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Der Sohn der Frau Lunzer war ein junger Magistratsbeamter, ein netter, sympathischer, lustiger Mensch, der sich durch die Gesellschaft des Amerikaners angeregt und geschmeichelt fühlte und ihn in seine Kreise brachte.
Ralph war das recht, denn auf diese Weise lernte er andere Menschen kennen, kam aus dem Kreis von Lebeleuten und Plutokraten heraus in das echte Wiener Bürgertum.
Er sah sehr bald, daß sich dieses Bürgertum in zwei Gruppen schied. Die eine wurde von den Geschäftsleuten, kleinen Fabrikanten, Gewerbetreibenden gebildet, die andere bestand fast durchwegs aus Beamten und Lehrern, denen sich allenfalls noch die Ärzte vom Grund beigesellten.
Mit der ersten Gesellschaft war Ralph bald fertig. Er speiste einigemal abends an einem Stammtisch im Wilden Mann und fühlte sich wenig behaglich. Eine gewisse leichte, sogar graziöse Lebensauffassung schien ja auch dem Wiener Spießer gegeben zu sein, aber in allen politischen Dingen und Kulturfragen empfand sie der Amerikaner als bodenlos rückständig. Alles nicht autochthon Wienerische wurde von ihnen mit Gehässigkeit behandelt, gleichgültig, ob es sich um Juden, Italiener, Tschechen oder Ungarn handelte. Die einen waren die »Saujuden«, die überhaupt an allem schuld seien, die anderen die »Katzelmacher« oder die falschen »Slowaken«, die österreichischen Bauern wurden mit »Mostschädeln« abgetan und das Wort »Preiß« noch immer als ein Schimpfname gebraucht.
Da war einer, ein großer Meiereibesitzer namens Gurtwich, der in seinen Reden von Biederkeit überfloß. »Mir reellen Geschäftsleute, mir, die wir das Herz am rechten Fleck haben, mir bodenständigen Wiener – –« Und: »Die verfluchten Ostjuden, die mit'n Binkel herkommen san und uns ausrauben!« und so weiter. Ralph empfand mit dem Mann Mitleid. Dachte: Sicher einer der vielen ehemals wohlhabenden Bürger, die jetzt zugrunde gehen und natürlich für ihre ohnmächtige Wut eine Ablenkung in den ihnen rassefremden Zuwanderern suchen. Pepi Lunzer aber erzählte ihm, daß dieser Gurtwich zehn Häuser in den letzten Jahren gekauft habe, als Milchpantscher, Hamsterer, Preistreiber im ganzen Bezirk bekannt sei und im Hof seines Molkereigebäudes seine Ferkel mit Milch fütterte, während ringsumher die kleinen Kinder aus Mangel an Nahrung starben.
Einer, ein wohlbeleibter Herr mit einer fröhlich funkelnden Nase, galt als der große Philanthrop. Er war Mitglied von mindestens zwanzig Wohltätigkeitsvereinen, Armenrat, leitete täglich Sammlungen für diese oder jene arme Familie ein, betonte am Stammtisch, während er das achte Viertel hinunterspülte:
»In dieser Zeit heißt's zusammenhalten! Wer kein Lump ist, muß von seinem Überfluß hergeben, so viel er nur kann! Ich könnt' nicht ruhig schlafen, wenn ich nicht wüßt, daß ich jeden Tag meine bürgerliche Pflicht getan und irgendwo geholfen habe. Kellner, noch a Viertel und an Emmenthaler, aber fix!«
Ralph erfuhr nachher, daß der Biedermann seine Frau und drei Kinder buchstäblich hungern ließ, während er sich im Wirtshaus mästete und außerdem zwei Frauenzimmer aushielt.
Immer wieder wurde an dem Stammtisch auf die Schieber, die Börsenspieler und Valutenhamsterer geschimpft, die das Land ruinieren und prassen, während der ehrliche Mann – – und so weiter. Dabei wurde aber stundenlang von Julisüd, Alpine, Waagner und Graz-Köflacher gesprochen und intensiv beraten, ob man die Tschechenkrone jetzt verkaufen und dafür Lire kaufen soll oder ob es nicht besser wäre, sich tüchtig mit Dinar einzudecken.
Groß war aber die Entrüstung über die Republik im allgemeinen und die »Roten« im besonderen. Diesen satten Bürgern ging es zum großen Teil sehr gut, sie hatten nie so viel gegessen und getrunken, nie so viel Geld gehabt, niemals vorher so frei und ungehemmt ihre Meinung äußern dürfen, und dennoch haßten sie die Freiheit, mit der sie nichts anzufangen wußten, sehnten sich zurück nach der Monarchie mit ihren Orden und Titeln. Und vergaßen ganz, daß sie ihre Waren nach der Weltparität losschlugen, aber die Steuern entweder gar nicht oder nur zu einem Tausendstel des Friedenswertes bezahlten. Sie, die zum großen Teil selbst dem Arbeiterstand entstammten, konnten es nicht vertragen, daß der Arbeiter nicht mehr kujoniert werden durfte wie ihre Väter, daß die großen Massen ihre Menschenrechte stürmisch forderten.
Anders war das Milieu und der Ton am Stammtisch im Café Währingerhof, an dem Ralph durch Pepi Lunzer eingeführt worden war. Er bestand aus Beamten und einigen Mittelschullehrern. Gebildete Menschen, aber verstört und verbittert, um die Besinnung gebracht durch die Unklarheit der Verhältnisse und den Umschwung der Anschauungen. Ein Beamter war früher in der Vorstadt die Respektperson gewesen, galt als harmonische, ehrenwerte Persönlichkeit, bei der das geringe Einkommen durch die Pensionsfähigkeit und die Unantastbarkeit ausgeglichen wurde. Und nun ging das Gespenst des Abbaus um, entstand in der Bevölkerung ein Haß gegen die Beamten, die zum Teil als Ballast empfunden wurden, kam es hier und dort zur Aufdeckung von Fällen, wo ein Beamter den an ihn herangetretenen Versuchungen nicht hatte stand halten können. Und die Leute wurden unsicher, waren nicht mehr stolz darauf, Beamte zu sein, fühlten sich deplaciert, das Bewußtsein, das widerwillig gegebene Brot eines armen Volkes zu essen, bedrückte sie, machte sie unglücklich und verbittert.
Seltsame, mitunter wertvolle Menschentypen lernte Ralph an diesem Tisch kennen. Einen Sparkassenbeamten, der in seinen Mußestunden feine, empfindsame Gedichte schrieb, einen Konzipisten, der, wenn er den Amtsschemel verließ, komponierte, einen, der tiefgründige historische Studien betrieb. Ein Beamter des Finanzministeriums war da, der sein Einkommen in Spirituosen umsetzte, wenn er aber betrunken war, zum Philosophen wurde und Weisheiten von sich gab, deren sich kein Gelehrter zu schämen gebraucht hätte.