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Dieselbe encyclopädische Richtung des Zeitgeistes, aus welcher das Werk des Martianus Capella entsprungen ist, findet ihre beiden merkwürdigsten Repräsentanten am Ende dieser 486 Epoche in zwei bedeutenden Männern, welche, Hauptlehrer des beginnenden Mittelalters, ihren mächtigen Einfluss aber auf Jahrhunderte hin erstreckten, Boëthius Indem ich Useners Vorgang folge (s. Anecd. Hold., S. 43 f.), kehre ich auch zu der früher üblichen Schreibung des Namens mit h zurück, für sie sprechen nicht nur auch alte Zeugnisse, wie sie für die andre allerdings sich mehr finden, sondern auch die Etymologie, und endlich die Erwägung, dass es sich schwerer denken lässt, es sei das h im Inlaut des Namens willkürlich hinzugefügt, als weggelassen worden, zumal hier die Aussprache der Ungebildeten in Betracht kommt. und Cassiodorius: einen Januskopf bildet dieses Dioskurenpaar, von welchem des einen Weltanschauung dem untergehenden Alterthum ebenso zugewendet ist, als die des andern dem aufsteigenden christlichen Mittelalter, beide berufen, wenn auch in verschiedener Weise, die wissenschaftliche Kultur einer grossen Vergangenheit, wenigstens zu einem guten Theile, vor den herandrohenden Stürmen zu bergen, welche die antike Civilisation vollends zerstörten.
Anicius Manlius Severinus Boëthius A. M. T. S. Boëtii De institutione arithmetica libri II, De institutione musica libri V; accedit Geometria quae fertur Boëtii. E libr. mss. ed. G. Friedlein. Leipzig 1867. – Boëtii Commentarii in librum Aristotelis Περὶ ἑρμηνείας, rec. Meiser. Leipzig 1877 f. – De consolatione philosophiae libri V ad optim. libr. mss. nondum collator. fid. recens. et prolegg. instr. Th. Obbarius. Jena 1843. – * Boëtii Philosophiae consolationis libri V accedunt eiusdem atque incertorum opusc. sacra, recens. R. Peiper. Leipzig 1871. (Prolegg.) – – Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande. Bd. I, S. 679 ff. – Stahr, Aristoteles bei den Römern. Leipzig 1834. – O. Paul, Boëtius und die griechische Harmonik. Leipzig 1872. – Ritter, Geschichte der Philos. Bd. 6, S. 580 ff. – Zeller, Philos. der Griechen. Bd. 3, 2. Abth., S. 776 ff. – Nitzsch, Das System des Boëthius und die ihm zugeschriebenen theologischen Schriften. Berlin 1860. – Usener, Anecdoton Holderi (s. oben S. 439, Anm. 2) S. 37 ff. – Hildebrand, Boëthius und seine Stellung zum Christentume. Regensburg 1885., welcher aus der vornehmen, schon lange christlichen Familie der Anicier stammte, wurde zu Rom um 480 geboren. Frühe verwaist, erhielt er doch eine vortreffliche Ausbildung, sodass er namentlich auch die griechische Wissenschaft in einem seltenen Grade sich aneignete. Aber auch dieser ›letzte Römer‹ war kein blosser Stubengelehrte. Mit der Tochter eines Consuls, des Q. Aurelius Memmius Symmachus S. über ihn Usener, a. a. O. S. 17 ff., namentlich S. 26 ff., vermählt, erlangte er selbst schon frühe, 510 das Consulat, indem er der besondern Gunst des Theoderich 487 sich erfreute, und mit den angesehensten Männern seiner Zeit, wie einem Cassiodor und Ennodius, in naher Beziehung stand. Seine ausserordentliche universelle Gelehrsamkeit wie seine Beredsamkeit, die die Bewunderung der Zeitgenossen erregten, empfahlen ihn dem Gothenkönig, und um so mehr, als Boëthius' Wissen auch praktisch sich verwerthen liess, wie er denn mit Ordnung des Münzwesens Cassiod. Var. I, ep. 10. – S. über die dunkle Stelle auch Usener, a. a. O. S. 38. betraut worden zu sein scheint, und ein Mal eine Wasser- und Sonnenuhr, die Theoderich dem Burgunderkönig schenkte, besorgen, ein ander Mal den besten Kitharöden, den derselbe dem König der Franken sandte, auswählen musste. l. l. I, ep. 45, II, ep. 40. Aber trotz der königlichen Gunst gerieth Boëthius in den Verdacht der Theilnahme an einem mit Byzanz angezettelten Complot, als er den dieses Verbrechens beschuldigten Senator Albinus mit so kühner Beredsamkeit vertheidigte, dass er herausfordernd erklärte, wenn dieser schuldig sei, so sei er es selbst auch, wie der ganze Senat. Persönliche Feinde, die ihn anzeigten, fügten noch die Verdächtigung der Magie hinzu. – – ob studium propensius in senatum morti proscriptionique damnamur: o meritos de simili crimine neminem posse convinci! cuius dignitatem reatus ipsi etiam, qui detulere, viderunt, quam uti alicuius sceleris ammixtione fuscarent, ob ambitum dignitatis sacrilegio me conscientiam polluisse mentiti sunt. So sagt Boëtius selbst in der Consol. phil. I, pr. 4. Dass sacrilegium hier in jenem Sinne zu nehmen ist, zeigt auch Nitzsch, Nachträge; ihm entging aber, dass so allein die (auch in der folgenden Analyse der Consol. von mir angedeutete) Stelle I, pr. 3 sich erklärt, wo die Philosophie sagt: An te, alumne, desererem nec sarcinam quum mei nominis invidia sustulisti, communicato tecum labore partirer? Die mathematischen, und speciell astronomischen Studien, sowie die Kenntnisse in der Mechanik machten ja auch später im Mittelalter der Zauberei verdächtig, aber auch schon encyclopädisches Wissen überhaupt. In Untersuchung gezogen, wurde er von demselben Senat, dessen Partei er vertreten, aufgeopfert. S. Consol. phil. l. l. Vgl. Dahn, Könige der Germ. II, S. 172 ff. Durch ihn zum Tode verurtheilt, wurde er in das Gefängniss zu Pavia geworfen und später 525 Nach Usener, a. a. O. S. 74, der den Kavennatischen Fasten folgt, 524. unter Martern hingerichtet. Die Sage, welche seinen Tod mit der Verfolgung des Katholicismus in der Person des Papstes Johannes in Verbindung setzte, der von Theoderich eingekerkert, nicht lange nach Boëthius im 488 Gefängnisse starb, machte ihn zum christlichen Märtyrer, zunächst in Oberitalien, wo er denn auch, und namentlich in Pavia selbst, als solcher verehrt wurde. S. darüber Nitzsch, S. 13 ff. – So wird er auch von Ekkehart IV. von St. Gallen in seinen Versua de Boëtio als Märtyrer bezeichnet. S. das Gedicht in der Zeitschr. f. deutsch. Alterth. N. F. Bd. 2, S. 72. Um so eher wurde schon im frühen Mittelalter Boëthius und sein Schicksal zum Gegenstande der Dichtung.
Boëthius ist nun in einer doppelten Beziehung von universell-literarhistorischer Wichtigkeit: einmal durch das eifrigste Bemühen, dem er während seines ganzen Lebens oblag, die griechische Wissenschaft, und in der umfassendsten Weise, seinen lateinischen Zeitgenossen zugänglich zu machen, durch Uebersetzungen wie Commentare, ein Bemühen, dem das Mittelalter auf lange Zeit den grössten Theil seiner profanen wissenschaftlichen Kenntnisse verdankte, da diese Werke des Boëthius seine Lehrbücher wurden; dann aber durch das berühmte Originalwerk, das er im Gefängnisse verfasste, eins der gelesensten Bücher des Mittelalters, De consolatione philosophiae . Obgleich dies allein unter den Werken des Boëthius dem Kreise unserer Betrachtung direct angehört, wollen wir doch zuvor in aller Kürze der wichtigsten der andern wegen ihrer indirecten Bedeutung für unsere Darstellung gedenken.
Wie Boëthius selbst in der Einleitung zum zweiten Buch seiner Bearbeitung der Aristotelischen Schrift De interpretatione sagt, hatte er sich zur Lebensaufgabe die Uebersetzung und Erklärung der sämtlichen Werke des Aristoteles, sowie aller Dialoge des Plato gemacht, um darauf noch die Uebereinstimmung ihrer Systeme in den meisten Hauptsachen nachzuweisen. Er hat aber diesen weitschichtigen Plan nur in Betreff der logischen Schriften des Aristoteles ausgeführt; und die Art, wie er dieselben commentirte, ist denn für die ganze Behandlungsweise der Logik im Mittelalter, allerdings nicht zum Vortheil der Wissenschaft, massgebend geworden. Dagegen gebührt ihm andererseits das diese Nachtheile weit überragende Verdienst, durch seine wortgetreuen Uebersetzungen jener Aristotelischen Schriften und ihrer griechischen Commentare, sowie durch seine eignen zwar weitschweifigen, aber auf das leichteste Verständniss berechneten Erklärungen derselben überhaupt das Studium der Logik der nächstfolgenden Zeit möglich gemacht, und auch 489 durch diesen Canal die antike Wissenschaft in das Mittelalter hinübergeleitet zu haben. Die wichtigsten dieser Arbeiten des Boëthius waren seine Commentare sowie Uebersetzung der Isagoge des Porphyrius – eins der Hauptschulbücher des Mittelalters Zuerst verfasste er – wohl als Erstlingsversuch nach Stahrs Meinung, S. 216 – eine Erklärung und Kritik der Bearbeitung dieses Werks durch Victorinus, in zwei Dialogen; dann › Commentariorum in Porphyrium a se translatum libri V‹.; dann der Kategorien und des Buchs De interpretatione , welches er zweimal bearbeitete, einmal für Anfänger und dann für Geübtere. S. die oben angeführte Ausgabe von Meiser. Diese zweite, viel ausführlichere Bearbeitung in sechs Büchern ist die durch Gelehrsamkeit und Scharfsinn bedeutendste Schrift des Boëthius auf diesem Gebiete. S. Stahr, S. 224; Prantl, S. 680. – Von den übrigen seien noch hier erwähnt seine Uebersetzungen der Analytica und der Topica, sowie sein weitläufiger, nur lückenhaft erhaltener Commentar zur Topik des Cicero. Aber auch auf andere erstreckte sich diese wissenschaftliche Thätigkeit: so besitzen wir noch von ihm zwei Bücher De institutione arithmetica , eine Bearbeitung eines Werks des Nicomachus, denn, wie Boëthius selbst in der Widmung an seinen Schwiegervater sagt, hat er sich nicht auf eine blosse Uebersetzung beschränkt; wichtiger sind noch seine fünf Bücher De musica , die, auch auf dem Grund von Werken der Griechen verfasst, die Harmonik derselben auf das Mittelalter fortgepflanzt haben, wie denn die bedeutendsten Lehrer desselben, so ein Hucbald, ihre Theorie in den Grundzügen auf die des Boëthius stützen. So sagt Paul, a. a. O. S. LV f. – Vgl. unten Bd. 3, S. 168 f. Ferner übertrug er auch, wie wir von Cassiodor Var. I, ep. 45, der ebenda überschwenglich diese vielseitige Uebersetzungsthätigkeit des Boëtius preist. wissen, die Geometrie des Euclid, die uns aber nicht in einer dem Boëthius beigelegten Ars geometrica erhalten zu sein scheint. Nach demselben Gewährsmann soll er auch ein Werk des Ptolemaeus über Astronomie und eins des Archimedes über Mechanik übersetzt haben.
Wurde Boëthius durch solche Werke der Lehrmeister des Mittelalters, so gab er ihm dagegen durch das nach seinem Sturze in der Einsamkeit des Gefängnisses verfasste Buch von dem Troste der Philosophie eine genussvolle Anregung zu einem reinen, von kirchlicher Basis freien, speculativen Nachdenken über die dem Menschen wichtigsten Lebensfragen. Dieses Buch, 490 an dem Verstand, Phantasie und Herz zugleich ihren Antheil haben, und das eben deshalb eines allgemein menschlichen Interesses gewiss ist, zeigt uns den Autor in einem ganz andern Lichte, als die oben erwähnten Werke. Sind diese wesentlich bloss Reproductionen, deren trockener und breiter Ausdruck durch den Lehrzweck bestimmt ist, erscheint in ihnen der Verfasser nur als ein Gelehrter von einem encyclopädisch umfassenden Wissen, so tritt uns in dem philosophischen Trostbuch vielmehr ein eigenthümlicher, ästhetisch fein gebildeter Geist entgegen, in dem das gelehrte Studium die Frucht der Lebensweisheit getragen hat. Dies Werk, das fünf Bücher umfasst, ist auch in einer Kunstform, der, wie wir sahen, damals beliebten des Satyricon geschrieben, wozu speciell das Buch des Martianus Capella dem Boëthius die Anregung gegeben hat, wie selbst einzelne Reminiscenzen daraus beweisen. Gedichte in den verschiedensten Metren, allerdings öfters nur von sehr geringem Umfang, wechseln regelmässig mit den Prosaabschnitten, wie auch alle Bücher ausser dem letzten mit einem Gedicht schliessen und eins das Ganze eröffnet. Boëthius wird auch als Verfasser eines Carmen bucolicon bezeichnet in dem Anecd. Holderi, einem Fragment einer sonst unbekannten Schrift Cassiodors. S. Usener, a. a. O. S. 4, Zeile 16 und S. 42. Geben wir zunächst eine kurze Analyse des berühmten Werkes, welches für manche der Nationalliteraturen des Mittelalters von ganz unmittelbarer Bedeutung gewesen ist.
Nachdem Boëthius in einem schönen, ergreifenden elegischen Gedichte seinen Fall beklagt, bei welchem allein noch die Musen sein Trost sind, die ihn auch in den Kerker begleiteten, während der Tod selbst, taub dem Elenden, seine Hülfe versagt, erscheint ihm ein hohes Weib mit ehrwürdigem Antlitz und feurigen, durchdringenden Augen, von frischer Farbe und kräftigem Ansehen, obgleich sie uralt ist: zweifelhafter Natur war ihre Gestalt, denn bald beschränkte sie sich auf das Mass menschlicher Grösse, bald schien das Haupt mit dem Scheitel den Himmel zu berühren, ja in ihn einzudringen, dem Anblick der Menschen sich entziehend. Ihre Gewänder waren von einem dünnen, künstlichen Gewebe eines unzerstörbaren Stoffes, das sie selber gemacht. Im untersten Saume war ein Π, im höchsten ein Θ eingewebt, zwischen welchen Buchstaben (die offenbar die praktische und die theoretische 491 Philosophie bedeuten) nach Art einer Leiter Stufen eingezeichnet erschienen, die von dem untern zu dem höhern Buchstaben führten. Dieses von Alter geschwärzte Kleid hatten gewaltthätige Hände zerrissen, die, wie sie konnten, sich davon Fetzen angeeignet. In der Rechten trug das Weib Bücher, in der Linken ein Scepter. Als sie die Musen erblickt, die das Lager des Kranken umstehen, verjagt sie diese Dirnen, welche nur die Schmerzen mit süssem Gifte nähren, statt sie zu heilen. Und, nachdem sie selbst in einem Liede geklagt, wie der, welcher einst gewohnt war nach dem Himmel zu schauen, den Lauf der Gestirne zu betrachten, jetzt niedergebeugt das Angesicht zur thörichten Erde wende, wischt sie ihm die Augen rein, damit er sie erkenne, welche mit ihrer Milch ihn einst genährt hat. Der Nebel schwindet vor seinen Blicken: die Philosophie ist es, die vor ihm steht. Boëthius fragt sie, was sie hergeführt. Sie ist gekommen, die Last, die er ihretwegen trägt, mit ihm zu theilen. S. oben S. 487, Anm. 3. Die alten Philosophen hätten übrigens ebenso zu leiden gehabt. Sie fordert ihn auf, seinen Schmerz zu entdecken. Er erzählt ihr das Schicksal, das ihn betroffen, den Grund seiner Gefangenschaft (pr. 4), und endet mit einem Klagelied, dass Gott es zulasse, dass die Unschuldigen von den Bösen niedergetreten werden. – Sein Leiden zu heilen, will die Philosophie, da er noch ein Raub der Affecte ist, Schmerz, Zorn, Jammer ihn zerstreuen, zunächst gelindere, erweichende Mittel anwenden; vor allem aber, seinen geistigen Zustand zu erkennen, dem Arzte gleich, an ihn einige Fragen richten. Und zuerst: ob er glaube, dass die Welt durch Zufälle geführt werde, oder irgend eine vernünftige Regierung sie leite. In seiner Antwort erkennt Boëthius die Leitung Gottes an, nur erstrecke sie sich nicht auf den Menschen. Durch weitere Fragen stellt die Philosophie dann fest, dass Boëthius sich selbst nicht kennt, noch das Ziel der Dinge. Hier liege die Ursache seiner Krankheit; in seiner wahren Ansicht von der Regierung der Welt durch Gott aber der Lebensfunke der Gesundheit. Habemus maximum tuae fomitem salutis etc. pr. 6.
Im zweiten Buch schreitet nun die Philosophie zur Anwendung ihrer gelinden Mittel. Durch die Sehnsucht nach dem frühern Glück ( fortuna ) leide er, sagt sie, aber wenn er des 492 wahren Wesens der Fortuna sich erinnere, würde er einsehen, dass er in ihr nichts gutes besessen, noch verloren habe. Nur das Plötzliche des Wechsels habe ihn erschüttert. Wenn er Fortuna's Regiment sich unterwarf, so muss er auch ihrer Sitte gehorchen: finge sie an zu bleiben, so hörte sie auf fors zu sein. – Im Namen der Fortuna redet dann die Philosophie zu ihm, um ihm zu zeigen, dass er keinen Grund der Beschwerde habe, da er nur verloren, was er bloss ihrer Gunst verdankte. Sie zeigt ihm darauf, welches Glück er von seiner Kindheit an gehabt hat, und wie Fortuna jetzt zuerst ihm den Rücken wende. Ja, wenn er nach Zahl und Art das Freudige und Traurige in seinem Leben abschätze, dürfe er nicht leugnen, noch immer glücklich zu sein; denn das Kostbarste unter den Glücksgütern sei ihm noch geblieben, sein Schwiegervater, sein Weib, seine Söhne. Boëthius, der seine Trösterin schon ein paar Mal unterbrochen, wendet hier ein, dass er, so sehr er das Gesagte anerkenne, doch, wie sie sehe, viel von den Zierden ( ornamenta ) des Lebens verloren habe. Die Philosophie führt dagegen dann aus, wie elend das Glück irdischer Dinge sei, wie das wahre Glück nur im Innern des Menschen ruhe; wie Reichthum, Würden und Macht werthlos sind und ihren Namen nicht mit Recht haben, und, was besonders ausführlich begründet wird, wie eitel die Ruhmbegier. Doch, um gerecht gegen Fortuna zu sein, schliesst sie, einmal macht sie sich um den Menschen verdient, wenn die falsche ihr Antlitz enthüllt, wenn sie, dem Menschen feindlich, zu den wahren Gütern ihn zurückführt. So lässt sie dann auch die wahren Freunde erkennen, wie sie Boëthius fand, die ein grösserer Schatz als alle Reichthümer sind. – Ein Lied endet dies Buch, worin die Philosophie die Liebe preist, welche allein die physische wie die ethische Welt zusammenhält, dieselbe, welche den treuen Freunden ihre Gesetze gibt.
Im Beginne des dritten Buchs fühlt sich Boëthius schon so gestärkt, dass er begierig nach den schärfern Heilmitteln verlangt. Die Philosophie will ihn nun zum wahren Glücke führen, indem sie ihn aber zuerst durch das Gegentheil desselben belehrt. Erst muss das Unkraut ausgejätet werden, sagt sie in einem Lied, ehe der Acker bestellt werden kann. Aber sie beginnt hier methodisch: alles Mühen der Menschen hat nur ein einziges Ziel, das der Glückseligkeit; sie ist aber ein Gut, nach dessen Erreichung nichts zu wünschen übrig bleibt, 493 es ist deshalb das höchste, welches alle Güter in sich schliesst. So wird der Begriff der Seligkeit, der beatitudo , festgestellt. Liquet igitur esse beatitudinem statum bonorum omnium congregatione perfectum. l. 3, pr. 2. Die Menschen streben nun auf verschiedenen Wegen nach ihr: so setzen sie das höchste Gut in Reichthum oder in Ehren, in Macht, in Ruhm, in Vergnügen. Wie wenig jedes von ihnen dem Begriff des höchsten Gutes entspricht, wird dann aufgewiesen: die Menschen müssten vielmehr alle zusammen erstreben, in einem höhern, wahren Sinne sie nehmend, wodurch sie alle eins und dasselbe sind. d. h. nur Momente der höchsten Glückseligkeit; wer das eine hat, hat dann auch das andere. Vgl. c. 10 und c. 11 init. – Nachdem also die Form des falschen Glückes gezeigt ist, ruft die Philosophie den ›Vater aller Dinge‹ um Erleuchtung in einem Liede an, um zu beweisen, worin die Vollkommenheit des Glückes beruht. Die Existenz des unvollkommenen Glückes setzt die des vollkommenen voraus: das letztere existirt demnach. Gott selbst aber ist, weil ein Gut, das höchste, also auch, nach dem früher Gesagten, die vollkommene Glückseligkeit. Alles strebt nach ihm schon unbewusst, weil es nach der Einheit als der Bedingung der Selbsterhaltung strebt. So ist er das Ziel aller Dinge. Er lenkt die Welt allein durch das Steuerruder der Güte, indem alles, weil es zu ihm strebt, freiwillig gehorcht. Das Böse aber ist Nichts, denn Gott, der alles vermag, vermag es nicht. Dieser Inhalt des Buches wird am Schluss noch einmal kurz zusammengefasst, und darauf in einem schönen Lied die Fabel von Orpheus und Eurydice erzählt, zur Verwarnung der, welche zum höchsten Lichte den Geist erheben wollen, dass sie nicht zur Finsterniss der Hölle zurückblicken, um nicht das kostbarste Gut zu verlieren.
Das vierte Buch eröffnet Boëthius mit der Erklärung, von dem Vortrag der Philosophie vollkommen überzeugt zu sein, aber gerade das sei die grösste Ursache seines Jammers, dass, während ein guter Lenker der Dinge existire, das Böse sowohl überhaupt sei, als ungestraft hingehe; und, was noch schlimmer, während es herrsche und blühe, die Tugend unbelohnt bleibe, ja von den Gottlosen mit Füssen getreten, an der Stelle ihrer Missethaten bestraft werde. Die Philosophie will hierauf Boëthius vom Gegentheile belehren, welches sich schon aus dem von ihr 494 Dargelegten ergebe, und seinem Geiste den Weg zu seiner göttlichen Heimath, von der er ausging, zeigen. Sie besitzt die Schwingen, welche ihn – wie sie in einem Gesange ausführt – dorthin tragen können. Zuerst beweist sie, dass die Guten immer die Macht haben, die Bösen nicht. Alle nämlich streben nach der Glückseligkeit, dies ist aber das Gute, die Bösen können also nicht erlangen, was sie erstreben. Da das Böse Nichts ist, so vermögen sie auch bloss Nichts. Die Guten dagegen müssen nach dem Obigen glückselig schon sein, weil sie gut sind. Die Glückseligen aber müssen Götter werden, und dies ist ihr Lohn. Sed qui beati sunt, deos esse convenit; est igitur praemium bonorum deos fieri. l. 4, pr. 3 (weil Gott die › beatitudo‹ ist). Andererseits ist für die Bösen, die zum Thier herabsinken, schon ihre Bosheit Strafe, doch treffen sie auch solche noch nach dem Tode (pr. 4). – Boëthius erkennt nun zwar, wie das eigentliche Glück und Elend in dem eigenen Verdienst beruhe, aber, meint er, es gibt doch auch in dem, was der gewöhnliche Sprachgebrauch Glück nennt (der fortuna popularis ) etwas gutes und böses. Auch der Weise will nicht gern verbannt, arm, beschimpft sein, statt des Gegentheils. Warum geht es wenigstens aus dem Gesichtspunkt dieser fortuna popularis den Bösen gut, den Guten schlecht? was um so wunderbarer ist, als Gott die Welt lenkt und nicht der Zufall. Die Philosophie, welche das Schwierige und Verwickelte dieser Materie selbst anerkennt, will sie doch etwas ihm zu erörtern versuchen, indem sie über das Verhältniss des Fatum zu der Vorsehung sich verbreitet, welche beide die göttliche Weltordnung, nur unter verschiedenen Gesichtspunkten, sind. Jedes Geschick ( fortuna ) ist daher gut, das günstige wie das widrige. Zur Gesundheit der Seelen ist bald Glück, bald Unglück nöthig, wie es ihr Arzt, Gott, ihnen verordnet. Und wie dem Tapfern nicht ziemt unwillig zu sein, so oft der Kriegslärm ertönt, ebenso wenig ziemt dies dem Weisen, wenn er zum Kampf mit dem Geschicke berufen wird. In der Hand des Menschen liegt es, wie er dasselbe sich bilden will; denn jedes Geschick, das hart erscheint, straft nur dann, wenn es nicht übt oder bessert.
Das fünfte Buch endlich hebt mit der Frage des Boëthius – welche die Erörterung über die Vorsehung in ihm erweckt hat – an: ob der Zufall etwas überhaupt sei, und was? Die 495 Philosophie antwortet, indem sie hier Aristoteles folgt, der Zufall werde durch das unvorhergesehene und unerwartete Zusammentreffen von Ursachen bewirkt, deren unvermeidliche Verknüpfung ein Werk der Vorsehung ist. Die Philosophie schliesst ihre Deduction mit den Worten: Licet igitur definire casum esse inopinatum, ex confluentibus causis, in his quae ob aliquid geruntur, eventum. Concurrere vero atque confluere causas facit ordo ille inevitabili connexione procedens, qui de providentiae fonte descendens cuncta suis locis temporibusque disponit. l. 5, pr. 1. Hieran schliesst sich sofort eine neue, wichtigere Frage: wie besteht dabei die Freiheit unseres Willens Im unmittelbaren Anschluss an die in der vorigen Anmerkung citirte Stelle heisst es weiter pr. 2: Animadverto, inquam, idque, uti tu dicis, ita esse consentio. Sed in hac haerentium sibi serie causarum estne ulla nostri arbitrii libertas etc.? wie vereint sich diese mit dem Vorauswissen Gottes? Wenn das, was geschieht, nicht nothwendig ist, wie lässt es sich voraussehen? Und bei einer Annahme der Unfreiheit des Willens wäre doch weder Lohn noch Strafe gerechtfertigt. Der Grund der Schwierigkeit liegt, meint die Philosophie, darin, dass die menschliche Vernunft nicht zu der Einfachheit der göttlichen Präscienz sich erheben kann. Die Art des Erkennens hängt nicht von der Natur des Erkannten, sondern von der Fähigkeit des Erkennenden ab (pr. 4). Die Zeitlosigkeit der göttlichen Natur lässt die Intelligenz Gottes alles, das Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige, auf einen Schlag ( uno ictu mentis ) als gegenwärtig sehen. So wenig nun dein Anschauen dem, was du gegenwärtig siehst, irgend eine Nothwendigkeit zufügt, ebenso wenig wird durch jene göttliche Art des Erkennens der freie Wille des Menschen beschränkt. Gott weiss nicht sowohl die Zukunft voraus, als er vielmehr die nie aufhörende Gegenwart weiss. – So bleibt eine ewige Vergeltung bestehen; auf Gott dürfen wir unsere Hoffnungen setzen, an ihn unsere Bitten richten. Verabscheut die Laster, pflegt die Tugenden, und um so mehr, als ihr vor den Augen des alles schauenden Richters handelt! Mit dieser Ermahnung schliesst die Philosophie ihre Reden und das Werk.
Diese Analyse des Inhalts der Consolatio konnte bei der uns hier gebotenen Kürze wohl den Gang der Darstellung in seinen Hauptzügen zeigen, die Ausführung im einzelnen jedoch nur andeuten; ihr aber verdankt gerade das Werk seine ausserordentliche Wirkung und Verbreitung. Diese gründen sich 496 hauptsächlich auf zwei Momente, die aber nur bald mehr, bald weniger hervortreten, die popular-philosophische Behandlungsweise und das christliche Kolorit. Sie stehen zu einander in einer gewissen Beziehung, in beiden nämlich ist das römisch-ethische Moment wirksam. Boëthius war nur ein Namenchrist, aber doch immerhin ein solcher Vgl. hier überhaupt die gründliche Arbeit von Hildebrand.; die erste christliche Erziehung war keineswegs spurlos an ihm vorübergegangen. Sein Werk ruht zwar seinem ganzen Gehalt nach auf der heidnisch-antiken Philosophie, hauptsächlich dem Platonismus und zwar in der neuplatonischen Form, wie schon eine sehr flüchtige Kenntniss desselben alsbald zeigt, und in allen Einzelheiten, freilich nicht ohne einige Uebertreibung, von Nitzsch nachgewiesen worden ist; aber das Werk erhält nicht bloss durch das starke Hervortreten stoisch-römischer Ethik einen christlichen Anschein, sondern diese nimmt hier mitunter auch in der That eine specifisch christliche Färbung So wenn Gott pater familias genannt wird, indem allerdings die irdische Welt als sein Haus ( domus) bezeichnet wird; die Menschen aber mit Gefässen ( vasa) verglichen werden l. IV, pr. 1. Die Hauptsache bleibt immer das starke Hervortreten der Persönlichkeit Gottes, welches sich in der ganzen Darstellung kundgibt. Auch der Preis der Liebe in dem letzten Metrum des zweiten Buchs (s. oben) hat wohl eine christliche Färbung, wie von Nitzsch S. 52 mit vollem Unrecht geleugnet wird, da er den Zusammenhang des Metrums mit der vorausgehenden Prosa nicht beachtet hat; das Metrum knüpft unmittelbar an › amicos invenisti‹ an, worauf v. 27 zurückweist: von einer blossen concordia unter den Menschen ist hier zunächst gar nicht die Rede. Ich will damit aber keineswegs bestreiten, dass auch an dieser Stelle der Platonismus zu Grunde liegt, aber er hat eine christliche Form angenommen; wie es mir denn überhaupt unzweifelhaft erscheint, dass damals im Abendland ein Mann wie Boëthius in seiner sittlichen Bildung vom Christenthum gar nicht unbeeinflusst bleiben konnte. an, wie es denn selbst auch an Reminiscenzen aus der Bibel nicht ganz fehlt. Höchst merkwürdig ist, wie in diesem Werke des letzten der römischen Philosophen, wie Zeller ihn mit Recht nennt, diese verschiedenen, zum Theil ganz heterogenen Elemente sich durchdringen zu einer doch einigen Gesamtwirkung in Folge des christlichen Moments, worin seine, wie überhaupt des römischen Eklekticismus Stärke beruht. Die populäre Behandlungsweise, die damit zusammenhängt, und die durch die Einkleidung, die Form des Dialogs und die Einmischung der Poesie wesentlich unterstützt wird, herrscht vor allem und durchaus in den beiden ersten Büchern 497 vor, wo die Philosophie von dem noch durch den Aufruhr der Affecte Zerstreuten nicht schon ein wissenschaftliches Nachdenken fordert; später erfährt sie wesentliche Beschränkung. Aber dass gerade im Beginne des Werkes die Darstellung so allgemein verständlich ist, hat sicher nicht wenig dasselbe grössern Kreisen empfohlen. Die eingestreuten Gedichte mussten auch sehr anziehend wirken, da sich darunter in Inhalt wie Form gleich vortreffliche Schöpfungen finden, die in Anbetracht des Zeitalters wahrhaft bewundernswerth sind. Oft kommt in ihnen gerade der philosophische Gedanke zu einem populären Ausdruck, und selbst solche, die in der Prosa gar nicht entwickelt sind; die meisten der Gedichte sollen aber, wie dies in einem Falle auch ausdrücklich vom Verfasser gesagt wird Sed video te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatum aliquam carminis expectare dulcedinem: accipe igitur haustum, quo refectus firmior in ulteriora contendas. l. IV, pr. 6 am Ende., zur erholenden und erfrischenden Unterbrechung von der Anstrengung des wissenschaftlichen Denkens dienen. – Die prosaische Darstellung steht zwar hinter der poetischen auch in diesem Werke in Bezug auf Eleganz und selbst Correctheit zurück, zeichnet sich aber dennoch selbst in diesen Beziehungen vor den meisten Werken ihrer Zeit sehr vortheilhaft aus; das Gezierte und Manierirte, wovon sie sich auch nicht hat frei halten können, wird doch nie zum geistlos aufgeblähten Schwulste und zu verschrobener Dunkelheit: vielmehr mussten Klarheit des Ausdrucks und bewegliche Lebendigkeit desselben, zumal in den kurzen philosophischen Zwiegesprächen, ihr besonders zur Empfehlung dienen. Vgl. Bednarz, De universo orationis colore Boëthii. Breslau 1883 (Diss.). Ueber die dem Boëthius beigelegten theologischen Schriften, die, weil rein dogmatisch, uns hier in keinem Falle interessiren würden, s. Nitzsch, a. a. O. und vgl. Peipers Ausgabe (Prolegg.) und K. Schenkl, Verhandl. der Wiener Philologenvers. Wien 1859. Usener und Hildebrand halten sie mit Peiper für echt, im Gegensatz zu Nitzsch und Schenkl; Hildebrand gibt eine Analyse derselben mit eingehender Untersuchung der Frage der Echtheit. 498