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Der Begriff vom Mitmenschen und das Rote Kreuz

Ansprache. Berlin, 12.12.1922

Die Not unseres Vaterlandes ist so groß und so über das Einzelschicksal des notleidenden Mitbürgers hinausgehend, daß sie zu einer Schicksalsfrage des deutschen Volkes geworden ist. Fühlende Mitmenschen in den Nachbarländern Deutschlands und im fernen Amerika haben die Tragik der deutschen Not erkannt und durch starke Organisationen und aufopfernde Einzelhilfe zu ihrer Linderung Hand angelegt. Es ist mir Pflicht, auch an dieser Stelle unseren ausländischen Freunden im Namen des deutschen Volkes für ihre hochherzige Hilfe zu danken.

Das deutsche Rote Kreuz stellt, alter Tradition folgend, sein Wirken über Partei, Stand und Konfession. Es kennt nur ein Mittel und Werkzeug für seine Arbeit: den Mitmenschen. Hierin liegt ein ideeller Wert von großer Tragweite. Wir sind heute durch die anormale Entwicklung unseres Lebens in der Kriegs- und Nachkriegszeit in so unüberbrückbar scheinende Interessengegensätze der einzelnen Volksteile zerfallen, daß der Begriff Mitmensch leider nicht überall genügend gewürdigt wird. Ihn in seiner wahren Bedeutung festzuhalten und dem Idealismus des deutschen Volkes neu einzupflanzen, gehört zu den Aufgaben unserer Wohlfahrtspflege. Sie fördert damit den Gesundungswillen und schafft Kraft für den Existenzkampf und für die Rückkehr zu geordneten Lebensverhältnissen.

Wenn heute führende Männer des deutschen Wirtschaftslebens, deutscher Wissenschaft, Kunst und Politik sich in einem Bund helfend um das Rote Kreuz stellen wollen, so könnte die Frage aufgeworfen werden, ob die Gründung einer neuen Organisation erforderlich ist, ob es nicht zweckmäßiger und notwendiger wäre, die bestehenden Wohlfahrtsorganisationen fester zusammenzufassen und systematisch auszubauen. Ich glaube, auf die Frage nicht eingehen zu brauchen, weil ich fest überzeugt bin, daß der »Bund zur Förderung des Roten Kreuzes«, falls diese Frage an ihn herantritt, sich gern diesen Bestrebungen anschließen und eingliedern würde. Möchte es dem neuen Bunde gelingen, mit seiner Arbeit Vertrauen zu finden. Möchten alle, Arme und Reiche, aus der Zeit deutscher Not lernen, daß Schicksal stärker ist als Menschenwerk, daß es uns jedoch gegeben ist, das Schicksal gut oder schlecht zu tragen.

Ich habe den Glauben an das deutsche Volk, daß es sein Schicksal trägt durch die Stärke des in ihm wohnenden Idealismus, daß dieser Idealismus das deutsche Volk auf dem Grund wahrer Menschlichkeit, die den einen hilfsbereit neben den anderen stellt, zu neuer Einheit zusammenschließt und damit den Boden bereitet für die Wiedergesundung unseres Vaterlandes.


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