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Brausend fährt der Expreßzug der South-Indian-Railway in die riesige Bahnhofshalle der Zentralstation von Madras ein. Eine Herde halbnackter tamulischer Gepäckträger und Lastenschlepper umschwärmen schreiend die übermüdet aussehenden Passagiere, die aus den glühenden Ebenen des Südens und den ätherumflossenen westlichen Bergen in die Hölle von Madras zurückkehren. Auch ich bin einer dieser Ankömmlinge, der die wundervolle Atmosphäre der Blauen Berge mit der sengenden Sommerhitze der indischen Ebenen vertauschen muß. Denn Madras war mein nächstes Ziel, und nun bin ich hier angekommen in der stillen Hoffnung, die Annehmlichkeiten der Großstadt und die würzige Luft des Ozeans mögen mich das Heimweh nach den herrlichen Bergen mit ihren Reizen und klimatischen Annehmlichkeiten vergessen lassen. Doch ich fand keines von beiden, weder die Vorzüge der Großstadt noch die kühlenden Lüfte des in bleierner Schwere liegenden Ozeans, der in trunkener Verschlafenheit den Strand der Ostküste bespülte.
Verzehrend liegt die Glut über den Dächern des Häusermeeres. Der Himmel ist von einer dunsthaften Farblosigkeit. Wie eine Fata Morgana schweben oft leichte, weiße Wölkchen über dem Horizont, welche die Hoffnung auf Regen und Kühlung erwecken. Das Klima ist zur Zeit meiner Ankunft geradezu verheerend. Vier Monate furchtbarer Lohe sind vergangen, seit der letzte Regentropfen den Boden benetzt hat. Die Reste der verbrannten Vegetation sind im völligen Hinsterben begriffen, und nur noch die zähen Palmenwälder, die draußen am Strande des Meeres zwischen den stinkenden Sümpfen des Coums (Binnenmeere) liegen, haben grüne Wipfel. Überall, wohin das geblendete Auge blickt, ist Leblosigkeit und graue Monotonie. Eine Schicht körnigen, trockenen Staubes bedeckt, wie der Hauch glühender vulkanischer Asche, die ganze Stadt. In den Straßen und zwischen den Häuservierteln züngelt der Brodem flimmernder Hitze, wie ein Meer farbloser Flammen über der Erde. Manche Stadtviertel sind Tag und Nacht wie ausgestorben. Europäer wagen sich erst um die Stunde der Abenddämmerung aus ihren Bungalows, in denen die ewig herabgelassenen Jalousien kühle Dämmerung verbreiten und die Punkahs und Ventilatoren künstlichen Wind fächeln.
Am Abend drängt sich die Welt des Westens hinaus an die »Marina«, um sich an der Brise, die leise und zaghaft vom Südosten über den trägen Ozean herüberweht, zu kühlen. Es ist die einzige Stunde der Erholung, die man nicht gerne missen möchte. Denn auch die sternendurchglühten grünblauen Nächte liegen drückend und schwül über der Stadt, und die atemraubende Sonnenwärme hockt wie ein Alp zwischen den Mauern der Häuser, um den gepeinigten und erschöpften Menschen die Ruhe der Nacht zu rauben.
Madras ist die Hauptstadt und der Sitz des Gouverneurs der gleichnamigen Präsidentschaft. Es ist die drittgrößte Stadt Indiens mit fünfhundertzwanzigtausend Einwohnern, zweitgrößter, bedeutender Hafen an der Ostküste und hat lebhaften Handel und stets wachsende Industrien. Madras hat, wie fast alle großen Städte des Ostens, ein Europäer- und Eingeborenenviertel, die Black Town, die meist nur von der drawidischen Rasse bewohnt ist. Große, moderne, zum Teil recht langweilige Gebäude, die meist dem Sitz der Behörde dienen, ragen im Zentrum der Stadt empor und geben ihr ein repräsentatives Gepräge. Außer einigen kleineren Hindutempeln besitzt Madras neben den Reizen einer südlichen Landschaft nichts, was ihm einen besonderen anziehenden Charakter verleiht. In den Basaren der Eingeborenen herrscht ein lebhaftes Treiben, das dem Wirrwarr in einem aufgestörten Bienenstock gleicht. Das Wesen des lauten, gestikulierenden Tamulen und Telegus ist dort vorherrschend, und leider ist auch fast nichts in Madras unberührt von jener zweifelhaften Halbkultur, in der man eine verhängnisvolle Mischung von Ost und West beobachten kann. Baufällige kleine Häuschen und Hütten lehnen sich in der schwarzen Stadt in endlosen Reihen aneinander und bilden langweilige Straßenzüge und schmutzige Gäßchen, durch die sich ein fast lebensgefährliches Gedränge schiebt. Es ist dieses Leben, wie man es in den dichtgedrängten, orientalischen Städten bis zur Sattheit genießen kann.
Im Basar, wo bis spät in die schwülen Nächte ein großer Verkehr herrscht, drängen sich endlose Reihen von offenen Verkaufsbuden aneinander. Wolken von Staub und Schwärme von Mücken schweben ewig über dem wallenden Getriebe dieser Viertel. Besonders vor den Buden der Händler bewegt sich ein bunter Strom Menschen. Asthmatisch geschwollene, von Schweiß und Fett triefende eingeborene Händler hocken phlegmatisch vor den Haufen von Lebensmitteln und landesüblichen Produkten, die sie in dunklen, rauchigen Löchern aufgestapelt haben. Das Leben der Menschen zieht gleich einem schillernden, farbigen Bande durch die engen Straßen und Gassen. Zermarterte Yogis, Hungergestalten und Lungerer, Menschen aller Rassen in tausendfältigen Gewändern steigern das lebendige Bild zu einer malerischen Szene. Mitten in der Stadt liegt der Tempel von Mylapuram, der von Gläubigen und Pilgrimen belagert ist.
In der Nähe des Heiligtums befindet sich ein von Lotos und grünen Schlinggewächsen überwucherter Tempelteich, zu dessen Wasser breite Freitreppen hinabführen. Golden liegt die Abendsonne auf der warmen, dunstenden Stadt des Tempelviertels. Auf den Treppen des heiligen Teiches wimmelt es von nackten, braunen Gestalten. Sie alle nehmen sich Zeit, um in aller Beschaulichkeit die alltäglichen, rituellen Waschungen ihres Körpers vorzunehmen. Frauen baden strampelnde, nackte Kinder und peitschen die Wäsche auf den Steinen und Plattformen der Treppe. Profanie und ehrfürchtige Religiosität wohnen hier eng nebeneinander. Es ist dasselbe Bild, wie ich es in den großen Tempelstädten, in den Höfen der Tempel und auf den Treppen der Tempelteiche so oft gesehen habe und dessen lebhafte, malerische Reize mein Auge stets wieder fesseln. Drüben liegt der Tempel mit seiner barocken Gopuram wie eine scharf geschnittene Silhouette vor dem blendend leuchtenden Abendhimmel. Eine große Menschenmasse strömt immerfort durch die Tore in den Tempelhof hinein. Lange Reihen von Bettlern, Krüppeln und Kranken belagern die Mauern, wo die Gläubigen vorüberziehen. Dichte Krähenschwärme und Scharen von riesigen Fledermäusen, die von ihren Schlafbäumen, welche weit draußen vor der Stadt liegen, über das Häusermeer hereinziehen, beleben die Monotonie des wolkenlosen, glasigen Himmels. Während der Regenzeit stehen diese von fußtiefem Staub bedeckten Straßen knietief unter Wasser. Nun liegt alles in furchtbarer Trockenheit, und die Menschen und Tiere, die zwischen den engen Mauern und dem Häusergewirr der Stadt wohnen, seufzen unter der drückenden Last dieser brütenden Hitze und Schwülheit.
Immer, wenn ich am Morgen und abends die Viertel der Eingeborenen besuche, begegne ich diesen merkwürdigen Männern mit den wagerecht über den Schultern hängenden, elastischen Bambusstäben, an denen zu beiden Seiten an langen Baststricken ein großer, runder Tontopf herabhängt. In gleichmäßigem Trab bahnen sie sich ihren Weg durch das Getümmel der Straße. Der Rhythmus ihres leichten Ganges, der von der auf und nieder wippenden Last ihres Traggestells begünstigt wird, ist ewig derselbe. Sie kennen keinen Aufenthalt, schauen nicht rechts noch links, denn sie müssen sich beeilen, ihre Lasten an Ort und Stelle zu bringen. Diese beweglich-schlanken Menschen, die mich anfänglich wie große, elastisch sich bewegende, marionettenhafte Spielzeuge dünkten, sind die Toddymänner von Madras. Sie bilden eine eigene Gilde, und ich verglich sie oft mit ihren Rassengenossen, den Hochseefischern der Ostküste, mit denen sie in der gut entwickelten Form ihres Körpers und ihren traditionellen Gepflogenheiten Ähnlichkeit haben.
In langen Zügen bewegen sich die Kolonnen der Toddymänner am Abend hinaus vor die Stadt zu den Palmenhainen, wo sie den Bäumen den wohlschmeckenden süßen Saft ihrer Stämme abzapfen. Mit Hilfe einer Seilschlinge, die ihren Leib umgürtet, klettern sie mit der Behendigkeit einer Meerkatze an den schlanken, struppigen Stämmen der Palmen empor und schlagen mit der langen Messerklinge an den saftreichen Dolden der Bäume die Wunde, aus welcher der Lebenssaft der Palme tritt. Dann wird das große, runde Tongefäß unterhalb der Öffnung befestigt, und langsam quillt der trübe, graugelbe Saft aus dem Mark des Stammes. Doch auf die Füllung des Topfes können die Männer nicht warten, und wieder beginnt der Trab nach der Stadt, doch dieses Mal ohne die Krüge, die nun zu Hunderten wie Geschwülste draußen an den Stämmen unter den schattigen Kronen der Palmen hängen. Schon in der frühen, grauen Morgendämmerung sind jedoch die Scharen der Toddymänner wieder unterwegs zu ihren Töpfen, die sich inzwischen bis zum Rande mit dem schäumenden Saft gefüllt haben. Noch quillen die letzten Tropfen wie Tränen am Stamme herab. Die Feinschmecker der Insektenwelt, Schwärme von Bienen und Wespen, die summend unter den Wedeln der Palmen schwirren und die ewig wandernden Heere der Ameisen laben sich an dem langsam versiegenden, süßen Quell, der in hellen Perlen aus der klaffenden Wunde des Baumes sickert.
Draußen unter dem Schatten des leise im Morgenwind sich wiegenden Palmenwaldes schlürfe ich den Saft aus hohler Hand, in die mir der Toddymann lächelnd den Wein aus dem gefüllten Bauche seines riesigen Tongefäßes fließen läßt. Es ist ein süßlich, aromatisches Getränk, welches dem Geschmack unseres frisch gekelterten Obstweines gleicht. Nachdem die Krüge nun an den langen Schnüren des Drahtgestelles hängen, setzt sich die Schar der Männer in Bewegung, und zwischen den engen Pfaden, die wie Hohlwege durch den Palmenwald führen, zieht die Reihe der Toddyträger der erwachenden Stadt entgegen. In schwankem Schaukeln tanzen die runden Krüge, die an der Wage hängen, elastisch auf und nieder und begleiten mit ihrem Rhythmus die Melodien, welche die Männer zu dem gleichmäßigen Takt ihres wiegenden Trabes summen.
Noch liegen die Strahlen der erwachenden Morgensonne in mattem Glanz über der dunstigen Landschaft der Palmenhaine. Schweiß perlt an dem wie Bronze glänzenden Rücken der Träger nieder, und langsam beginnt der schäumende Saft in den Krügen zu gären. Bis die Toddyschenken der Stadt erreicht sind, steht bereits der dicke, weiße Schaum über den Öffnungen der Gefäße. In Ungeduld wartet die Schar der durstigen Männer in den Shops, in deren dämmerigen Ecken sie sich zum Trunke niedergelassen haben, und schon in der Frühe des Morgens beginnen die Toddygelage, die bis in den lauen Abend und tief in die Nacht dauern. Alles drängt sich um den begehrten süßen Saft, der in der Wärme des Tages rasch vergärt und die Trinker mit dem immer stärker zunehmenden Gehalt berauschenden Geistes packt. Am Abend, wenn der prickelnde Wein langsam zur Neige geht und die Fässer auf das klopfende Befragen des Wirtes eine hohle Antwort geben, ist der Zuspruch in den Shops am stärksten. Denn die narkotisierende Wirkung des Saftes, der nun noch mehr als den ewig brennenden Durst der Menschen löschen soll, übt einen faszinierenden Reiz auf den Eingeborenen aus. Schwankende, singende und scheltende Gestalten lösen sich aus dem geheimnisvollen Dunkel der Schenken und torkeln durch das laute Gewühl der nächtlichen Straßen. Es sind die Männer des täglichen Stammtisches in den Toddyshops.
Längst haben die Toddymänner wieder ihren wiegenden Marsch zu den Palmenhainen angetreten, und draußen in den Wäldern, die von dem zirpenden Leben der nächtlichen Zikaden tönen, füllen sich von neuem diese Krüge mit dem Wein, der wie ein nie versiegender Quell aus dem Leben des Baumes rinnt. Wenn sich die Zeit der religiösen und weltlichen Feste nähert, so steigert sich der Toddykonsum bei den Händlern und in den Schenken ins Märchenhafte. Die Schar der Toddymänner vermehrt sich um das vielfache ihrer Zahl. Ein ganzes Heer von ihnen zieht dann eilig dort hinaus zu den Palmen, und untertags wimmeln Pfade und Wege, die zu den Wäldern führen, von den wippenden Kolonnen der Weinträger. Tausende von schaumbedeckten Krügen wandern in die Stadt und füllen die Kübel und Fässer der Schenken, deren Weinvorrat dann nie auf die Neige geht. Und unaufhörlich quillt der Saft aus den Stämmen und Dolden Tausender von lebenstrotzenden Bäumen und sättigt die in geräuschvoller Begeisterung befindliche Volksmenge mit dem betäubenden goldgelben Nektar der Palmen.