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Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Iordanes. Gildas.

Ein fast gleichaltriger Zeitgenosse Gregors ist ein anderer Autor desselben Namens, der auch mit grossem Eifer der Hagiographie sich widmete, der Freund Fortunats, Gregor von Tours. Er ist überhaupt nach Gregor dem Grossen der bedeutendste und fruchtbarste Prosaschriftsteller der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts. Aber der Schwerpunkt seines Schriftthums liegt in seiner berühmten Historia Francorum , und da wir damit auf das Feld der Geschichtschreibung hinübergeführt werden, müssen wir zunächst zwei Vorgänger von ihm auf diesem Felde in unserer Epoche betrachten: Iordanes Siehe über diese Form des Namens Mommsen in seiner Ausgabe Prooem. p. V. und Gildas. In ihren Schriften, so wenig umfangreich sie auch sind, begegnen wir nach langer Zeit doch einmal wieder einer zusammenhängenden Geschichtserzählung an der Stelle chronistischer Notizen; statt des Rohmaterials der Historie, welche diese liefern, einer Bearbeitung, mag auch das Fabricat noch so unvollkommen sein. Zugleich haben ihre Werke eine Eigenthümlichkeit gemein, die eine ganz besondere Bedeutung und Wichtigkeit ihnen verleiht. Sie haben nicht bloss die weltliche 557 Geschichte statt der kirchlichen zum Gegenstand, sondern auch speciell die Geschichte der Barbaren, von welchen die germanischen Völker jetzt bestimmend in die Weltgeschichte eintreten als die wichtigsten Träger der neuen Kulturentwickelung des Mittelalters; und die Verfasser gehören den Barbaren selber an. So gleich der erste Iordanes Iordanis Romana et Getica, rec. Mommsen ( Monum. Germ. hist. Auct. antiq. T. V, Pars 1. Berlin 1882. (Prooem.) – – Schirren, De ratione quae inter Iordanem et Cassiodorium intercedat commentatio. (Dissert.) Dorpat 1858. (Vgl. dazu Gutschmids Recension in den Jahrb. für klass. Philol. 1862.) – Köpke, Deutsche Forschungen (s. oben S. 498, Anm. 1.) – Bessel in Ersch und Grubers Encyclop. (Art. Gothen), Sect. I, Bd. 75., der freilich von seinem Hauptwerk, De origine actibusque Getarum , das wir hier zunächst im Auge haben, nur in sehr eingeschränktem Sinne der Verfasser genannt werden kann.

Iordanes betrachtet sich selbst als Gothe, obgleich er genau genommen Alane war, wie er selbst zu verstehen gibt. Sein Grossvater war Kanzler ( notarius ) des Alanenkönigs Candac in Mösien. Seine Familie war eine edle, mit dem gothischen Königsgeschlecht der Amaler verschwägert. Iordanes war auch zuerst Notarius eines Schwestersohns des Candac, welcher in römischen Diensten Magister militum war. Später trat er in den geistlichen Stand Unter › conversionem meam‹ c. 50 ist an dieser Stelle keineswegs nöthig Mönchthum zu verstehen, wie Bähr a. a. O. S. 252 und Mommsen Prooem. p. XIII meinen. Es bedeutet überhaupt asketisches Leben; hier aber wird es einen besondern Bezug auf den Uebertritt zum Katholicismus haben. Denn wir müssen annehmen, dass Iordanes, wie seine Landsleute, zuerst Arianer war. und zwar der katholischen Kirche ein, und brachte es aller Wahrscheinlichkeit nach bis zum Episcopat. In dieser Stellung wandte er sich historischen Studien zu und begann zunächst um die Mitte des sechsten Jahrhunderts, und, wie es scheint, zu Constantinopel einen Abriss der Weltgeschichte, breviatio chronicorum . Während er noch damit beschäftigt war, erhielt er von einem Freunde, Castalius, die Aufforderung, die zwölf Bände ( volumina ) des uns verlorenen Werks des Cassiodor De origine actibusgue Getarum , in einen Auszug zu bringen, oder, wie er selbst in der Widmung an den Freund sagt, in einem und zwar kleinen Buche zusammenzuziehen. 551 vollendete er diese Arbeit, und kehrte darauf zu dem ältern Werke zurück, um dies auch in demselben Jahre abzuschliessen. S. Mommsen, Prooem. p. XIV f.

558 Obgleich Iordanes in der Widmung behauptet, das Werk Cassiodors vordem nur einmal drei Tage geliehen bekommen, den Sinn und die Thatsachen zwar vollständig behalten zu haben, aber der Worte sich nicht mehr zu erinnern, auch selbst aus griechischen und lateinischen Historien geeignetes hinzugefügt zu haben, so ist doch mit aller Evidenz erwiesen, dass wir in seiner Schrift in der That bis auf wenige kleine Zusätze Vgl. Mommsen, Prooem. p. XLII ff. nur einen zu einem guten Theil selbst wörtlichen Auszug aus dem Werke Cassiodors besitzen, welcher – das mag man nicht bestreiten – aus früher einmal gemachten Excerpten hervorging, die, weil nicht mit der Absicht der Abfassung einer Epitome aufgezeichnet, den Wünschen des Autors bei dieser Arbeit nicht vollkommen entsprachen. Er hätte eben die Worte selbst überall genauer und sicherer wiedergeben mögen!

Inhalt und Composition des Buches sind nun die folgenden. Wie schon Schirren richtig ausgeführt hat, lassen sich vier Theile unterscheiden. In dem ersten (bis c. 13) wird zu Anfang eine Weltbeschreibung gegeben, speciell von dem Norden, um die Lage von Scanzia, der ursprünglichen Heimath der Gothen, zu bestimmen, und von dieser officina gentium (d. h. hier der Barbaren) zu handeln. Hierauf lässt der Autor die Gothen nach Scythien wandern, das er weitläufig beschreibt, und indem er sie mit den scythischen Geten identificirt, erzählt er der letztern fabelhafte Geschichte als die der dort eingewanderten Gothen, so ihre Kämpfe mit Aegypten, die Thaten der Amazonen, die gothische Weiber ihm sind, der Tomyris u. s. w., die Einführung einer hohen wissenschaftlichen Bildung bei ihnen, bis er, nach einem grossen Sprunge, auf die Zeit Domitians kommt. – In dem zweiten Theile (c. 14–23) geht der Verfasser mit der Darlegung des Stammbaumes der Amaler auf die Geschichte der wirklichen Gothen über, in die allerdings schon am Schlusse des vorigen Abschnitts unmerklich eingelenkt war, indem er zunächst des Kaisers Maximinus, als eines Gothen von väterlicher Seite, ausführlich gedenkt, um zu zeigen, ›wie dies Volk – schon durch ihn – auf den Gipfel der römischen Herrschaft gelangte‹, und dann die Kämpfe der Gothen mit den Römern seit dem Kaiser Philipp, und mit den 559 Gepiden und Vandalen, sowie namentlich ihre Züge nach Asien erzählt. So wird ihre Geschichte bis auf Hermanrich geführt, ›welchen einige mit Recht mit Alexander dem Grossen verglichen haben‹. Unter ihm erreicht das Gothenreich den Höhepunkt seiner Macht. Im dritten Theile (c. 24–47) wird zunächst eine Schilderung der Hunnen gegeben, die das Gothenreich zerstören sollten, der Tod Hermanrichs und die Trennung der Westgothen berichtet, worauf dann die Geschichte der letztern bis auf Alarich II., Eurichs Sohn, folgt. In dieser wird besonders ausführlich der Einbruch Attila's in Gallien und die Schlacht auf den catalaunischen Feldern behandelt, welche oft ganz detaillirte Erzählung reichlich ein Drittel dieses Abschnittes einnimmt. Der vierte Theil (c. 48–60) ist dagegen der Geschichte der Ostgothen seit Hermanrich gewidmet: nachdem zuerst von ihrer Besiegung durch die Hunnen, von dem Geschlechte Hermanrichs und dem Tode Attila's gehandelt worden ist, wird ihre Aufnahme in das römische Reich berichtet und ihre weitere Geschichte unter Theodemir, sowie Theoderichs Kriegszug gegen Odoaker erzählt. Die Geschichte des von Theoderich gegründeten Reichs folgt in kurzen Zügen bis auf Vitigis' Unterwerfung unter Justinian: indem mindestens die letzten anderthalb Kapitel von Athalarichs Tod an Iordanes allein angehören, der sie vornehmlich aus Marcellinus Comes geschöpft hat. Nach Holder-Egger (Neues Arch. Bd. I, S. 296 ff.) hat Iordanes in der Gothengeschichte (nicht aber in der Weltchronik) die Ravennater Annalen und besonders Marcellin benutzt. – Ueber die in dem Werk überhaupt benutzten Autoren s. Mommsen, Prooem. p. XXX ff.

So unvollkommen auch die Arbeit des Iordanes ist, die einem Mosaik aus grossen und kleinen, oft schlecht, ja zuweilen gar nicht verbundenen Bruchstücken gleicht Ueber solche Lücken s. Schirren, p. 6., in der nicht einmal jene vier Haupttheile gehörig von einander durch die Darstellung markirt erscheinen: sie lässt doch die das ganze Werk Cassiodors beherrschende und belebende Idee, die ihm eine höhere innere Einheit und ein besonderes Interesse verlieh, wieder erscheinen; und nicht unbewusst dem Epitomator, der sich vielmehr dieselbe angeeignet, ja ihr, entsprechend seinen persönlichen Verhältnissen und denen der Zeit, in welcher er sein Buch verfasste, eine eigenthümliche Wendung gegeben 560 hat. Die Tendenz Cassiodors aber war, wie Köpke A. a. O. S. 89, dem ich hier folge. – Uebrigens vgl. auch über das Verhältniss Iordanes' zu Cassiodor Sybel, Entstehung des deutschen Königthums. 2. Ausgabe. S. 184 ff. nachgewiesen, auch in diesem Werke, wie in seiner staatsmännischen Thätigkeit S. oben S. 499., die der Ausgleichung der gothischen Eroberer mit der romanischen Bevölkerung, welche ihnen unterthan geworden: durch die Identification der Gothen mit den Geten, woran Cassiodor selbst geglaubt haben wird, wurden die erstern hingestellt als ein schon im hohen Alterthum weltgeschichtlich bedeutendes Volk, zu einer Zeit selbst, wo Rom noch gar nicht existirte; und indem nicht bloss die grosse Tapferkeit, sondern auch die hohe wissenschaftliche Bildung jener grauen Ahnen der Gothen Cassiodors in der Geschichte rühmend gezeigt wurde, ward letztern ein Adel verliehen, der sie mindestens den Römern ebenbürtig machte. Aber der Ruhm des Gothenvolkes bildet bei Cassiodor doch nur das Piedestal für den Glanz des Hauses der Amaler, in dem jener Ruhm gipfelt, ein Haus, dessen edler Stammbaum bis in die ferne Vorzeit von ihm nachgewiesen wird. Von einem solchen Geschlecht zugleich mit einem Volk wie den Gothen beherrscht zu werden, konnte für die Romanen kein Schimpf mehr erscheinen. Dieser Gedanke der welthistorischen Ebenbürtigkeit der Gothen mit den Römern – ein Gedanke, der auch den Beginn der neuen Zeit des Mittelalters ankündigt, – ist bei Iordanes keineswegs verwischt, auch sein Auszug ist noch ein Panegyricus des Gothenvolkes; mit einem Stolz, der eines Römers würdig gewesen, gedenkt er der Thaten ihrer Tapferkeit: er hat dieselbe Tendenz der Ausgleichung, einer dauernden Versöhnung dieses dem römischen Reiche einverleibten germanischen Volkselements mit dem letztern; nachdem aber zu der Zeit, wo er schrieb, die ostgothische Macht durch Byzanz ganz gebrochen war, muss er sich mit seinem Versöhnungsgedanken an das römische Kaiserthum wenden, und indem er dem Justinian als Triumphator über die so hoch gepriesenen Gothen schmeichelt, die Hoffnung einer Wiederherstellung derselben auf den Sohn der Enkelin Theoderichs Mathasuinth und eines Bruders Justinians Germanus setzen, der, auch Germanus genannt, das Anicier-Geschlecht mit dem der Amaler in sich vereinte. Diese Hoffnung, die freilich 561 die Abhängigkeit der Gothen von dem römischen Kaiserthum zur Voraussetzung hatte, entsprach aber offenbar auch den persönlichen Wünschen und Ansichten Iordanes', dem das Interesse der Amaler über das der Gothen gehen musste, und dem bei seiner römisch-geistlichen Bildung die Weltherrschaft Roms bis zum Ende der Dinge ein Dogma war.

Sein oben erwähnter Abriss der Weltgeschichte, der in den besten Handschriften den Titel De summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum S. Mommsen, Prooem. p. XV. führt, besteht auch nur in zum Theil wörtlichen Auszügen, und zwar aus verschiedenen Werken; namentlich ist von ihm ausser der Chronik des Eusebius-Hieronymus und ihren Fortsetzern, wie insbesondere Marcellin, ausser Orosius und Eutrop, Florus ausgeschrieben worden S. über die Quellen das Genauere bei Mommsen, Prooem. p. XXIII ff., wie denn die römische Geschichte so durchaus vorwiegt, dass die Weltgeschichte mit ihr geradezu identificirt erscheint, was auch bereits das an einen vornehmen Freund Vigilius (der aber nimmermehr der Papst dieses Namens ist) Dieser Annahme J. Grimms, welche merkwürdiger Weise von den Historikern adoptirt wurde (offenbar, weil sie, was ich nicht leugnen will, so gut zur Unterstützung anderer Annahmen hier passt), widerspricht die Form wie der Inhalt des Schreibens durchaus. Ein so angesehener Bischof wie Cyprian und in der Zeit desselben konnte wohl den Papst › carissime frater‹ anreden, aber dass Iordanes, auch wenn er Bischof war, den Papst, und noch dazu in der Etikettenstadt Byzanz, mit nobilissime , ja magnifice frater – einer für den Papst unerhörten Titulatur – anreden konnte, wäre denn doch erst zu beweisen. Aber der Inhalt widerstreitet noch viel mehr. Es genügt auf den Schluss hinzuweisen, worin Iordanes die Magnificenz, sich zum asketischen geistlichen Leben zu bekehren, auffordert, nachdem dieselbe in den beiden Geschichtswerken des Iordanes das Elend des weltlichen kennen gelernt, von dem sie sich also nur frei halten könne: – – uno libello confeci, iungens ei aliud volumen – – quatenus diversarum gentium calamitate comperta, ab omni aerumna liberum te fieri cupias et ad Deum convertas, qui est vera libertas. Legens ergo utrosque libellos, scito quod diligenti mundum semper necessitas imminet. – – Und der Schluss: Estoque toto corde diligens Deum et proximum, ut adimpleas legem etc. Und das soll der Gothe Iordanes an einen römischen Papst geschrieben haben!! – So hübsch auch die Hypothese Grimms zu andern über Iordanes passt, so ist mir doch unbegreiflich, wie man gleich Wattenbach noch an ihr festhalten kann. Mommsen dagegen hat mir zugestimmt (Prooem. p. XIV). gerichtete Widmungsschreiben bekundet. Dem entsprechend werden denn 562 auch, nach einer Genealogie Abrahams von Adam an, bloss die Königsreihen der Assyrer, Meder, Perser, und als Nachfolger Alexanders allein der Ptolemäer bis auf Cleopatra, wie bei Eusebius, mit wenigen historischen Anmerkungen gegeben als eine blosse chronologische Einleitung. Ueber die Chronologie des Werks s. Mommsen, Prooem. p. XVI ff. Durch die Besiegung der Cleopatra ist die Aufnahme des letzten vorrömischen Weltreichs in das römische gleichsam vollendet, dessen Geschichte der Verfasser dann anhebt als seine eigentliche Aufgabe. Hier tritt denn auch an der Stelle eines chronologischen Protocolls eine zusammenhängende Geschichtserzählung ein, die bis zum 24. Jahr der Regierung Justinians geführt wird. Einen literarischen Werth kann aber diese Mosaikarbeit um so weniger beanspruchen, als ein das Ganze beherrschender eigenthümlicher Gedanke fehlt. Es ist eine ganz unbegründete Annahme, wenn hier Bähr (S. 261) ›höhere, religiöse christliche Zwecke‹ dem Verfasser zuschreibt. –

 

Ein originellerer Autor als Iordanes ist Gildas Gildas, De excidio Britanniae, ad fid. codd. mss. recens. J. Stevenson. London 1838. Danach in: *Nennius und Gildas, herausgegeben von San-Marte. Berlin 1844. – – Lipsius in Ersch und Grubers Encyclop. Sect. I, Bd. 67 (1858). – Schoell, De ecclesiasticae britonum scotorumque historiae fontibus. Berlin 1851., nur hat sein Werk auch weniger einen rein historischen Charakter. Gildas mit dem Beinamen der Weise ( Sapiens ), ein Kelte, aus vornehmen, wenn nicht königlichem Geschlechte, war im Jahre der Schlacht von Bath, 516, wahrscheinlich in Schottland, geboren. In den geistlichen Stand getreten, ein Schüler des heiligen Iltut, wie es scheint, ›des Lehrers der Britten‹, erweiterte er durch Reisen, namentlich nach Irland, seine Gelehrsamkeit, die seine Zeit anstaunte. Aber zu dem Rufe des Weisen fügte er den des Heiligen. Er wirkte in einer Zeit sittlicher Zerrüttung bei seinem Volke mit dem grössten Eifer für die Askese, und er scheint diese Wirksamkeit auch jenseits des Kanals, nach der Bretagne erstreckt zu haben, wo er das Kloster Ruys gegründet haben soll. Dass er selbst Abt war, lässt sich annehmen; ob von diesem Kloster, ist zweifelhaft genug, während es dagegen gar nicht unwahrscheinlich ist, dass er sein Werk 563 dort geschrieben. Es ist im Jahre 560 verfasst; 10 Jahre später soll Gildas gestorben sein. S. in Betreff des Lebens des Gildas Lipsius, der mit scharfsinniger Kritik die beiden Biographien des Heiligen – die eine von einem Mönche von Ruys aus dem 11., die andere von einem Mönche aus Llancarvan aus dem 12. Jahrhundert – untersucht, und die falsche Annahme englischer Gelehrten von einem doppelten Gildas gründlich widerlegt hat.

Das Werk ist in den Ausgaben, und auch einer Handschrift entsprechend, De excidio Britanniae betitelt; den zweiten Theil desselben, der sich in der ältesten Handschrift nicht findet, hat man ganz mit Unrecht als ein besonderes Werk des Gildas unter dem Titel: Epistula edirt. Geben wir zunächst eine Uebersicht des Inhalts des Ganzen. Nach einem Vorwort, auf das ich zurückkomme, beginnt der Verfasser mit einer kurzen Beschreibung von Britannien, das er als ein schönes, fruchtbares Land mit fast dichterischen Farben schildert, um dann, mit Uebergehung der altheidnischen Vorzeit, wo Britannien in der Menge seiner Götzenbilder noch Aegypten übertroffen habe, sogleich zu erzählen (§ 4), ›was es zu den Zeiten der römischen Imperatoren gelitten, und andere habe leiden lassen‹ (von letzterem ist übrigens wenig die Rede). Gildas gedenkt darauf kurz der Eroberung des Landes durch Rom, der Einführung des Christenthums, etwas ausführlicher der Diocletianischen Verfolgung und ihrer Märtyrer in England (§ 9 ff.); dann, nach Erwähnung der arianischen Ketzerei und des Usurpators Maximus, berichtet er, wie Britannien allmählich von Rom aufgegeben, unter den wiederholten Einfällen der Picten und Scoten zu leiden hatte, denen die Britten um so weniger Widerstand leisten konnten, als sie zu Bürgerkriegen geneigt und demoralisirt waren; Hurerei und Lügen werden hier als ihre Hauptlaster bezeichnet (§ 21). Da züchtigte sie Gott, um sie zu bessern, mit Pestilenz und der Verblendung, dass sie die Sachsen zu Hülfe riefen, ›ein Gott und den Menschen verhasstes Volk‹, welche Barbaren wie die Wölfe in ihre Hürden brachen (§ 23). So hätten die Britten nur die gerechte Strafe für ihre frühern Verbrechen erlitten, – bis sie endlich unter der Führung des treuen, tapfern und wahrhaftigen Ambrosius Aurelianus sich aufrafften und den Sieg von Bath davon trugen. Aber nur auf die Augenzeugen, namentlich auch die Könige und Priester, wirkte dies Wunder der unerwarteten Hülfe Gottes sittlich erhebend ein. In dem folgenden, 564 gegenwärtigen Geschlecht, das sich jener Zeit nicht erinnert, ist, zumal in den beiden genannten höchsten Ständen, mit wenigen Ausnahmen von Wahrheit und Gerechtigkeit keine Spur zu finden: sie fahren vielmehr täglich zur Hölle (§ 26). – Hierauf richtet Gildas, nachdem er die Freiheit seiner Worte mit seinem Schmerze entschuldigt, und der Ausnahmen, die sie nicht treffen, gedacht hat, eine Strafpredigt gegen jene beiden Stände; erst gegen die Könige, von denen er fünf einzeln nach einander auf das heftigste angreift (§ 28 ff.) – einer erscheint immer noch lasterhafter als der andere – und die er dann in längerer Rede (§ 37 ff.) mit Sprüchen aus dem Alten Testament, namentlich der Propheten, ermahnt und bedroht; darauf gegen die Priester (§ 66 ff.) – schon damit er unparteilich erscheine (§ 65) – indem er hier aber keine bestimmten Persönlichkeiten heraushebt, sondern nur die Laster des Klerus im allgemeinen schildert, die Simonie noch insbesondere betonend, um sie dann durch Beispiele und durch Lehren aus der Bibel, dem einen wie dem andern Testament, zu ermahnen.

Diese Strafpredigt bildet nun den zweiten Theil des Werkes, den man als Epistula abgesondert hat; er fehlt in der einen Handschrift offenbar nur, weil er für die Nachwelt ein geringeres Interesse, als der erste hatte, vielleicht auch, weil man selbst später noch seine Invectiven fürchtete. Die Einheit des Werkes zeigt schon die Analyse. Auch andere Gründe beweisen die Zugehörigkeit des zweiten zum ersten Theil als ganz unzweifelhaft. So viel ich weiss, hat man diese schlagenden Argumente nicht gefunden, obgleich sie für den Leser des Werkes so zu sagen offen am Wege liegen: abgesehen davon, dass, wie unsere Analyse bereits anzeigt, die beiden Stände, gegen die sich die Strafpredigt richtet, am Schlusse des ersten Theils namentlich hervorgehoben werden, findet sich im zweiten eine Verweisung auf den ersten, und zwar auf den letzten Paragraph desselben, in § 65: Sed mihi quaeso, ut iam in superioribus dixi, ab his veniam impertiri etc.; eben das steht ja dort § 26. Auch das Citat des Buchs des Gildas von Alcuin Ep. 28, ed. Jaffe, Monum. Alcuin. p. 206, stimmt damit überein. Auch passt der Inhalt der Vorrede dazu – so unklar er im einzelnen ist, zum Theil offenbar weil verderbt und verstümmelt überliefert. Die historiola gentis Britannicae wird auch da zur admonitiuncula , die Gildas im Eifer für das Haus Gottes, aus innerm Drang wie auf der Brüder Bitten verfasst habe. So ist denn sein Werk, ähnlich wie Lactanz' 565 De mortibus persecutorum , eine historische Tendenzschrift, welche das Unglück, das sein Volk seit der Römerzeit traf, als selbstverschuldet zeigen soll, und zugleich den traurigen sittlichen Stand der Gegenwart des Autors, die der Lehren der Geschichte uneingedenk blieb, gleichsam als das Resultat der Vergangenheit schildert, um jene, namentlich die massgebenden Stände, zur endlichen Besserung zu bewegen. Die Geschichte erscheint also hier im Dienste einer moralischen Absicht, wie dies auch von einem Asketen wie Gildas kaum anders sich erwarten liess. Bei alledem und obgleich der Verfasser, wie er selbst sagt, grossentheils aus überseeischen Quellen geschöpft hat S. § 4. – Ueber diese Quellen g. Schöll, S. 6 ff., enthält seine kurze Geschichte doch einzelne wichtige Thatsachen; weit merkwürdiger aber ist sie, sowie sein Werk überhaupt, durch das lebendige getreue Bild von seiner Nation, das sich darin findet, ein Bild, dessen Wahrheit die ganze folgende Geschichte derselben bestätigt hat. Für die allgemeine Literatur des Mittelalters aber hat das Werk noch ein ganz besonderes Interesse: die an die Könige seiner Zeit gerichtete Strafpredigt weist bereits in den sinnlichen Ausschweifungen, die ihnen vorgeworfen werden, und deren Befriedigung vor keiner sittlichen Schranke zurückweicht, ein Hauptelement der Artussage auf So verjagt einer der fünf Könige seine Frau, um deren Schwester, eine gottgeweihte Jungfrau, zu heirathen (§ 32), ein anderer tödtet seine Frau und seinen Neffen, um dessen Gattin heirathen zu können (§ 35)., das demnach geschichtlichen Grund hat, wie denn auch in der Lügenhaftigkeit, die neben der Wollust als einen Nationalfehler der Verfasser wiederholt rügt, das psychologische Motiv jener phantastischen gelehrten Geschichtserdichtungen sich findet, die an Artus' Namen sich knüpfen, wie der des Gottfried von Monmouth. – Aber das Werk des Gildas, mit welchem das Keltenthum zuerst in die Weltliteratur eintritt, ist noch nach einer Seite bedeutend. Auch im Stil spiegelt sich diese Nationalität ab, in der poetischen bilderreichen, blumigen, oft phantastisch übertreibenden Ausdrucksweise der Erzählung, worunter die ohnehin durch einen schleppenden schwerfälligen Periodenbau getrübte Klarheit noch mehr leidet. Ein rechtes Durcheinander von Bildern s. § 17. – Wie schon Schöll bemerkt, haben auch manche Perioden einen hexametrischen Ausgang. 566

 


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