. Weniger bequem vielleicht, aber voll Zuversicht und Hoffnung.«
Ralph kam in Gesellschaft großer Musiker, Heroen der Tonkunst, die er verehrt und angebetet hatte. Und sah nun das Kleine, das Niedrige an ihnen, beobachtete, wie der eine Dirigent einer Oper gegen den anderen intrigierte, sie alle nach äußeren Erfolgen, nach Geld und wieder Geld strebten, wahre Augenzudrücker, wenn es die Wahl zwischen den letzten Möglichkeiten echter Kunst und einer neuen Million galt. Und sein Respekt sank ins Uferlose, wenn er sah, wie dieser das Werk jenes nicht aufführen ließ, weil jener über diesen einmal eine verletzende Bemerkung gemacht, und ein anderer sein mit tausend Nöten kämpfendes Institut im Stich ließ, weil in China Taels und in Kanada Pfunde winkten.
So wurde Ralph zum Menschenkenner und lernte in Tagen das Leben besser ergründen, als er es in der Heimat in Jahrzehnten hätte tun können.