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Die literarische Kritik

(1913)

Die Kritik ist entstanden, damit sich die Menschen in der Fülle der Kunsterscheinungen irgendwie zurechtfinden können, wird also desto wichtiger, je größer diese Fülle ist. Aber je wichtiger sie wird, desto offener erscheint auch ihr äußerst fragwürdiger Charakter, und es scheint gar nicht ausgeschlossen, daß sie von einem gewissen Punkt an nicht nur nicht klärend wirkt, sondern noch mehr verwirrt. Die Kämpfe, welche in diesen Verwirrungen entstehen, werden gewöhnlich mit großer persönlicher Erbitterung geführt, und es scheint doch das Gewöhnliche zu sein, daß Verschiedendenkende sich gegenseitig entweder für Schurken oder für Dummköpfe halten; vielleicht wäre der Versuch nicht ohne Dank, einmal den Gründen der Verwirrung nachzugehen. Ein Geschichtsforscher, der viel Zeit aufwenden könnte, wäre gewiß imstande, Gesetze in diesen Kämpfen zu erkennen, wenn er die kritischen Einwände, welche in einem größeren Zeitenverlauf jedesmal gegen neue Werke gemacht worden sind, sammelte und etwa feststellte: gegen wen und von wem geht der Vorwurf der Willkür, der Kälte, des Schwulstes, der Leere usf. aus. Von der Kunst selber verstehen ja natürlich immer die Künstler am meisten, die darf man aber hier nicht fragen, denn jeder Künstler wird alle Kritiker, welche gegen ihn gestimmt sind, für mindestens überflüssig, und die, welche ihn schätzen, nur deshalb für notwendig halten, weil sie ihm nützen: von seinem Standpunkt aus mit Recht, denn er will ja doch immer unmittelbar auf das Gefühl wirken, weiß, daß selbst behutsames Dazwischenkommen des Verstandes schadet, und kann nicht ahnen, daß in verwickelten Zeiten das Gefühl derer, auf die er wirken will, seine Sprache vielleicht überhaupt noch gar nicht versteht, daß die Menschen, wie der Ausdruck lautet, »zu ihm erzogen werden müssen«.

Zunächst überrascht die Erscheinung, daß in der Musik und Malerei das kritische Verständnis nicht so häufig zu versagen pflegt wie in der Dichtung.

Könnte man ein Gesetzbuch für die Kritiker aufstellen, so würde das zwei Gebote enthalten: erstens, du sollst die Beschaffenheit erkennen, das heißt, du sollst wissen, ob ein Kunstwerk in seiner Art gut oder schlecht gemacht ist; zweitens, du sollst die Ebene unterscheiden, das heißt, du sollst die Werke von bedeutendem Gehalt von denen sondern, die nur einen geringen Gehalt haben. Im ersten Fall hat der Kritiker das – im weitesten Sinn – Handwerkliche des Werkes zu untersuchen, muß also überhaupt vom Handwerklichen etwas verstehen; im zweiten Fall hat der Kritiker ein Werturteil abzugeben, muß also ein seelisch bedeutender Mensch sein, der die verschiedenen Gehalte abschätzen kann.

Kritiker, welche über Musik und Malerei schreiben, verstehen nun fast immer etwas vom Handwerklichen, können also kaum in die ganz groben Irrtümer verfallen, welche kommen, wenn der Kritiker überhaupt nicht weiß, was der Künstler gewollt hat, und welche Mittel er für seine Zwecke verwenden mußte. Außerdem ist in der Musik der Gehalt nackt, ohne das Gewand eines Inhalts, und in der Malerei ist wenigstens gegenwärtig auch bei den geringeren kritischen Geistern bekannt, daß es nicht auf den Inhalt ankommt, sondern auf den Gehalt, der in ihm ausgedrückt ist, und daß in einem Zerrbild Daumiers eine ebenso heldische Seele zu uns sprechen kann wie in einer Bildhauerarbeit Michelangelos.

Aber erinnern wir uns an große kritische Kämpfe in der Musik und Malerei, etwa an die Kämpfe Glucks und die der Impressionisten. Heute empfinden wir Gluck als Klassiker, sehen Manets Olympia ruhig neben den alten Meistern, damals wurden von den gegnerischen Kritikern, und natürlich waren alle Kritiker gegnerisch, gegen die Beschaffenheit der Werke Einwände erhoben, man bezeichnete sie als schlecht gemacht, ihre Urheber als unfähige Menschen.

Will man nicht annehmen, daß die gegnerischen Kritiker damals alle gänzlich unwissend und dumm waren, daß sie an sich vom Handwerklichen nichts verstanden und an sich Beschaffenheit nicht erkennen konnten, so bleibt nur eine einzige Erklärung: der neue Gehalt wirkte so aufreizend auf sie, daß die Erbitterung ihre Sinne ganz geblendet hat, daß sie nicht mehr richtig sahen und hörten.

Das klingt unwahrscheinlich, ist aber doch zu erklären.

Jedes Werturteil, welches wir abgeben, ist zunächst ein Werturteil über uns selbst. Indem wir Dinge verehren, lieben, schätzen, laufenlassen, belächeln, bekämpfen, verachten, sitzen wir über uns selber zu Gericht. Eine hohe Seele verehrt das Hohe, eine gemeine haßt es. Wenn eine Zeit gemein ist, so bringt sie die Wortführer hervor, welche die Gemeinheit ihr für das allgemein Menschliche erklären; wenn sie bedeutend ist, so bringt sie die Männer in die Höhe, welche sie lehren, nach dem Großen und Edlen zu streben. Kommt in die erste Zeit ein Künstler mit bedeutendem Gehalt, in die zweite einer mit gemeinem, so verneint er ja die betreffende Zeit und ihre Wortführer in ihrem sittlichen Dasein, er muß als Todfeind von ihnen gehaßt werden, und ein solcher Todhaß macht blind.

Um den Gedanken klarzumachen, sind so schroffe und auch wenigsagende Gegensätze gewählt wie »bedeutend« und »gemein«; der Gehalt der Kunstwerke ist ja mit Worten so sehr schwer zu sagen: eben weil es sich um Gefühle handelt.

Wenden wir uns mit diesen Erklärungen nun zu der literarischen Kritik, so werden wir uns nicht langer wundern, daß sie ganz besonders fragwürdig ist, denn in der Dichtung ist Handwerk, Inhalt und Gehalt ganz besonders eng miteinander verknüpft. Dadurch ist zunächst die Untersuchung des Handwerks viel schwieriger als in den anderen Künsten; im höchsten Sinn gibt es in der Dichtung überhaupt kein reines Handwerk, ist das Handwerkliche immer inhaltlich bestimmt; bei der eigenen Arbeit – bei der allein man ja diese Dinge erfährt – wurde mir klar, daß selbst etwas scheinbar ganz Inhaltliches, wie der Deus ex machina, doch gleichzeitig eine Formforderung ist. Daraus ergibt sich zunächst, daß die Kritiker der Dichtung gewöhnlich schon die Beschaffenheit nicht erkennen können. Und das ist nicht etwa von kleinen Schriftstellern gesagt, bei den bedeutenden Menschen ist es sogar noch auffälliger. Wenn ein Mann wie Lessing imstande war, zu sagen, er könne jedes beliebige Stück von Corneille bessermachen als Corneille, wenn Schiller über Alfieri urteilte, er sei überhaupt kein Dichter, wenn Goethe über Kleist den Kopf schüttelte, so konnten sie alle drei die Beschaffenheit nicht abschätzen. Ein Dürer aber konnte die Beschaffenheit eines Bellini und Raffael, ein Richard Wagner die Beschaffenheit eines Bach abschätzen, und diese Männer waren gewiß ebensoweit von den Beurteilten entfernt wie jene. Dostojewski hat einmal von Tolstois Schriften gesagt, das sei Gutsbesitzerliteratur, Tolstoi von Dostojewski, ein so unklarer Mensch dürfe doch nicht andere Leute auch noch unklar machen wollen. Auch diese Männer konnten gegenseitig ihre Beschaffenheiten nicht abschätzen. Es ist ja auch längst bekannt, daß Musiker und Maler sich gegenseitig meistens am richtigsten beurteilen, sie vertragen sich ja auch menschlich untereinander; Dichter aber beurteilen sich gegenseitig fast immer falsch, und es kommt sehr selten vor, daß sie freundschaftlich verkehren können.

Denn, und nun kommt unser Endergebnis, der Gehalt hat in der Dichtung eine ganz andere Bedeutung als in den anderen Künsten; er hat eine so große Bedeutung, daß sogar der Inhalt ganz anders von ihm mitgerissen wird als in den übrigen Künsten.

Damit hängt zusammen, daß der Gehalt inhaltlich viel mannigfaltiger ist in der Dichtung als in der Malerei oder gar der Musik.

Wenn also schon die Leidenschaften für und gegen bei der Dichtung stärker erweckt werden als in den übrigen Künsten, so kommt noch dazu, daß bei der Dichtung sich viel mehr Gruppen unter den Aufnehmenden bilden.

Nehmen wir an, ein Musiker schreibe eine Symphonie, bei welcher er an das wirklich oder ihm so scheinende heldische Leben Napoleons gedacht hat. Wenn er es nicht sagt, so merkt niemand etwas davon; man spürt nur den Schwung einer großen Seele und mag sich Religiöses oder Tragisches oder Patriotisches oder Königstreues oder Revolutionäres oder sonst etwas denken, was Einem naheliegt, wenn man das Bedürfnis nach einer gedanklichen Bestimmung des Schwunges fühlt. Ein Dichter könnte die gewaltigste Tragödie der Welt dichten, welche Napoleon als Helden hätte, er würde in Deutschland sofort die lebhafteste Feindschaft aller vaterländisch gesinnten Leute erwecken, und es würde ihm gar nichts nützen, wenn er sagte: »Meine gedichtete Gestalt hat mit dem wirklichen Napoleon nichts gemein, ich bin doch ein Deutscher, habe, ohne es besonders hervorheben zu müssen, deutsche Empfindungen, die kein Fremder haben kann, mein Werk ist rein deutsch, selbst wenn ich es anders gewollt hätte.« Hier tritt also sofort das kindlichst Inhaltliche in den Vordergrund. Aber gesetzt, der Dichter vermeidet diesen Anstoß, nennt seinen Helden Friedrich und läßt das Ganze in der deutschen Geschichte spielen; dann hat er sofort andere Leute als Gegner, welche wieder das Inhaltliche in seinem Gehalt finden und sagen: »Staatliche Kämpfe interessieren uns nicht, wir wollen Weltanschauungskämpfe, unser Held wäre Giordano Bruno.« Es nutzt dem Dichter nichts, wenn er sagt: »Mit Giordano Bruno kann ich dramatisch nichts anfangen, ich muß einen handelnden Mann haben, mit dem Denker geht es nicht; aber es kommt doch auch darauf nicht an, es kommt doch auf den Kampf an und den Empfindungsgehalt.« So kann er sich wenden wie er will, überall stößt er auf Widerspruch. Nun ist noch dazu die Vorstellung natürlich inhaltlich bestimmt, wenn jemand das Bild Napoleons vor seinem geistigen Auge hat, so kann er nicht so einfach einen Friedrich daraus machen: er kann also durch etwas, das im Grunde ganz gleichgültig ist und das er doch nicht ändern kann, die Gegnerschaft erzeugen.

Gegen den Musiker kämpft nur der Mann, der überhaupt ein Gegner der heldischen Empfindung ist, gegen den Dichter eine Menge Leute, welche seine Empfindung teilen und sie nur anders gedanklich bestimmen. Und man sage nicht, daß die Beispiele von Napoleon, Friedrich und Giordano Bruno übertrieben seien. Selbst Männer wie Klopstock und Herder sind doch in solche Torheiten verfallen, als sie sich einbildeten, es sei nötig, statt der alten Mythologie in unsere Dichtung das schnurrige Phantasieerzeugnis einzuführen, welches sie für die germanische Mythologie hielten.

Mit anderen Worten: ein Dichter, der Neues bringt, verletzt dadurch, daß der Gehalt in der Dichtung eine viel größere Rolle spielt und dabei inhaltlich viel mannigfacher ist als in den anderen Künsten, alle die Menschen in ihrem innersten Lebensnerv, welche seelisch anders gerichtet sind, und macht sie dadurch unempfindlich gegen seine Beschaffenheit; es kommt dazu, daß die Beschaffenheit in der Dichtung überhaupt viel schwerer zu erkennen ist als in den anderen Künsten, weil das Handwerkliche nie rein förmlich ist.

Als ein Schulbeispiel, von einem großen Geiste, möge folgende Äußerung von Goethe über Kleist dienen: »Auch in seinem ›Kohlhaas‹, artig erzählt und geistreich zusammengestellt wie er sei, komme doch alles gar zu ungefüg. Es gehöre ein großer Geist des Widerspruches dazu, um einen so einzelnen Fall mit so durchgeführter, gründlicher Hypochondrie geltend zu machen. Es gebe ein Unschönes in der Natur, ein Beängstigendes, mit dem sich die Dichtkunst bei noch so geistreicher Behandlung weder befassen noch aussöhnen könne. Und wieder kam er auf die Heiterkeit, auf die Anmut, auf die fröhlich bedeutsame Lebensbetrachtung italienischer Novellen.« Hier haben wir den reinsten Ausdruck für den merkwürdigen Zustand: Goethe lehnt Kleist ab, weil Kleists Dichtung gegen sein untragisches Lebensgefühl geht. Und denselben Grund hat der letzte dumme Teufel, der Rezensionen schreibt, weil er nichts Ordentliches gelernt hat, um auf ehrliche Weise sein Brot zu verdienen, wenn er von »unnational«, oder »kalt«, oder »gedanklich«, oder »frivol« oder Ähnlichem spricht: er verteidigt sein Lebensgefühl. Und dieser Rezensent hat ebenso recht wie Goethe gegen Kleist, er verteidigt sich selber.

Aber wenn wir die Betrachtung nun umkehren, so haben wir als Ergebnis der Überwindung der gegnerischen Kritik für den Dichter auch etwas sehr viel Wichtigeres als für Maler und Musiker. Heute wird wohl niemand mehr wie noch in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts etwa Goethe als unnational, kalt, frivol oder gedanklich bezeichnen, denn Goethe hat seinen Gehalt der Nation aufgezwungen.

Dumpf kommt den Menschen ja zum Bewußtsein, daß die Gegnerschaft gegen einen Dichter ein Ausdruck für seine Bedeutung ist; leider hat diese Erkenntnis aber die üble Folge, daß man nun heute schließt, ein Dichter, den etwa jeder für dumm hält, müsse nun notwendig bedeutend sein, und dieser Fehlschluß hat bereits verheerende Wirkungen erzeugt. Jedes Instinkturteil, so dumm auch der Mensch sei, von dem es ausgeht, hat schließlich irgendwie eine Berechtigung; die heutige Instinktlosigkeit aber, die man oft gerade bei ganz gescheiten Literaten antrifft, ist immer schädlich und schafft die größte Verwirrung.


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