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Im Norden der von den vergangenen Monsunregen erfrischten Stromebenen des Ganges und Brahmaputra, deren gewaltige, angeschwollene Wasserläufe sich mit einem weitverzweigten Flußnetz dem südlichen, tropischen Meere entgegenwinden, erhebt sich plötzlich wie die gigantische Felsenmauer eines Titanenreiches der Gebirgswall des Himalaja. Keinem Land der Erde ist von der elementaren Kraft der Natur eine solche unüberwindbare Grenze geschaffen, wie sie Indien und die angrenzenden Ländergebiete im Norden und Nordwesten in der gewaltigen Gebirgskette des Himalaja und dem nordwestlichen Grenzgebirge des Pamir besitzt. Mit ehrfürchtigem Stolz und religiöser Scheu tragen die Inder und alle jene Völker, deren Heimatgebiete von den schneebedeckten, zyklopischen Gebirgswällen umschlossen sind, das Bild der mit mystischem Zauber umgebenen Bergwelt des Himalaja in ihrem gläubigen Herzen. Und jene, die unmittelbar in der Nähe seines dämonischen Bereiches, in den von lieblicher Flora bedeckten Vorgebirgen, den tiefgefurchten, einsamen Schluchten, in Felsentälern und an steilen Gebirgshängen wohnen, sind von dem Bann seiner urwüchsigen und bezwingenden Kraft erfüllt. Geheimnisvolle Scheu lebt in dem Herzen dieser Menschen, deren Gedanken und Seele von den überwältigenden Eindrücken dieser so packenden Naturerscheinung erfüllt sind. Sind es doch besonders die ewig schöpfenden und vernichtenden Kräfte und Gewalten der Natur und die durch sie geschaffenen, wunderbaren Erscheinungen, welche im Gemüte dieser östlichen Völker, auf ihr gesamtes Leben, Denken und Empfinden einen überwältigenden Einfluß haben. Alles, was die Natur an segenspendenden und zerstörenden Kräften hervorbringt, ist den von kindlichem Glauben und religiöser Scheu erfüllten Menschen heilig. So ist es auch besonders der Himalaja, der in der Vorstellungs- und Gedankenwelt dieser Völker lebt und mit ihrem Glauben und Götterkult aufs engste verknüpft ist.
Geheimnisvoll ist der Mythos, der mit einem phantastisch-poesievollen Rankenwerk diese göttergleiche Gebirgswelt phantasievoll verherrlicht. Von den Urgewalten der Erde erzeugt und in titanischem Ringen von den Göttern erobert, wurde der Himalaja im Glauben jener Völker der Sitz Indras, des Götterkönigs. Aus dem himmlischen Schoße der Berge in der Nähe des heiligen Sees Manasarowar und des Götterthrones Kailas werden die Wasser der drei heiligen Ströme Indus, Ganges und Brahmaputra geboren. Vom Fuße der schneebedeckten Höhen rinnen unzählige Flußläufe hernieder, deren segenspendende Wasser die gewaltigen Gebiete des nördlichen Indiens befruchten und sich wiederum mit den heiligen Strömen vereinigen. Während der Ganges und der Brahmaputra sich in nahezu parallelem Lauf auf der südlichen und nördlichen Seite des Gebirgsstockes nach Osten wenden, bahnt sich der Indus kraftvoll seinen Weg durch die steilen, öden Schluchten der nordwestlichen wilden Bergketten. Vor den steilen Wällen des Hindukusch windet sich sein Lauf in jähem Winkel nach Südwesten, sein Bett durch die flachen Sandwüsten des öden Punjab und Sind grabend, dem Arabischen Meere zu. Wie eine gleichlaufende Welle folgt die Grenze des Britisch-Indischen Reiches im Nordwesten den Höhenzügen der nach dem Meere zu fliehenden Gebirgsmassive des Pamirs, während die Landesgrenzen im Norden, jenseits des Indus, in zackigen Linien oft weit über die trennenden Berge nach Tibet hinübergreifen, um dort einen Weg in die Gebiete Innerasiens zu öffnen.
Von der ungeheuern Ausdehnung der Indien begrenzenden Hochgebirgsmauern des Himalaja vermögen Zahlen nur einen trockenen Begriff zu geben. Die Länge des Hauptgebirgsmassivs beträgt 2500 km. Rechnet man die östlichen Ausläufer, die Assam durchqueren, und die im Nordwesten hinter dem Punjab bis zum Arabischen Meere aufgetürmten Bergmassive des Hindukusch und Belutschistan hinzu, so ergibt sich die doppelte Strecke, die ungefähr der fünffachen Ausdehnung des Hauptzuges der Alpen entspricht. Zu Hunderten reihen sich Gipfel an Gipfel, welche die höchsten Bergriesen der Alpen nahezu um das Doppelte überragen. Unzählige von niedrigeren alpinen Bergspitzen und Grate zwängen sich zwischen die starren Riesenleiber der beherrschenden Bergkolosse und verbinden ihre Glieder zu einer eis- und schneebedeckten Kette, die Indien gleich einem unüberwindlichen Festungswall umschließt. Von urwüchsiger Kraft und bezwingender Größe ist diese Landschaft der Berge, der ewig vereisten Gletscher und öden Steinmoränen, die gewaltigen, tief in die Felsen der Vorberge gefurchten Schluchten und Täler, durch die sich die von den Hängen herabwälzenden wilden Wassermassen der jungen Ströme ihr Bett graben. Primitive Verkehrswege, die sich die Menschen geschaffen haben, führen durch die Einöden dieser unendlichen Felsenwüsten. Sie winden sich in schmalen Pfaden gleich Wildwechseln an den Felswänden empor, führen über graue, einsame Geröllhalden, klimmen an jäh hinabstürzenden Abgründen empor und überqueren die reißenden Bergströme und Schluchten, über die sich die kühnen, wetterharten Gebirgler an primitiven Holz- und Seilbrücken hinüberschwingen. Die Stromtäler, Joche und Pässe benutzend, wandern die Menschen der Berge nach Beendigung der Monsunstürme aus den Grenzbezirken, die weit im Hochgebirge liegen, herab in die fruchtbaren, milden Täler, um dort mit den Völkern in den von üppiger Fruchtbarkeit erfüllten Vorgebirgen und Flußebenen Tauschhandel zu treiben.
Im mittleren und östlichen Himalaja ist der mongolisch-tibetanische Rassentyp der Ureinwohner vorherrschend, während westlich von Nepal und in Kaschmir die indo-arische, vom asiatischen Westen eingewanderte Rasse beheimatet ist. Durch die engen Pässe des Pamir wanderten einst jene Völkerfluten, die Indien mit ihren Massen überschwemmten. Selbst die wehrhafte Mauer des Hindukusch vermochte die Wogen dieses gewaltigen Ansturms der Eindringlinge nicht zu dämmen. In endlosen Zügen strömten die Völker und drängten die Heere der Eroberer aus dem Westen ungehindert durch die Pforten des »Daches der Welt« in das Land der Verheißung. Doch auch die geistigen Strömungen des Westens fanden durch jene Tore ihren Eingang und wirkten, von den Menschen getragen, befruchtend auf die Urstämme des gewaltigen, indischen Kontinents. Fast ein Jahrtausend später, nachdem Alexanders Heere das Bollwerk des Pamirs nahmen, um auf dem Indus und Hydaspes der Alten, dem Chilam, nach Indien einzudringen, wälzten sich die zermalmenden Wogen des Islam unter Mohammed Gasni denselben Weg und gaben mit ihrem machtvollen Eindringen Indiens Geschichte einen veränderten Lauf. Während das zentrale Gebiet des Himalaja durch seinen unbezwingbaren Wall Indien gegen die Invasionen nördlicher Völker schützte, blieben die nordwestlichen Bergketten bis auf die heutige Zeit die gefahrvollsten Einbruchstellen des Landes. Als der britische Leu seine Ländermarken bis zu jenen historischen Grenzgebieten erweiterte, fand er an diesen sturmumbrandeten Klippen die verwundbarste Stelle seines mächtigen indischen Kolonialreiches. Unaufhörlich bedroht die zweideutige Haltung nachbarlicher Grenzstaaten das verhängnisvolle Einfallstor Indiens. Aufrührerische Stämme und Überfälle auf die friedliche Bevölkerung halten die Garnisonen des nordwestlichen Indien in ständigem Atem, und mit Sorgen und Zweifel blickt man hinüber nach dem Westen, an dessen wetterumwölktem Himmel sich wie eine gespenstische Erscheinung das rote Haupt des zwiespältigen, russischen Kolosses erhebt.
Doch im Norden, in den Grenzgebieten des mittleren Himalaja, herrscht im Schutze der glänzenden Firnenwelt, des gewaltigsten Grenzwalles der Erde, weltlicher Friede und auch die geistigen Gegensätze und religiösen Strömungen, welche die Rassen und Völker jener Gebiete trennen, haben an der unüberwindlichen Grenze, die eine fürsorgliche Natur den Menschen gab, ihr Ende erreicht. Nur die elementaren Gewalten der unbezähmbaren Natur sind es, die hier noch einen ewig wechselvollen Kampf kämpfen, dessen Tosen und Brausen während der Zeit der Nordweststürme mit unerhörter Gewalt an dem grauen, unerschütterbaren Reich der Bergriesen rüttelt. Dichte, regenschwangere Wolkenmeere jagen vom Arabischen Meer herüber und fluten wie eine sturmgepeitschte Brandung gegen die Riffe des Himalaja. In weiser Voraussicht hat dort die Natur einen Wall errichtet, dessen steile Hänge den Segen des Himmels bannen und seine Wasser in ungeheuren Massen zu Tal senden. Kraftvoll rüttelt der Orkan an den wehrhaft blickenden, schneeumwirbelten Häuptern der Bergriesen, und es ist, als ob sich die Götter auf ihren Wolkenthronen erheben, um die Welt der in der Tiefe wohnenden Menschen zu vernichten.
Während ich im Paradies des Nordens, in Kaschmir und in Srinagar, dem Berg-Venedig Indiens, den herrlichsten Frühling in den nordwestlichen Ausläufern des Gebirges erlebte, fand ich einige Monate später weiter östlich, am Oberlauf des Ganges, eine brodelnde Hölle in dem vom Monsun aufgerührten Hexenkessel des Himalaja. Wie die wirbelnden Dünste im feurigen Schlunde der Erde wogten die Nebel geisterhaft über den Abgründen, und in den Tiefen schwollen die brausenden Wasser der zu elementarer Kraft erwachten Bergströme. Meere regenschwangerer Wolken winden sich wie Ungeheuer durch die tiefgefurchten Täler. Regengüsse, sintflutartige Wolkenbrüche, die herniederrauschen, ersticken die Atmosphäre und stürzen in sprühenden Kaskaden und reißenden Wildbächen an den Felsenhängen herab. Donnernd prasseln Steinschläge und Gerölllawinen von den wetterzermürbten Wänden des Felsgebirges hernieder. Im Strom wälzen sich Baumleichen und Trümmer der vom Unwetter zersplitterten Bergvegetation zu Tal. Hoch oben im Gebirge wirbeln Schneestürme und eisige Winde um die Häupter der Riesen. Doch dieses Verderben, das im Gebirge wie der Kampf unsichtbarer Götterheere wütet, bringt den erstorbenen Ebenen Indiens die Erlösung und Fruchtbarkeit, nach der die Sehnsucht der Menschheit seit langer Zeit brennt. Dankbar wenden sich die Blicke und Gedanken nach Norden zu jener segenspendenden Welt der Gottheiten, deren Gunst und Wille das Leben der Menschen nicht nur allein mit Vernichtung schlägt, sondern es auch mit Wohltaten und Segen zu erfüllen vermag.
Je weiter man im Norden Indiens nach den östlichen Himalajagebieten kommt, desto größer werden die Mengen der Niederschläge, die in der nordöstlichen Länderecke, in Assam, ihren Höhepunkt erreichen. Die dort gemessenen Regenmengen erlangen oft jährlich einen Durchschnitt von 13-15 000 mm. Denn in dem spitzen Winkel, den die Bergkette bei der Wendung nach Süden in Oberbirma bildet, sammeln sich die wallenden, grauen Massen, um an den steilen Hängen dieser mächtigen Schleuse niederzubersten. Nur spärlichen Resten der feuchten Nebelmeere, die der Passat herüberführt, gelingt der Durchbruch zum nördlichen Vorwerk des Transhimalaja und dem Hochland von Tibet. Auch im nordwestlichen Teil des Gebirges sind die Regen des Monsun geringer, was sich auch in der verminderten und völlig andersgearteten Vegetation, die vielfach an die dunkle, schwermütige Welt unserer nordischen Gebirgsflora erinnert, äußert. Mit reicher und geradezu paradiesischer Üppigkeit an strotzendem Pflanzen- und Baumwuchs sind dagegen die östlichen Gebirgsgebiete gesegnet. Dort klettern die Ausläufer einer wechselvollen und üppig wuchernden Vegetation, die Wälder herrlicher Himalajazedern und -tannen, duftender Rhododendren, Fichten und Kiefern und eine unerschöpflich reiche alpine Kleinflora zu einer Höhe von 4000 m empor, um sich allmählich in den bescheideneren Beständen anspruchsloser Stauden und Sträucher, die bis zur Schneegrenze hinaufreichen, zu verlieren. Eine bunte und unglaublich vielfältige Pflanzenwelt, ein traumhaftes Reich der Blumen, ein Dorado des Botanikers bedeckt die Täler und Hänge der Gebirgsbasis.
Zum dritten- und letztenmal unternahm ich, von Benares, den Ufern des heiligen Stromes kommend, einen Vorstoß zum Himalaja. Nachdem ich seine von wildromantischer Urwüchsigkeit erfüllten Reize im hohen Nordwesten, in den Bergen von Kaschmir, in Simla, im Tale des Satledj und am Oberlauf des Ganges kennengelernt hatte, zog es mich in die Nähe dieses von der Gloriole der Heiligkeit und einer magischen Pracht der Natur umstrahlten »Gipfels der Welt«, dem Mount Everest. Von Darjeeling, einer englischen Gebirgsstation in den Vorbergen des Himalaja, wollte ich einen Bück hinüberwerfen auf die von dem Glanze der Hochgebirgswelt umgebene Gruppe des gewaltigsten aller Himalajaberge.
Aus der flachen, monotonen, im Brande der indischen Sonne erstickten Stromebene des Ganges führt der Weg zu den Terrassen des Vorgebirges durch die sumpfigen Niederungen des Terai. Es ist ein schmaler Sumpfurwaldgürtel, der sich nahezu in der ganzen Länge des Hauptgebirgsmassivs am Fuße der Berge entlangzieht. Das Terai ist eines der wildesten und interessantesten Urwaldgebiete Indiens. Es ist der Dschungel Indiens. In den östlichen Gebirgsvorländern wuchert das Terai am üppigsten. Ich sah es auch im Nordwesten und bewunderte die dämonische Gewalt seiner bezwingenden Urwüchsigkeit. Selten fand ich während meiner Wanderungen in den Urwäldern der südlichen, zentralen und nördlichen Staaten eine von dem Zauber der Ursprünglichkeit so sehr erfüllte Wildnis, wie sie der Sumpfurwald des Himalajavorlandes aufzuweisen hat.
Bodenlos scheint der Abgrund dieser morastigen Wälder. Wie jene über seinem Dickicht ansteigenden Höhen und schneebedeckten Gipfel von dem reinen Äther einer klaren und würzigen Atmosphäre erfüllt sind, so schwebt über diesen Urwäldern des Terai der giftige Hauch des schleichenden Fiebers. Wenn die monatelangen Regengüsse des Monsuns ihre Fluten über dem Wipfelmeer dieser Wildnis ausschütten, so wird sie zur Hölle für den Menschen. Ja, selbst manche Tiere flüchten dann vor der stickigen Atmosphäre und den Schwärmen giftigen Gezüchts, das aus den Sümpfen der Wälder aufsteigt. Das Terai ist von Menschen fast unbewohnt. Doch bildet es um so mehr die schützende Heimat einer unendlich mannigfaltigen, tropischen Tierwelt, die sich in den undurchdringlichen Dickichten der Gras- und Baumdschungeln versteckt hält. An jagdbarem und wehrhaftem Großwild beherbergt das Terai einen reichen Wildstand, der fast alle Tiergattungen und ihre Abarten enthält, die man in den übrigen Dschungelgebieten Indiens antrifft. Außer Elefant, Rhinozeros und Büffel ist besonders der König der indischen Wälder, der Tiger, und sein gefleckter Artgenosse, der Panther, im Terai sehr zahlreich; und brütete der dunkle, giftige Schoß des Sumpfdschungels nicht ewig das schleichende Gespenst tödlichen Fiebers, es wäre wohl das Paradies des Großwildjägers in Indien. Große Affenherden, die oft während der Regenzeit nach dem höher gelegenen Norden ziehen, und eine exotische Vogelwelt belebt die turmhohen Baumkronen der eng ineinander verschlungenen Urwaldriesen.
Ein schmaler Hohlweg windet sich durch das Terai und führt an steilen Hängen hinauf in das Bergvorland des Himalaja. An einem herrlichen Herbstabend, kurz nach Beendigung der Regenzeit, erreiche ich Darjeeling, die englische Bergstation am Fuße der östlichen Gebirgskette. Herrlicher Duft der Blütenmeere und der ozonreiche Atem der Wälder schwebt über den Höhen und Tälern des Vorgebirges. Nach einer interessanten Fahrt, die an steilen Abgründen und hohen Felsklippen vorbeiführt, erreiche ich die 2700 m hoch gelegene Bergstation. Wie eine Halbinsel schiebt sich das Vorland in das Dunstmeer der unter uns versunkenen Täler von Sikkim. Ein großer Teil der Europäerwelt des nördlichen Indien verlebt auf diesen von einem wundervollen und milden Klima erfüllten Höhen den indischen Sommer. Aus schattigen Hainen mächtiger Deodarzedern und den dunkeln Wäldern von duftenden Fichten und Rhododendren, die hier in diesem Paradies der Erde eine erstaunliche Höhe erreichen, blinken die hellen Giebelchen und farbigen Dächer der Bungalows. Ein Blick herab von den südlichen Anhöhen Darjeelings auf die terrassenförmig ansteigende Kolonie und das in der Ferne, in unermeßliche Weite sich verlierende weiße Wunder der Berge ist von bezaubernden Reizen und unvergeßlichen Eindrücken begleitet. Allmählich steigert sich die Skala schwebender Linien und Farben einer unendlichen Perspektive, über geheimnisvolle Länder und Täler hingleitend, zu jenem Phänomen der Natur, das in dem Menschen den Gedanken und den Glauben an das Göttliche erweckt. Ungehindert schweift der Blick hinüber zu der vom schimmernden Licht der Sonne verklärten majestätischen Welt der gewaltigsten Gipfel und Firne der Erde. Die leise wallenden Dunstschleier schweben gespenstisch über den schattenhaften Umrissen des düsteren Vorgebirges, das allmählich in einem grauen Nebelland versinkt.
Leuchtend und klar ist der Tag, der mir diesen überwältigenden Anblick einer traumhaft feierlichen Welt beschert, und wie gebannt ruht das Auge auf diesem Wunder göttlicher Größe und Erhabenheit. Greifbar nahe, und doch in den verlorenen Raum unendlicher Fernen gerückt, hegen die gigantischen Bergriesen, zu einer weiß schimmernden, endlosen Kette verbunden, vor meinen Bücken. Ein unnahbares, sagenhaftes Reich gewaltigster Erdenschöpfung, der Olymp, dieser menschlicher Kraft und Willen trotzenden Götterwelt der Berge, zu deren ätherumflossenen Regionen sich die ehrfurchtsvollen Bücke und Gedanken vieler hundert Millionen gläubiger Menschen erheben. Von rötlich-goldenem Widerschein ist das Licht der Morgensonne, das sich auf den schimmernden Firnen bricht, während die westlichen Grate und steilen Stürze von purpurnen Schatten begleitet in die verschleierten Abgründe unsichtbarer Tiefen hinabgleiten. Hinter dieser geisterhaften Bergwelt steigt die perlmutterne Folie blendenden Himmelslichts empor, und langsam steigert sich die durchsichtige Färbung des Äthers im Zenit zum leuchtenden Blau einer reinen atmosphärischen Pracht. Weltenfern, verklärt steigt dort drüben über den wallenden Nebeln der Gipfel des »Tschomo-lungma« (Mount Everest 8880 m), »die Göttinmutter des Landes«, umgeben von den stummen Trabanten, dem Gaurisankar im Westen, Makalu und Kantschinschinga im Osten, vor meinen Augen empor. Es ist das dämonische Reich der Götter, das mit seinem faszinierenden Zauber auch den westlichen Menschen unserer Zeit in seinen bezwingenden Bann lockt und ihn zum Kampf, zur Eroberung und Enthüllung seiner mystischen Geheimnisse herausfordert.
Am Fuße der Berge, im Bereich der gewaltigen Bergtitanen, in Darjeeling, rüstet sich wieder eine Gruppe dieser kühnen Männer, die sich in jahrelangem Kampf die Bresche zum Gipfel der Welt schlugen. Doch noch hat des Menschen Fuß die höchste Spitze des Erdenballs nicht erreicht. Mit heroischem Mut, von den Augen der gesamten Welt gefolgt, versucht man von neuem den Ansturm an den wehrhaften Hängen des Königs der Berge, dem in erhabener Ruhe und überirdischem Glanz prangenden göttlichen Beschützer des großen indischen Reiches und seines gläubigen Volkes.