Hugo Bettauer
Der Kampf um Wien
Hugo Bettauer

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17. Kapitel

Weihnachtsabend.

Ein nasser, von Nebeln erfüllter Weihnachtstag brach an. Nochmals drängten die Menschenmassen durch die kotigen Straßen, um einzukaufen, aber es waren zum größten Teil kleine Mittelständler, Arbeiter, Leute, die den Tausendkronenschein bis zum letzten Augenblick in der Tasche behalten wollen, weil sie sich von ihrem bißchen Geld nur schwer trennen können.

Es war schon dunkel, die Rollbalken polterten hier und dort abwärts, als Ralph seine Einkäufe für Sam und den Chauffeur beendet hatte. Sam hatte sich eine goldene Armbanduhr gewünscht, der Chauffeur einen neuen Sportpelz, beides wurde in fürstlicher Qualität gekauft. Der Schmetterling mit Diamanten und Smaragden war schon am Tag vorher gekauft worden und würde um diese Zeit Frau Günzel nebst einem fabelhaften Blumenstock zugestellt werden. Der Schmetterling hatte übrigens nicht »ein paar« Millionen, sondern deren fünfzig gekostet. Die Auswahl des Blumenstückes hatte Ralph dem Blumenhändler überlassen, hingegen einen Strauß roter Rosen für Hilde selbst ausgesucht. Lange überlegte er, ob er es nicht wagen dürfte, dem Mädchen, an das er mit inniger Freundschaft dachte, ein hübsches Geschenk zu machen, er tat es schließlich nicht, wollte ihre Empfindlichkeit nicht wieder verletzen.

Es war sieben Uhr, Ralph hatte Sam und den Chauffeur beschenkt, beide für heute entlassen, worüber sich Sam besonders freute. Und er gestand seinem Herrn, daß er den Abend mit einem, wie er sagte, schneeweißen Mädchen mit gelben Haaren verbringen werde, einem knusperigen Hühnchen, das sich auf einen Stuhl stellen müsse, wenn es ihm um den Hals fallen wolle.

»Wo hast du sie kennen gelernt?« fragte Ralph teilnahmsvoll.

»Auf der Straße, Master. Mädel hat mich angeguckt, ich sie, und als ich ganz dicht neben ihr ging und großes Herzklopfen vor Aufregung hatte, sagte sie, ich soll nicht zu nahe kommen, weil mein Haut abfärben könnte. Dann haben wir beide gelacht und sind in ein Konditorei gegangen, wo Lintschi verlangt hat Schokolade von mein Farbe.«

Ralph lachte. »Nun, und wo werdet Ihr heute sein?«

»Bei Mutter von Lintschi. Sie hat mir einladen lassen und ich bringen Flasche Whiskey als Geschenk für Mutter und Bonbons für Lintschi.«

Sam zog ab und Ralph stand am Fenster und starrte auf die nachtschwarze Straße hinunter, die jetzt wie ausgestorben dalag. Ein wehes, sehnsuchtsvolles Gefühl überkam ihn und heiß stieg in ihm der Wunsch auf, diesen Abend, an dem auch der Ärmste nicht allein und freudlos sein wollte, mit Hilde zu verbringen. Rein, keusch, anmutsvoll stand ihr Bild vor ihm, in grellem Kontrast zu den Wiener Gesellschaftsfrauen, die er kennen gelernt.

Mit riesigen Schritten stürmte er durch das Zimmer, dann war sein Entschluß gefaßt. Rasch schrieb er ein paar Zeilen:

»Fräulein Wehningen, ich bin heute einsam und allein und habe Sehnsucht nach Ihnen und einem grünen Tannenzweig. Darf ich als schlichter, bescheidener Gast nach dem Abendessen zu Ihnen und Ihrer Mutter kommen? Ich werde in meinem Zimmer auf- und abrasen, bis Ihr Bescheid kommt.«

Ralph gab den Befehl, den Brief mit einem Autotaxi nach der Kreuzgasse zu schicken und dort auf Antwort zu warten. Und er rannte wirklich auf und ab, bis nach wenig mehr als einer halben Stunde die Antwort kam:

»Sie sind herzlich willkommen und machen Mutter und mir mit Ihrem Besuch eine große Freude. Aber nicht nach dem Abendessen erwarten wir Sie, sondern jetzt gleich. Unser Weihnachtskarpfen langt für drei.«

Im Nu hatte Ralph den Anzug gewechselt und wollte fortstürmen, blieb aber an der Türschwelle stehen, überlegte einen Augenblick und ging dann zu seinem Schreibtisch, dessen einer versperrten Schublade er ein kleines Etui entnahm. Es enthielt ein einfaches Medaillon aus Gold mit seiner Photographie als Knabe. Mutter hatte das Medaillon noch auf dem Totenbett getragen. Und Ralph atmete tief auf und empfand es mit allen Nerven, daß er das Andenken keiner Würdigeren schenken konnte als Hilde Wehningen.

Die trauliche Behaglichkeit eines kultivierten Heimes umfing Ralph. Uralte Möbel aus Urgroßvaters Besitz, ein paar schöne, sogar kostbare Bilder an den Wänden, ein Bösendorferflügel und im Maria-Theresien-Salon ein winziges Tannenbäumchen im Kerzenlicht.

Hilde, die Ralph herzlich und unbefangen begrüßt und für die Blumen gedankt hatte, sagte leichthin:

»Wir konnten uns einen großen Baum nicht leisten, aber schließlich hängt die Weihnachtsstimmung nicht von der Größe des Baumes, sondern von der Fröhlichkeit der Herzen ab.«

Frau Wehningen, geborene Gräfin Boos, hatte, als Hilde von »sich nicht leisten können« gesprochen, abwehrend »Aber Hilde!« ausgerufen und die blasse Frau mit den noch immer schönen, wenn auch ein wenig harten und kalten Gesichtszügen richtete sich hoch auf und legte Würde um sich.

Hilde lachte hellauf.

»Aber Mama, Herr Ralph weiß ganz genau, daß wir arme Leute sind, und ich denke, heutzutage kein Geld haben ist mitunter ehrenvoller als Milliardenbesitz.«

Zaghaft, schüchtern wie ein Schuljunge zog Ralph unter dem Baum das kleine Etui aus der Tasche.

»Fräulein Wehningen, als ich mich entschloß, mich bei Ihnen einzuladen, waren schon alle Geschäfte geschlossen – ich konnte keinerlei kleine Aufmerksamkeit für Sie besorgen, nehmen Sie es mir also nicht übel, wenn ich Ihnen etwas, was altmodisch und vielleicht sogar unschön ist, aus meinem Besitz mitgebracht habe. Aber es stammt von meiner Mutter – und ich würde es schwerlich einer anderen gegeben haben.«

Die letzten Worte flüsterte Ralph so, daß Frau Wehningen, eben im Nebenzimmer beschäftigt, nichts hören konnte. Blutübergossen hielt Hilde das Medaillon in den schlanken feinen Händen, ihre Augen waren feucht, ihre Stimme belegt, als sie ihm ein leises »Ich danke Ihnen sehr« sagte.

Die bescheidene Mahlzeit verlief in guter Stimmung und Hilde wurde ausgelassen wie ein Schulmädel, als Ralph wie etwas ganz Nebensächliches ihr die Mitteilung machte, er habe zufällig mit einem leitenden Direktor der Bankgesellschaft gesprochen und ganz zufällig sei das Gespräch auf die Firma der Brüder Krause gekommen und dabei habe der Direktor gesagt, daß die Bank das Haus durch ausgiebige Kredite stützen und fördern wolle.

Hilde sprang auf, klatschte in die Hände, tanzte im Zimmer umher und rief:

»Nun, Herr Ralph, sind Sie mit dieser Botschaft der richtige Weihnachtsmann geworden! Mama, stell dir nur vor, ich werde nicht abgebaut, brauch nicht um eine andere Stelle zu betteln, wir werden keine neuen Sorgen haben.«

Frau Wehningen, die die Gemütsexplosion als durchaus unaristokratisch empfand, sagte kühl:

»Traurig genug, daß eine Hilde von Wehningen, Enkelin eines Grafen Waldemar Boos, eine Stelle bekleiden muß, wie die erstbeste Hausmeisterstochter! Aber natürlich, wir leben ja in einer Republik, in der gemein fein und fein gemein wurde.«

Hilde runzelte die Stirne.

»Mama, laß das! Das einzige Gute, was uns der Krieg gebracht hat, ist eben, daß wir eine Republik geworden sind, in der eine Boos oder Wehningen nicht mehr Vorrechte hat als jede andere. Aber in dieser Beziehung werden wir uns ja doch nie verständigen! Mama ist nämlich durch und durch Monarchistin und betrachtet heute noch den 18. und den 17. August und was weiß ich für Tage als Feiertage, während ich schon als kleines Mädel mich mit revolutionären Gedanken trug.«

Ralph war von Hilde entzückt, mit einem warmen Blick umfing er die schlanke, schöne, weiche Gestalt, und einen Augenblick war es ihm, als sollte er gleich jetzt Hilde in seine Arme nehmen, ihr sagen, wer er sei und um sie werben.

Aber die väterliche Skepsis gewann Oberhand. Ich kenne mich noch nicht, sprach eine andere Stimme, weiß zu wenig von der Welt und den Frauen, um klar zu erkennen, ob diese es ist, die für immer zu mir gehört! Kalt Blut, Junge, warten, dich prüfen, sie prüfen – die nahe Zukunft muß Klarheit bringen.

Und als ob Hilde etwas von seinen Gedanken erraten hätte, fragte sie fast unvermittelt:

»Wo wohnen Sie eigentlich Herr Ralph? Übrigens: Welch seltsamen Namen Sie haben! Patrick, gut, das kenn ich, das ist ein irischer Vorname, aber Ralph? Eigentlich doch auch ein Vorname sollte man denken!«

Es war gut, daß Ralph im Schatten der Lampe saß, so daß man nicht sehen konnte, wie das Blut ihm in die Wangen schoß. Verwirrt und stotternd kam es heraus:

»In Amerika gibt es allerhand komische Familiennamen. Wo ich wohne? Gleich hinter dem Hotel Imperial in der Lothringerstraße.«

Und er pries den Himmel, daß er zufälligerweise bei einem Besuch des Konzerthauses gesehen, die Straße hinter dem Hotel heiße Lothringerstraße.

»Hm, nobel!« sagte Hilde. »Aber jetzt fällt mir ein: in den Zeitungen stand doch vor einiger Zeit von einem solchen amerikanischen Goldonkel, der im Hotel Imperial abgestiegen ist. Soll der reichste Mann der Welt sein. Heißt der mit dem Vornamen nicht auch Ralph?«

Dem Amerikaner blieb eine Rosine des Weihnachtskuchens im Halse stecken und er mußte heftig husten, bevor er antworten konnte.

»Glaube, daß er Ralph heißt, aber mit dem Vornamen. Sie meinen ja wohl diesen O'Flanagan? Weiß nichts von ihm. Möglich, daß er ein Schwindler ist.«

Als O'Flanagan gegen Mitternacht das Haus verließ und mit vollem Herzen und gedankenschwerem Kopf durch die naßkalten, von Schmutz starrenden Straßen ging, bis er ein Autotaxi fand, sagte er sich: »Damned! So viel auf einmal habe ich, seit ich der Schule entwachsen bin, nicht mehr gelogen! Aber es muß so sein. Darf das liebe, feine Mädel mit meinen Millionen nicht verblenden, muß Zeit gewinnen, bis es weiß, wie es zu mir steht, und bis ich weiß, wie ich selbst stehe!«

Ein zweites Autotaxi bestieg hinter ihm Herr Laszlo Bartos, der unmutig und ungeduldig vor dem Hause in der Kreuzgasse gewartet hatte.

Ist also nicht bei ihr geblieben, murmelte er in sich hinein. Um so schlimmer, dann ist sie ein sogenanntes anständiges Mädel, das geheiratet werden will! Jetzt heißt es handeln.

Hilde, die, bevor sie zu Bette ging, nochmals das Medaillon in die Hand nahm und einen heißen Kuß auf das Knabenbild Ralphs drückte, ahnte nicht, daß finstere Mächte zu unheilvollen Taten schritten.


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