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Das Kastenwesen

Das ganze Leben des Hindu ist von seiner Religion erfüllt. Diese ist einem uralten Baume vergleichbar, dessen Wurzelwerk seine Kraft aus einem unendlich fruchtbaren Boden erhält, während aus dem gewaltigen Stamm im Lauf seines vieltausendjährigen Wachstums eine große Anzahl von Ästen und Zweigen hervorgewachsen sind. Sein Astwerk steht unter dem Schutze des ungeheuren Blätterdaches, das schützend seinen Schatten über das Wachstum des Baumes breitet, und alle übrigen fremden Saaten, die im Bereich des Stammes aufsprießen, in der Dunkelheit seines Schattenreiches erstickt.

Einer dieser Äste, der aus dem Stamme des Hinduismus entspringt, ist das Kastenwesen. Es ist ein wichtiger Faktor im hinduistischen Glauben, und sein Einfluß auf das soziale und religiöse Leben des indischen Volkes ist von einschneidender Bedeutung. Über die eigentliche Entstehung des Kastenwesens ist wenig bekannt. Neben der rein religiösen Ursache ist es wohl die Folge der durch die arische Einwanderung entstandenen Rassenunterschiede. Hierbei gelang es den Ariern, eine Vermischung mit den Ureinwohnern Indiens, den Drawiden, in gewissen Grenzen zu halten. Ursprünglich waren es nur vier Bevölkerungsklassen, deren soziale Stellungen sich gegenseitig stark unterschieden. Durch diese Abtrennung der Rassen wurde auch die ethnologische Entwicklung des indischen Volkes in einer günstigen Weise beeinflußt. Indien verdankt ihr eine gewisse Reinheit seiner beiden ursprünglichen Rasseneinheiten, die wir mit dem Namen Arier und Drawiden bezeichnen. Zu den Drawiden zählen die Ureinwohner Indiens, während die später eingewanderten Völker als Arier bezeichnet werden.

Die vier Kastengruppen bestehen aus der Klasse der Priester, Krieger, Ackerbauer und Shudras, die der niedrigsten Gruppe angehören. Durch diese strenge Absonderung haben sich auch die Kasten in einer besonderen Reinheit erhalten, die dem gesamten Rassencharakter noch heute dieses merkwürdige Gepräge einzelner Klasseneinheiten gibt. So finden wir auch heute noch in den drei oberen Kasten der Priester, Krieger und Ackerbauer die hellhäutige, geistig hochwertige Rasse der Arier vor, während die Shudras sich fast ausschließlich aus den drawidischen Stämmen zusammensetzen. Wie sich im Laufe der Zeit aus dem einheitlichen Begriffe des Hinduismus eine unzählige Menge von Varianten ergab, so geschah dies auch im Kastenwesen, das mit dem religiösen Leben des Hindus aufs engste verknüpft ist. Es entstand allmählich eine Vielheit von Gruppen, die sich infolge der religiösen und sozialen Spaltungen im Volke ins Unermeßliche gesteigert hat, und heute in ihren Auswüchsen kaum mehr übersehen werden kann. Die Bezeichnung des Begriffes »Kaste« stammt aus dem Portugiesischen. Das Wort hat seinen eigentlichen Ursprung jedoch aus dem lateinischen casta, welches Art oder Rasse bedeutet. Die indische Benennung der Kaste ist »dschati«, d. h. Geburt, und dürfte dieser einheimische Begriff der durch die Geburt bestimmten Vererbung innerhalb der Kaste entsprechen.

Das ureigenste Wesen der Kaste, die schon in den veddischen Schriften Erwähnung findet, trägt den Begriff eines traditionellen Genossenschaftsgeistes in sich. Seine Bestimmungen und Rechte sind wiederum durch besondere Gesetze, die sich auf die Einheit und Erhaltung der Rasse, Abstammung, Geburt, Vermählung und Vererbung beziehen, gekennzeichnet. Es läßt sich über die ursprünglichen Werte, die diese Einrichtung in geistiger und sozialer Beziehung für das Volk bedeuten, wenig sagen. Zweifellos bedeutet die Kaste jedoch für den einzelnen eine Förderung, während sie für die Gesamtheit des Volkes in der heutigen Auswirkung die innere Zerrissenheit und geistigen Gegensätze in hohem Maße zu steigern geneigt ist.

Wir unterscheiden heute in Indien eine Unmenge von Kasten, die ihren Ursprung nicht allein in den religiös verworrenen Anschauungen des Volkes haben, sondern auch aus den sozialen und wirtschaftlichen Momenten eines neuzeitlichen Geistes entspringen. Viele Kasten, die aus einzelnen religiösen Gemeinschaften herauswachsen, bilden auf Grund orthodoxer Anschauungen stets wieder neue Glieder, und so bildet sich eine endlose Kette, welche in die breite Masse des Volkes eine stets zunehmende Zersplitterung und Entfremdung trägt. Die religiösen und genossenschaftlichen Kasten haben strenge Gesetze, deren Beachtung und Einhaltung durch hervorragende Mitglieder dieser Gruppen überwacht werden. Verfehlungen gegen diese Bestimmungen haben harte Bestrafungen in Form von Bußen oder Ausschluß aus der Gemeinschaft zur Folge. Da der Hindu im allgemeinen dem Zwang der Kaste unterliegt, sehen sich diese Ausgestoßenen genötigt, einer niederen Gruppe beizutreten. Häufig geben die Geistesströmungen der heutigen Zeit den Anlaß zu solchen Verstößen, die sich hauptsächlich aus rituellen Verfehlungen ergeben und für den Exmittierten eine peinvolle Lage bedeuten. Ich war Zeuge eines Vorfalles, bei dem ein angesehener, mir bekannter Brahmane durch die Verheiratung mit der Frau einer niederen Kaste gezwungen wurde, in die Kaste seines Weibes einzutreten.

In den streng orthodoxen Kasten der Brahmanen herrschen leicht verletzbare Bestimmungen, die den Mitgliedern einen überaus peinvollen Lebenswandel vorschreiben. Die Verordnungen beziehen sich meist auf die äußeren Lebensformen und verlangen die exakte Einhaltung genau begrenzter, ritueller Speisegebote, Fasten, Bußübungen, mühevolle Wallfahrten usw., so daß oft das Leben dieser Menschen zur wahren Askese wird. Ja, selbst in den untersten Kasten, die auch mehr einer sozialen Gliederung gleichkommen, herrschen strenge Gesetze und Forderungen. Ja, in gewissen Kastengemeinschaften ist es sogar Sitte, daß in der Tätigkeit des Berufes eine scharfe Grenze gezogen wird, was auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes einen stark hemmenden Einfluß ausübt. Wir finden, als eine Folge des Kastenwesens, auch die traditionelle Vererbung der Berufe, die sich oft in jahrhundertealten Geschlechtern in ein und derselben Weise fortsetzen und damit an das Zunftwesen unseres deutschen Mittelalters erinnern. So folgt die Tochter der Bajadere den Fußtapfen ihrer künstlerisch begabten Mutter, obgleich das Mädchen vielleicht auf Grund anderer geistiger und seelischer Veranlagung sich nicht für diese zwangsläufige Lebensbestimmung eignet. Söhne der Tempelmädchen werden Tempelmusikanten, Knaben der Fischer werden wiederum Fischer, Kinder von Bettlern, Bettler, selbst wenn sie die Götter mit dem Reichtum der ganzen Welt geboren hätten. Wir sehen in diesen starren Formen eine Schädigung sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungsmomente im Leben eines Volkes, dessen Religiosität mit allen ihren Auswüchsen von verhängnisvoller Wirkung auf die Entwicklung eines ganzen Volkes ist.

Es gibt hunderterlei Kasten. Die der intellektuellen, bürgerlichen und handwerkerlichen Berufe, Kasten der Ärzte, Priester, Lehrer, Kaufleute, Ackerbauer, Schuhmacher, Kutscher, Diener, Wäscher, Fischer, Elefantentreiber, Gassenkehrer usw. Aus diesen Absonderlichkeiten erwächst eine endlose Reihe von Schwierigkeiten, die das tägliche Leben, den gesamten Verkehr und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes behindern und hemmen. Entgegenkommenderweise fühlt sich die englische Regierung veranlaßt, diesen unerfreulichen Erscheinungen in vielem Rechnung zu tragen. Man baut für die unterschiedlichen Kasten Schulen, Krankenhäuser, errichtet besondere Brunnen, aus denen hohe und niedere Kasten getrennt ihr Wasser schöpfen. Ja, man geht während der Zeit der Pilgerfahrten sogar so weit, getrennte Eisenbahnabteile für die »Ein- und Zweimalgeborenen« einzurichten.

Die Rangordnung der hinduistischen Kasten, nach den alten vier Systemen eingeteilt, ist folgende. Als höchste, reinste und erhabenste Kaste gilt die der Brahmanen. Es ist die Kaste der Priester, die in Indien geradezu göttliche Verehrung genießen. Obwohl die Abkömmlinge dieser Klasse nach den alten Gesetzen nur zur Ausübung der priesterlichen Tätigkeit bestimmt sind, trifft man auch Brahmanen, die den niedersten Schichten des Volkes angehören. Die meisten von ihnen genießen ein bedeutendes Ansehen, und ihr Einfluß auf das geistige und religiöse Leben des Volkes ist ungeheuer groß. Sie sind die Führer der Masse, die ihnen willig folgt und sich besonders in religiösen Dingen dem Willen der Brahmanen unterordnet. Auch die gebildeten Stände Indiens setzen sich fast durchaus nur aus Mitgliedern dieser obersten Kaste zusammen. Doch es gibt auch hier wieder vielerlei Verzweigungen, die eine förmliche Kluft zwischen hoch und niedrig bilden. Wir finden manche Mitglieder der Fürstengeschlechter Indiens als Angehörige solcher niederen Kasten, und diese genießen, trotz ihrer hohen weltlichen Stellung, nur ein geringes Ansehen beim Volke.

Die zweite Stufe der Kasten sind die Kshatrias, die Krieger. Sie setzen sich aus den arischen Stämmen zusammen. Ihre Mitglieder sind heute die Nachfolger der großen ruhmreichen Geschlechter der Rajputen und Marathen, denen in der politischen Entwicklung und kriegerischen Betätigung im alten Indien eine bedeutende Rolle zufiel. Zu dieser Kaste gehören die hervorragendsten Fürstengeschlechter Indiens. Die Kshatrias wurden nach einer alten veddischen Sage aus den Armen des Urwesens geboren, während die Kaste der Radschanjas (Brahmanen) aus dem Kopfe, die Waishjahs (Ackerbauer) aus den Lenden und die niedrigste Kaste, die Shudras, aus den Füßen dieses Wesens hervorgingen. Wir sehen, daß diese sinnvolle mythologische Darstellung eine gewisse Symbolisierung bedeutet, die uns auch in bildlicher Weise die geistige Bedeutung dieser einzelnen Gruppen kennzeichnet.

Die dritte Kaste der Vaishjahs umfaßt die Klasse der Ackerbauer, Handwerker und Kaufleute. Sie erhält vorwiegend arische Rassenelemente. Ihre Gliederung ist, wie bei allen anderen Kasten, eine sehr vielseitige, so daß wir auch in ihr hohe und niedrige Klassen vereint sehen. Die vierte und letzte Gruppe sind die Shudras. Zu ihnen gehören die Drawiden, die Ureinwohner des Landes, die Niedriggeborenen, die im Gegensatz zu allen übrigen Kasten in einem Verhältnis geistiger und körperlicher Unterordnung stehen. In Wirklichkeit sind sie die Versklavten, die, jener arischen Invasion weichend, von der intellektuell und körperlich überlegenen Rasse im Laufe der Zeit zurückgedrängt und von ihr beherrscht wurden. Wir sehen aber aus der Geschichte Indiens, daß diese Erscheinung, mit der sich die Drawiden abzufinden wußten, die kulturgeschichtliche Entwicklung Indiens in bedeutendem Maße gefördert hat, was besonders dem geistigen Einfluß der Arier auf die übrigen Völker Indiens zuzuschreiben ist.

Wohl unterscheidet man außer diesen vier Hauptklassen noch eine fünfte Gruppe, die eine elende und bedauernswerte Menschheit umfaßt. Es sind die »Outcasts« oder »Parias«. Sie stehen zwar außerhalb der hinduistischen Kastenordnung, sind aber durch den ausgeprägten Klassengeist im indischen Volke trotzdem unter den Begriff einer besonderen Kaste gekommen. Zu ihnen gehört der Auswurf der menschlichen Gesellschaft. Es sind die Ausgestoßenen, Vertriebenen und Unwürdigen. Ihre Behandlung von seiten der höheren Kastenmitglieder ist auf Grund dieser Klassengesetze eine menschenunwürdige. Schon der Anblick eines Parias verunreinigt die Seele des Zweimalgeborenen. Sein Schatten, den er mit sich trägt, besudelt die Welt der Reinen, und wer aus seiner Hand empfängt, ist selbst ein Ausgestoßener, der niemals mehr die Würde seiner Kaste erreichen wird. In Indien gibt es eine Unzahl dieser »Mleccahs«, und auch der wundervolle Stamm der »Rodyas« auf Ceylon zählt zu ihnen. Aber auch die Christen und Andersgläubigen sind Mleccahs, und wer sich ihnen auch nur nähert, ist dem Bann seiner Kaste verfallen. Schon hierin sehen wir einen großen Widerspruch, da der Hindu ja durch die Kolonisierung des Landes auf die Berührung mit dem Fremden angewiesen ist. In Wirklichkeit scheinen jedoch auch hier die religiösen Gesetze manche Ausnahmen zu machen.

Unschwer ist zu erkennen, daß unter der Einwirkung dieses weitverzweigten und in übertriebenem Maße geförderten Kastenlebens besonders auch die durch eine neuzeitliche Geistesanschauung geweckte Idee der nationalen Einheit in schwere Bedrängnis gerät. Nie war in Indien die Pflege des nationalen Gedankens so notwendig wie heute, wo das Volk vor die Lösung eines politischen Dilemmas gestellt ist. Doch in Indien ist alles von dem despotischen Geist religiöser Prinzipien geleitet. Diese gleichen heute einem Koloß auf tönernen Füßen, dessen Basis durch die innere Zerrissenheit innerhalb der Bevölkerung und durch die Einflüsse fremder Macht und fortschrittlicher Geistesanschauung immer mehr und mehr unterwühlt wird.

Allmählich scheinen sich die Einwirkungen der geistig und ethisch höheren Begriffseinstellung, die von der abendländischen beeinflußt ist, Bahn zu brechen, zumal diese Bestrebungen auch durch hervorragende Persönlichkeiten, die aus dem indischen Volke hervorgingen, in die breiten Massen getragen werden. Man sucht vor allen Dingen das Volk von den Selbstpeinigungen einer übersinnlichen und verworrenen Denkungsart zu befreien und es von den starren Formen wertloser Tradition loszulösen. Zu diesen Anschauungen ethisch höherer Begriffswerte wollen die geistigen Führer Indiens das Volk erheben. Dieses Volk, welches in seinem Herzen den Kern tiefer Religiosität trägt, jedoch unter der Einwirkung unheilvoll-verwirrender Einflüsse den Glauben an sich selbst zu verlieren beginnt.


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