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Aufruf zum Verfassungstag

11.8.1923

In schwerer Bedrängnis, rückblickend auf ein Jahr des Leidens und Duldens und vorwärtsschauend in die dunkelverhangene Zukunft, begeht heute Deutschland seinen Verfassungstag. Jeder von uns kennt das ungeheure Ausmaß unserer Not und Bitterkeit, und dennoch: Wir wollen den besonderen Sinn dieses Tages nicht vergessen. Das deutsche Volk hat sich seine Verfassung gegeben, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern. Diesen Willen wollen wir heute aufs neue bekunden und bekräftigen. Gerade auf den Tag sind heute sieben Monate vergangen, seit die Franzosen und Belgier in unser Land eingebrochen sind. Sie haben unsere fleißige Arbeit stillgelegt und schuldlose Menschen, jung und alt, verjagt, gepeinigt, gemartert und getötet. Sie haben unser redliches Bemühen, Unerfüllbares erfüllbar zu machen, in tiefe Erbitterung verwandelt. Etwas Gutes für sich und für Europa haben sie nicht erreicht, es sei denn, daß sie dies eine erreicht haben: Nie noch so felsenfest, nie noch so innigen Glaubens wie jetzt sind wir Deutschen unserer Stammeszugehörigkeit uns bewußt geworden. Das Unglück verbindet. Mannesfaust schlägt ein in Mannesfaust, Frauenhand faßt Frauenhand: Deutsch sind wir, und deutsch wollen wir bleiben! Wir blicken vergeblich in die Ferne. Schutz und Hilfe kommen nicht von dort. Die Begeisterung für das Recht scheint draußen schlafen gegangen zu sein. Wo sie wach ist, fällt sie willkürlicher Gewalt nicht in den frevelnden Arm. Wir müssen uns selber helfen. Deutsche an Rhein, Ruhr und Saar, Ihr seid uns ein Beispiel, das uns immer wieder erheben soll. Verzagt nicht! Noch nie hat ein Sieger im Rausche seiner Macht Recht behalten. Das lehrt die Weltgeschichte. Deutsche an allen freien Strömen des Vaterlandes, laßt Euch nicht von Kleinmut niederdrücken und von Selbstsucht leiten. Für Genußsucht und Luxus läßt die Not des Volkes keinen Raum. Fort daher mit all den häßlichen, die Darbenden aufreizenden Erscheinungen gedankenlosen Taumels! Seid Euch stets bewußt, daß der Kampf um Rhein und Ruhr auch von Euch gesteigerte Opferkraft und die Not der Stunde von allen Gliedern unseres Volkes selbstlose und große Leistungen verlangt! Regierung und Reichstag sollen Mut und Tatkraft zeigen und Entschlüsse finden, um durch eigene Kraftanstrengungen die Not dieser Tage zu meistern. Verzehrt Euch nicht in Zwietracht im Kampf der Sonderinteressen und in Markten und Feilschen, sondern helft! Für Eure Brüder und Schwestern an Rhein und Ruhr ist heute eine große Sammlung vorbereitet. Gebt auch hier mit vollen Händen. Bedenkt, daß mit Geld wenigstens um ein Geringes unseren gequälten Volksgenossen geholfen werden kann. Deutsche, laßt das Ergebnis dieses Tages mitten in der Not ein unerschütterliches Bekenntnis sein, ein Bekenntnis zum einigen, unteilbaren und der Zukunft trotz allem ungebeugt entgegengehenden Deutschen Reiche und zur Deutschen Republik. Das deutsche Volk hat in seiner harten Geschichte schwere Zeiten bestanden. Es wird auch diese trüben Stunden überwinden, wenn es standhaft bleibt in treuem Zusammenhalten, in Gemeinsinn, Ordnung, Arbeit und Opferwilligkeit.


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