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Bombay und die Türme des Schweigens

Bombay ist eine der ältesten Siedlungen der Engländer in Indien. Es ist heute die vom Geiste der Neuzeit beherrschte Stadt, in deren Mauern, ähnlich einer kontinentalen Großstadt, nahezu eine Million Einwohner in enger Bedrängnis und lichtloser Dumpfheit unter dem Zwange räumlicher Einschränkung leben. Die Stadt liegt auf einer langgestreckten, schmalen Insel, die vom Ozean umgeben und mit dem Festland durch eine Brücke verbunden ist. Ihrer Übervölkerung und Ausdehnung hat das brandende Meer ein zeitliches Ziel gesetzt. Mit den Mitteln fortschrittlichen, westlichen Kulturgeistes sucht man jedoch heute diese hemmenden Faktoren einer in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht gestörten Fortentwicklung aus dem Wege zu räumen, um der Stadt das lebensnotwendige Wachstum ihrer Peripherien zu ermöglichen.

Die Gründung der Stadt fällt in das Jahr 1661. Sie verdankt ihren Ursprung den Portugiesen, welche von diesem Punkte, Bom-Bahia genannt, ihre Handelsbeziehungen mit Indien zu festigen begannen. Doch schon einige Jahre nach ihrer Gründung ging die Siedlung pachtweise an die ostindische Handelskompanie in englischen Besitz über, und ein Jahrhundert später ist sie ganz in den Händen Englands, welches von hier aus die Besitzergreifung seiner indischen Gebietsteile einleitet. Heute ist Bombay eine Weltstadt, die, wie so manche anderen großen Städte Indiens, ihr Emporblühen dem von dem wirtschaftlichen Interesse Englands begünstigten Einfluß des westlichen Geistes verdankt. Bombay besitzt den größten und bedeutendsten Hafen Indiens, und wer den Wald seiner Masten und rauchenden Schiffsschlote, das kribbelnde Leben seiner Piers und Kais gesehen hat, wird den überwältigenden Eindruck, den man von diesem gewaltigen Treiben empfängt, nicht vergessen. Aus der Monotonie des Südens kommend, werde ich plötzlich mitten in diese von dem Einflusse abendländischen Geistes und eines internationalen Weltverkehrs belebten Sphäre einer modernen Großstadt versetzt. Nachdem ich Madras und viele andere Städte im Süden gesehen hatte, war ich gewohnt, die übrigen Metropolen Indiens mit dem bescheidenen Maß, welches mir die Eindrücke dieser südlichen Städte mit auf den Weg gaben, zu messen. Doch meine Vorstellungen sollten durch das gewaltige Erlebnis, welches das Betreten Bombays und seiner grandiosen Anlage als Welt- und Großstadt für mich zu bedeuten hatte, bei weitem übertroffen werden.

Nach einer starken nächtlichen Abkühlung, die der letzte Teil meiner Fahrt von Madras nach Bombay durch das Passieren des westlichen Randgebirges brachte, erreiche ich in der Morgenfrühe Bombay. In der riesenhaften Bahnhofshalle des Viktoria Terminus herrscht bereits reges Leben. Der Postzug aus dem Süden brachte Hunderte von Reisenden. Überall die Anzeichen eines nimmerruhenden, gesteigerten Verkehrs, dessen Leben einen prickelnden Nervenreiz verursacht. Alles flutet zu und von den Ausgängen der gewaltigen Bahnsteige. Ein Heer von Kulis und Lastenträgern belagert die Hallen, die vor den Plattformen liegen. Auf vierundzwanzig Geleisspuren münden die Strecken, welche Bombay mit ganz Indien verbinden. Drüben wartet der Expreßzug nach Kalkutta, welcher den indischen Kontinent in der Breite einiger tausend Kilometer vom Westen nach dem Osten durchqueren wird. Reisende, die noch von den kühlen nordischen Sphären Europas umgeben, unmittelbar vom Deck des heute nacht eingelaufenen Ozeanriesen kommend, den Boden von Bombays Eisenbahnstation betreten, füllen die Plattform, auf der das rege Leben hastenden Verkehrs auf und nieder flutet. Weiß dominiert. Nur die Turbane und fliegenden Tücher der hin und her eilenden Boys und Gepäckträger sind bunt und tragen das farbenfrohe Leben der Straßen in die düsteren, von Rauch und Ruß geschwärzten Hallen des Bahnhofes.

Beim Betreten der Stadt trifft mein Blick breite, von großen monumentalen Gebäuden umsäumte Straßen. Das typische Bild der vom Westen nach dem Osten getragenen Großstadt. Saubere Stadtviertel nach europäischem Muster mit weiten, von Grün umgebenen Straßen. Herrliche Alleen und kultivierte Anlagen. Breite Plätze mit Denkmälern und subtropischer gepflegter Vegetation. Parks, Strandpromenaden mit internationalem, weltenbummlerischem Verkehr. Doch sonst ist es nichts, was dem Wesen dieser Europäerstadt ein besonderes Gepräge verleiht, und wenn ich die Ursprünglichkeit und malerischen Reize einer solchen Stadt suche, so finde ich sie gewöhnlich nicht in den prunkenden Stadtvierteln des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Wohl haben auch diese manche Besonderheiten, die das Auge erfreuen und befriedigen können. Und gerade Bombay hat, wie keine zweite Stadt in Indien, diese augenfälligen Merkmale einer geschmacklich hohen Kultur, die es verstanden hat, die Vorteile einer herrlichen Natur mit der Großzügigkeit moderner Stadtanlagen reizvoll zu verbinden.

Die breite Strandpromenade, die mit ihren von Palmen begleiteten Reit- und Fahrwegen von Colaba in weitem Bogen der schäumenden Meeresbucht entlang nach Malabar-Hill hinüberführt, ist ein wertvoller Ausschnitt dieser naturbedingten Schönheiten der Stadt. Der Malabarhügel, eine niedrige, von herrlichen Baumbeständen bedeckte schmale Landzunge, die weit ins Meer hinausragt, ist das Paradies Bombays. Dort wohnen in ihren märchenhaften Palästen und Landhäusern die Krösusse des Ostens und Westens, die Industriemagnaten Bombays, unter denen die Parsen eine bedeutende Rolle spielen. Es sind eingewanderte Perser, die Anhänger der Lehre Zoroasters, die durch die fanatischen Horden des Islam aus ihrer Heimat vertrieben und, nach dem Osten wandernd, in Indien eine neue Niederlassung gefunden haben. Nach der Gründung Bombays sammelte sich hier ein großer Teil von ihnen unter dem Schutze Englands, wo sie sich zu einer starken Gemeinde zusammenschlossen und an der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes einen regen Anteil hatten. Ihr ausgeprägter Handels- und Geschäftsgeist brachte ihnen bald die führende Stelle im Wirtschaftsleben Bombays. Die große Industrie der Spinnereien und Webereien Bombays in Tarteo, Parel und Warlee, wovon einzelne Werke bis zu zehntausend Arbeiter beschäftigen, ist ausschließlich in ihren Händen. Mit Hilfe ihres märchenhaften Reichtums haben sie sich durch ihre philanthropische Betätigung schon manches stattliche Denkmal gesetzt. Eine große Anzahl Einrichtungen, die der sozialen Fürsorge des Volkes und seiner geistigen Erziehung zugute kommen, sind durch die Millionenstiftungen der reichen Parsen ins Leben gerufen worden, und England hat mit Orden, Titeln und Adelsprädikaten nicht gespart, die menschenfreundlichen Werke zu belohnen.

Der Parse ist der vorherrschende Typ Bombays. Ohne ihn wäre das öffentliche Leben der Stadt heute nicht mehr denkbar. Überall in den Stadtvierteln der westlichen und östlichen Welt sehen wir die blassen, fahlgelben Gesichter der Männer, mit dem jüdischen Typus und den eigenartigen, tschakoähnlichen Kopfbedeckungen und die Frauen mit ihren malerisch geschlungenen, gemusterten Sarongs, unter denen sich oft diskret die modische Eleganz und Charme europäischer Art verbirgt. Am Abend, wenn sich das elegante Treiben auf der Colaba-Seite des Korsos zu regen beginnt, sind es die reichen Parsen Bombays, die in ihren eleganten, von exotischen Kutschern und livrierten Indern besetzten Gefährten und Luxusautomobilen die Buntheit, welche am Strande hin und her wogt, durch die repräsentative Seite ihres Daseins beleben. Den grellen Gegensatz zu diesem schwulsthaften Leben der Wohlhabenheit und des farbigen Gepränges bilden die düsteren Viertel der Eingeborenen, die an dumpfer Enge und Übervölkerung kranken und ein dunkles Kapitel in der Chronik dieser Stadt bilden. Zwischen einem von den trüben Schwaden der Rauchwolken und einer stickigen, feuchtwarmen Atmosphäre belagerten Häusermeer drängen sich die Massen der werktätigen Bevölkerung, die von dem zermürbenden Geist einer modernen Kultur überschattet ist.

Ähnlich wie in anderen großen Hafenstädten des Ostens ist auch hier der vielseitige Internationalismus des Orients in einem gettoähnlichen, dumpfen Loche vereinigt. Gegen den dort sich häufenden Schmutz und Unrat kämpft die englische Gesundheitsbehörde einen Kampf der Verzweiflung. Täglich werden Tausende von Drahtfallen am Herde der Pest und Cholera, in den Vierteln der Eingeborenen und in der Nähe der Hafenspeicher, niedergelegt, um die Scharen von Ratten, die als Träger der Pest gelten, zu vernichten. Zwischen den Silos des Hafens und den engen Winkeln der Gassen sah ich diese Tiere, die in Haufen wie die Sperlinge auf den Straßen zu finden sind. Ihr Blut trägt den Keim der Beulenpest, der durch den Floh auf die Menschen übertragen wird. In den letzten zwanzig Jahren starben rund zehn Millionen Menschen an den Folgen dieser Seuche, die jedoch, periodisch auftretend, durch die sanitären Maßnahmen der Behörden immer mehr im Rückgang begriffen ist.

Der Betrieb in den Hafenvierteln wogt Tag und Nacht. Unaufhörlich sausen die Krane und Exhaustoren, welche den Bauch der Schiffe füllen und entleeren. Eisenbahnzüge stehen auf den Piers, um den zeitraubenden Verkehr der Umladungen zu erleichtern. Über dem Chaos der Schiffsmasten und Schornsteine lagern die Schwaden gelbgrauen Rauches und dichter Dunstschleier. Eine drückende Atmosphäre erfüllt das gesamte Hafenviertel, und die für Hafenstädte so typischen Gerüche von Teer und Hölzern, von Früchten und scharf duftenden Gewürzen schweben ewig über dem Getriebe der Menschen. Verwesungsgestank, der aus den lagernden Speichern dringt, zieht Myriaden von Ungeziefer herbei. Die Heere von Kulis und schwarze Kohlentrimmergestalten bevölkern die Kais. Ewiges Rasseln und Tosen erfüllt die Luft. Dampfsirenen heulen, und in dem unaufhörlichen, geräuschvollen Gang dieses gigantischen, mahlenden Räderwerkes klingt der monotone Chor menschlichen Lebens und Webens, der Tag und Nacht wie das Summen eines Bienenschwarmes über dem Hafen liegt. Immerfort, fast ohne Unterbrechung, klingt das eintönige Lied der eingeborenen Kohlenzieher, die drüben von den schwarzen Bergen wie eine endlose, lebendige Kette an den Brücken der Dampfer auf und nieder steigen und die leeren Bunker der Schiffe mit Kohlen füllen. Viele Tausende von Menschen finden hier an diesem grauen, düsteren Ort, weit entfernt von ihrer sonnigen, friedvollen Heimat, das kärgliche Brot. Andere wieder verrichten geduldig in den feuchtheißen, zum Ersticken dumpfen Gefängnissen der Fabriken, wo tage- und nächtelang die Webstühle und Millionen von Spindeln surren, ihre aufreibende und geistestötende Arbeit.

Bei einem Gang durch die dunkelsten Viertel der Hafenstadt zeigt mir das Schreckgespenst moderner Zivilisation seine gefährlichen, nimmersatten Fänge. Kaschemmen, aus denen der Dunst von Fusel und vergorenem Palmwein weht, säumen die Gassen. Versteckte Opiumhöhlen, Spielhöllen und andere Stätten orgiastischen Treibens verschlingen ihre Opfer und speien sie im Zustande fieberhafter Delirien und Trunkenheit wieder aus. In dunklen Winkeln treiben sich zerlumpte Gestalten von Frauen und Männern mit dem Ausdruck niederster Instinkte und den Zeichen vertierter und lasterhafter Gesinnung umher. Überall Schmutz und Elend, Degeneration und Niedertracht. Es ist ein Bild schlimmsten, geistigen und moralischen Tiefstandes, der durch die unheilbaren Zustände sozialer Vernachlässigung in erschreckender Weise gefördert wird. Mitten in diesem Elend der Großstadt, unter Elenden und Hilfsbedürftigen, wirkt die Heilsarmee. Ich traf ihre Apostel in den übelsten Vierteln Bombays und bewundere die von hohen menschlichen Idealen getragenen Mühen und Opfer, mit welchen diese Männer und Frauen ihre schwere Mission erfüllen.

Welche Kontraste, wenn man dort hinüberkommt in die vom Licht der Sonne und der würzigen Luft der See umfluteten Viertel der Reichen und Mächtigen Bombays! Dieser Malabar-Hill, das Dorado Bombays, mit seiner von duftenden Hainen und herrlichen Gärten erfüllten Landschaft, mit seinen Palästen und feenhaften Anwesen, mit den Hanging-Gardens, in dem mir die Pracht einer subtropischen und tropischen Flora entgegenleuchtet. Dort ist durch den Atem dieser wundervollen Vegetation und die kühle Brise, welche die freien Ufer der Bucht umspült, durch die würzige Atmosphäre des Ozeans das Klima des indischen Sommers allmählich erträglich geworden. Am Abend ist es in den Monaten des trockenen, indischen Sommers sogar oft empfindlich kühl, und der an die Hitze gewöhnte Körper schaudert bei der so plötzlich gesunkenen Temperatur des Abends und der Nacht. Für den Fremden bietet Bombay und seine Umgebung eine Fülle interessanter Dinge. Die große Stadt selbst gleicht einem Museum, dessen Werte der Schönheit und des Wissens von unerschöpflichem Reichtum sind.

Auf einer kleinen Insel, welche in der Bucht von Bombay liegt, besuchte ich die Höhlentempel von Elefanta. Es sind bedeutende Merkmale altindischer Tempelbaukunst, deren figuraler Darstellungsreichtum tief in den Fels versenkt ist. In geheimnisvollen Höhlen und Kammern, die unter der Erde liegen und mit unendlichem Fleiß aus dem Gestein herausgemeißelt sind, treten mir die kolossalen Götterbilder Shivas gespenstisch aus dem Halbdunkel entgegen. Der architektonische Aufbau und auch der Figurenschmuck ist überaus streng in der Form und erinnert in seiner Gestaltung oft an die Gliederung der altägyptischen Tempel. Den Gott Shiva sehen wir in mannigfaltiger, plastischer und reliefartiger Darstellung, als Nataradjha, der Herr der Tänzer, in wilder Bewegung mit sechsfachen Armen, den Weltentanz darstellend. Als Ardhanarisha, das zweigeschlechtige Wesen, welches als Symbol der Verbindung mit seiner göttlichen Gattin Durga gilt. Viele dieser hervorragenden, mit packender Lebendigkeit gemeißelten Bildwerke und auch die archaistischen Gliederungen der Architektur erinnern an jene Höhlentempel der Sieben Pagoden von Mamallapuram bei Madras. Leider sind sie durch Zerstörung, Verwitterung und Überschwemmungen in fragmentarischen Zustand versetzt. Hätte ich in Bombay noch vieles sehen und kennenlernen wollen, ich hätte wochenlang verweilen müssen.

Außer einer großen Anzahl wissenschaftlicher Institute, Museen, Bibliotheken und anderen öffentlichen Gebäuden, die dem Fremden in der tolerantesten Weise offen stehen, besitzt auch Bombay, wie alle übrigen Städte Indiens und der Welt, seine Eigentümlichkeiten, die dem Wesen der Stadt und ihrer Menschen ein besonderes Gepräge verleihen. Es sind Dinge von seltener Eigenart, die unserer abendländischen Geisteseinstellung oft fremd und absurd erscheinen, deren Merkwürdigkeiten jedoch zu tiefem Nachdenken zwingen. Manche Menschen mögen durch derartige Erscheinungen wenig berührt werden, weil sie sich der Gedanken- und Empfindungswelt eines fremden Landes und seines Volkes nicht zu nähern vermögen. Um so mehr konnte ich es verstehen, daß sich viele solche Gemüter über Dinge lustig machen, deren Geschehen für sie lediglich ein sensationelles Ereignis bleibt und dessen tieferer Sinn ihrer Auffassung fernliegt. Indien, das Land der Wunder, ist überaus reich an derartigen Ereignissen und Einrichtungen, die uns ihrer Art nach wohl fremd sind, deren Sinn und Wesen wir jedoch, wenn wir die Seele des Volkes verstehen wollen, erfassen müssen. Man kann es aus diesem Grunde gerade in Indien häufig beobachten, wie wenig Verständnis und Empfinden der Fremde, und besonders der reisende Europäer, manchen Sitten und Bräuchen entgegenbringt, die aus der Seele des Volkes und seiner Rasseneigenart geboren werden. Bei vielem scheint man nur mit den nüchternen Sinnen und mit dem Maß des abwägenden Verstandes zu messen, während man an ursächlichen Inspirationen und Gedankentiefen, welche die Grundlagen alles menschlichen Geschehens bilden, interesselos vorübergeht. In diesen Äußerungen, die ich während meiner Reise in Indien bei den Trägern westlicher Kultur mehr als häufig beobachten konnte, liegt ein von dem Dünkel eines übertriebenen Selbstbewußtseins gestärkter Ausdruck der Verachtung für alles, was die oft engbegrenzte, geistige Sphäre des Westens tangiert. Diesen Ausdruck der Geringschätzung empfindet niemand mehr als diese Völker, deren von tiefstem Ernst und hoher Empfindung getragenes Leben den Menschen fremder, umherreisender Nationen nicht mehr als ein Schauspiel voll Ergötzlichkeiten bedeutet.

Nicht nur die großen, von dramatischem Ernst erfüllten Kultstätten der Hindus im Süden und Norden Indiens, sondern auch Bombay besitzt manches, was bei vielen Fremden, die es aus sensationeller Neugierde zu sehen wünschen, nur ein mitleidsvolles Lächeln erweckt. Eine dieser vielbesuchtesten »Sensationen« der Fremden ist der Panjrapol, das Tierhospital für leidende und verkrüppelte Tiere. Was in dieser Idee der Inder verborgen liegt, wird vielen fremd bleiben. Man möge jedoch den Sinn einer so eigenartigen Anschauung, die den Hindu zu diesem von tiefem menschlichen Mitgefühl inspirierten Willen und Gedanken geleitet hat, erkennen. Wenn es auch mit unseren abendländischen Begriffen über das Wesen rein menschlichen Empfindens in einigem Widerspruch stehen mag, so ist die Einrichtung des Panjrapols, der seine Entstehung den religiösen Gesetzen des Hindus verdankt, zu verstehen. In diesem von eingeborenen Wohltätern gestifteten und geleiteten Tierasyl finden kranke, krüppelhafte, verwundete und altersschwache Haustiere aller Gattungen Aufnahme und Pflege. Ich habe den Panjrapol besucht und war tief erschüttert über die Eindrücke, die ich dort von dem Schicksal dieser hilflosen Tierwelt empfing. Vielfach steht man jedoch dem Leiden der Tiere, denen man im Panjrapol das Leben und den Jammer ihres Daseins erleichtern möchte, mit der dem Hindu eigenen fatalistischen Lethargie gegenüber. Doch in dem Willen, diesen Freunden der Menschen zu helfen, liegt ein schöner Zug urwüchsiger und tiefer Gemütsart, die auch in den streng religiösen Gesetzen über die Heiligkeit aller tierischen Lebewesen und der Schonung ihres Daseins zum Ausdruck kommt. Bei den Hindus frommer Sekten findet diese Rücksicht auf das Leben der Tiere in der oft extremsten Form ritueller Handlungen Ausdruck. Man tötet nie ein Tier, genießt weder das Fleisch noch andere Bestandteile, die dem Körper des Tieres entnommen sind. Ja, in manchen strenggläubigen Kreisen befreit man sogar die Häuser, weniger aus Reinlichkeitstrieb als aus rituellen Gründen, von dem darin befindlichen Ungeziefer, damit dieses nicht durch unglückliche Zufälle getötet wird. Man filtriert das Trinkwasser, bindet Tücher vor Mund und Nase, um kleine und kleinste Lebewesen nicht einzuatmen oder auf andere Weise umkommen zu lassen. Und trotzdem wird in den breiten Volksschichten Indiens die Tierschinderei gegenüber allen Haustieren mit oft unerhörter Grausamkeit getrieben. Es ist dies einer der vielen merkwürdigen, krassen Gegensätze, die wir im Leben des Inders so häufig beobachten, und deren Ursache in der naturbedingten Individualität dieses Volkes seiner in sich so sehr verschiedenen Lebens- und Glaubensauffassungen zu suchen ist.

Wenn wir die Eigenheiten dieses Landes und seiner Völker kennen, so kann uns in Indien nichts, was unseren Begriffen fremd erscheint, in besonderes Erstaunen setzen. Vieles, was ich auf meinen Reisen im Süden in den Tempelstädten und in orthodoxen hinduistischen Kreisen des Volkes sah, schien mir von diesem Wesen übersinnlicher Mystik und von den Gedanken einer fieberhaft-phantastischen Geistesanschauung getragen zu sein. Und alle diese erschütternden Erlebnisse, welche mir oft wie bizarre Träume erschienen, haben ihren Ursprung aus der Seele des Volkes, aus seinem tiefsten Innern, das in diesem Falle vor allem die religiöse Empfindung und der Glaube dieser Menschen bedeutet. Und wer vermag es, diese seit Jahrtausenden tief verwurzelte, mit allen Fasern seines Lebens verbundene Eigenart eines Volkes kraft einer scheinbar höheren ethischen und geistigen Einstellung im Grunde zu verändern! –

Auch die Parsen Indiens haben, trotzdem sie in geistiger und kultureller Hinsicht dem Wechsel und den Einflüssen der Zeit gefolgt sind, ihre Besonderheiten, die ihrer Gemeinschaft das Gepräge ureigenster Tradition geben. Ihr uraltes religiöses Leben ist, ungehindert durch Veränderungen, die sich im bewegten Laufe seiner Entwicklungsgeschichte vollzogen haben, das gleiche geblieben. Einer der sichtbaren Beweise des starken, religiösen Empfindens bei den Parsen zeigt uns Bombay in diesen weltbekannten Türmen des Schweigens. Es sind die Friedhöfe der Parsen, die, von einer geheimnisvollen Mystik umgeben, einen besonderen Reiz auf die fremde menschliche Phantasie ausüben. Eine für diese Zwecke besonders ausgestellte Erlaubnis des Parsi-Sekretariats ermöglichte mir den Besuch dieser eigenartigen Begräbnisstätte. Sie befindet sich weit draußen zwischen den grünen Hainen des Malabar-Hills. Düsteres Schweigen liegt dort unter dem dämmerigen Schatten hoher Baumgruppen, die den Garten bedecken. Inmitten eines stillen Wäldchens liegt ein kleiner Tempel, in dem die Parsipriester die ewig lodernde Flamme des heiligen Feuers unterhalten. Von einer einsam gelegenen Terrasse genieße ich einen herrlichen Blick über die in flimmernden Dunst gehüllte Stadt, deren fernes Treiben wie das Brausen einer riesigen Kaskade herüberklingt. Am Fuße des Hügels liegt die blaue Meeresbucht. Es ist, als ob der Ozean das ewige Getöse dieses menschlichen Räderwerkes mit dem eintönigen Rhythmus seiner Brandung begleiten wolle. Ein Führer in der Tracht der Parsen begleitet mich in die Nähe der Türme, die hinter dichten Baum- und Palmengruppen verborgen liegen.

Schon von ferne höre ich das Krächzen der hungrigen Leichenwärter, der Aasgeier, die ihre Heimat in diesen dunklen, schauerlichen Gärten haben. Zwischen ewigem Grün leuchten die Mauern dieser sonderbaren Bestattungstürme. Auf ihren Zinnen warten Hunderte dieser Vögel auf den nächsten Leichenschmaus. Die Türme gleichen einem kreisrunden, nach oben geöffneten Becken. Sie haben einen Durchmesser von 12 bis 20 m und sind etwa 7 bis 10 m tief. Eine seitliche Öffnung, die mit einer Falltür verschlossen ist, führt in das Innere, in welchem sich drei übereinanderliegende Roste befinden. Hier werden die Körper der verstorbenen Parsen niedergelegt und dem Fraß der Geier überlassen, denn Feuer und Erde sind den Parsen, den Feueranbetern, heilig. Beides darf durch die Unreinheit des toten menschlichen Körpers nicht befleckt werden, und noch ehe die Überreste des Menschen die Erde berühren, müssen sie von der zersetzenden Fäulnis, welche der gestorbenen Materie anhaftet, befreit sein. Die leichenräubernden Vögel bilden bei dieser Parsibestattung die freiwilligen Helfer, indem sie den Körper der Leiche zerfleischen und so die Zersetzung beschleunigen. Der elementaren Einwirkung der Natur wird das übrige belassen. Die Reste der Leiche sammeln sich in einem Behälter, in welchen die trichterförmig abfallende Plattform des Turmes mündet. Hier werden sie durch eine künstliche Filtrieranlage der Erde zugeführt. Wahrlich, ein merkwürdiger Brauch, den ich bei diesen feinsinnigen und für die westlichen Kulturanschauungen so sehr empfänglichen Parsen am wenigsten gesucht hätte. Doch es ist das Gesetz ihrer Religion und der Wille Zarathustras, dessen Lehre alle Regeln des Lebens und Sterbens bestimmt.

Mein Führer zeigt mir das Modell mit dem Querschnitt des Turmes und erklärt den Vorgang der Bestattung. Auch er ist ein Sohn Zoroasters, und auch ihn werden einst die mit Menschenfleisch gemästeten Geier in den Türmen zu Fetzen zerren. Doch er findet nichts Sonderliches bei diesem Gedanken, der sich fast täglich mit derselben Schauerlichkeit vor seinen Augen verwirklicht. In einer Stunde findet eine Beisetzung statt. Ich sehe den Leichenkondukt mit der Bahre voran, drüben an der Bucht heraufziehen. Ein langer Zug Trauernder folgt in paarweiser Reihe. Es sind lauter Männer, die sich während des Gehens beim Tragen der Leiche ablösen. Damit erweisen sie ihrem Toten die letzte Ehre. Lautlos erheben sich einige der Geier, die träge auf der Rampe der Türme sitzen und mit dem Instinkt ihres Geschlechts den neuen Toten wittern. Sie ziehen weite Kreise über der Bucht und begrüßen den Leichnam mit heiserem Krächzen. Auch die übrigen Vögel, die auf den Zinnen und den Ästen der Bäume lauern, werden von Unruhe gepackt. Keifend und balgend, mit den riesigen Schwingen schlagend und den Schnäbeln sich bekämpfend, sucht einer dem andern den vorteilhaftesten Platz auf der Mauer streitig zu machen.

Ich verlasse die Stätte des Grauens. Der Garten wird während der Bestattungsszene für Fremde geschlossen. Am Tore begegne ich dem Trauerzug, der, monotone Gebete murmelnd, an mir vorüberzieht und in der schweigsamen Düsterkeit des Friedhofes verschwindet. Noch höre ich das Geschrei der zankenden Vögel. Im Geiste sehe ich, wie man den Toten entkleidet und durch jene Falltüre, der ich vor kurzem gegenüberstand, in den Turm schafft. Keifend stürzen die Scharen der Geier herab. Es entspinnt sich ein heißer Kampf, bei dem die Federn fliegen und die gebogenen Schnäbel wütend aufeinander stoßen. Nicht auf die Stärke, auf die Schnelligkeit kommt es an. Wer zuerst zu der Futterstelle herabstößt, hat die bevorzugten Leckerbissen. Abgerissene menschliche Gliedmaßen, Fleisch- und Hautfetzen, Eingeweide werden im Kampf hervorgezerrt, auf die Mauern und in die Baumkronen geschleppt und oft in die Lüfte entführt. Mit den Resten im Turm begnügen sich die bescheidenen Krähen, die, von den Abfalltrögen der Stadt dem Leichenkondukt folgend, in Schwärmen dem Malabar-Hügel einen kurzen Besuch abstatten. Dann herrscht wieder Ruhe bei den Türmen der Toten, und eisiges Schweigen liegt unter den dichten, grünen Laubdächern, welche dem blauen, hellen Himmel des indischen Sommers dieses düstere Schauspiel verbergen.


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