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Das Reich Gottes in uns

(1919)

Je urtümlicher die Zustände der Menschen sind, desto stärker ist die Abhängigkeit von den Naturgewalten, desto mehr Leid und Unglück kommt durch Mißernte, wilde Tiere und allerhand unberechenbare Naturereignisse. Aber dafür leben die Menschen in ihrem Kreise enger zusammen. Die ursprüngliche Geschlechtsgenossenschaft ist das, was bei uns Familie und Staat ist; sie umfaßt beinahe alle Menschen, welche sich kennen, und gewährt den Schutz und seelischen Rückhalt, den heute de Familie gewährt. Alle Menschen zwar, welche nicht Geschlechtsgenossen sind, gelten von Natur als Feinde. Aber man muß sich hüten, aus diesem Umstand zu bedeutende seelische Forderungen zu ziehen. Der ruhende Kriegszustand mit den übrigen Menschen bedeutete schließlich nichts weiter als der ruhende Kriegszustand heute zwischen den verschiedenen Staaten. Die allgemeine Stimmung der urtümlichen Menschen war sicher nicht, wie die früheren Denker annahmen, daß ein Mensch zum anderen stehe wie zum Wolf; sondern die Menschen fühlten sich brüderlich verbunden.

Wenn sich die Zivilisation entwickelt, dann nimmt die Abhängigkeit der Menschen von der Natur ab. Die Natur ist nicht mehr die Feindin, sie ist die Dienerin des Menschen geworden. Aber dafür verschwindet die allgemeine Brüderlichkeit der Menschen fast ganz. Es bleibt nur der ganz enge Kreis der Familie, in welcher sie sich hält; außerhalb der Familie hat Jeder Jeden fast zum Gegner; und auf dem Höhepunkt der Zivilisation beginnt sogar die Familie sich aufzulösen.

Es ist natürlich durchaus nicht gesagt, daß die urtümlichen Menschen etwa sittlicher sind als die Menschen der Zivilisation, und man soll ihre Unschuld nicht gefühlig betrachten, wie es in gewissen Zeiten geschah. Jedenfalls aber empfinden wir den Zustand der Zivilisation mit seiner allgemeinen Feindschaft der Menschen als unsittlich. Wir sehen, daß sich Gier, Habsucht, Neid und Haß entwickeln; wir wissen, daß diese Eigenschaften nicht gottgewollt sind; und in jedem höher denkenden Menschen taucht die Vorstellung eines Reiches der Menschheit auf, wie es sein sollte, eines Reiches der Brüderlichkeit und Liebe, welches wir das Reich Gottes auf Erden nennen können, da in ihm die Gebote Gottes befolgt werden.

Dieses Reich Gottes auf Erden erscheint in den Zeiten der Menschheit verschieden; es hat jedesmal die Ausgestaltung, welche der Zeit gerade entsprechend ist. Etwa in Zeiten, wo eine kriegerische Aristokratie das Volk plagt, denkt man sich den Adel verschwunden, den Krieg unmöglich und ein Bauernland, das dicht bevölkert ist mit friedlich ackernden Menschen; in Zeiten des großgewerblichen Kapitalismus malt man sich einen sozialistischen Zukunftsstaat aus, in welchem der Unternehmer verschwunden ist und eine Fabrik neben der andern steht, in welche die Menschen sittlich, heiter, frei und aufgeklärt zu ihrer täglichen Arbeit gehen.

Solche Gedanken, welche notwendig aus dem natürlichen Lebens- und Glückstrieb der Menschen kommen müssen, werden durchkreuzt von andern Gedanken. Derselbe Trieb bewirkt, daß wir fest davon überzeugt sind, daß der sittliche Mensch auch äußerlich glücklich sein müsse. Wir sehen aber täglich, daß das nicht der Fall ist, daß vielmehr gar keine Beziehung zwischen dem äußern Glück und dem sittlichen Wert eines Menschen vorhanden ist. So kommen die Menschen zu dem Schluß: es muß irgendwo ein Leben sein, in welchem der Ausgleich stattfindet; und dieses Irgendwo kann sich nur nach dem Tode befinden. Roh gedacht: als Lohn und Strafe; besser: als Ausgleich, wird in einem ewigen Leben, im Himmelreich, der Gute glücklich sein und der Böse unglücklich.

Dieser Gedanke einer sittlichen Vergeltung geht nun mit jenem andern eines Reiches Gottes auf Erden eine ganz unlösbare Verbindung ein. Die Gedanken haben folgerecht gar nichts miteinander zu tun; aber sie kommen aus demselben Urgrund, und deshalb vermischen sie sich. Es stellt sich auch wohl heraus, daß die Hoffnung auf das Reich Gottes auf Erden schon so oft enttäuscht ist; ein uneingestandenes, tiefes Gefühl der eignen Unzulänglichkeit ist wohl in Jedem; so wird denn in verwirrter Weise das Reich Gottes gleichfalls in das Leben nach dem Tode verlegt, wobei es doch immer noch gleichzeitig als eine irdische Hoffnung bestehen kann, stärker oder schwächer, wie die Umstände sind.

Dieses ganze wirre, widerspruchsvolle, wahnhafte Gedanken- und Wunschgebäude geht nun naturgemäß die innigste Verbindung mit der Religion ein. Religion ist aber bei jedem Menschen etwas anderes, und da die meisten Menschen gemein sind, so entspricht sie bei den meisten durchaus der allgemeinen Gemeinheit; der Philister, welcher keine Ahnung von seiner tiefen Unsittlichkeit hat und sich für einen tugendhaften Menschen hält, ist fest davon überzeugt, daß ihm ein Sitz im Himmel bereit ist, und er weiß genau, daß der Himmel ein Schlaraffenland ist, wo man keine Wettbewerber hat und faulenzen kann, ohne daß man in seinen wirtschaftlichen Verhältnissen zurückkommt.

Auch die höheren Religionen müssen mit den allgemeinen menschlichen Trieben arbeiten, denn alles Menschliche muß nun eben einmal die menschlichen Mittel verwenden. Aber sie biegen den Gedanken um, daß er ihren Zwecken entspricht.

Die höheren Religionen sind geschaffen von Menschen der höchsten Art, welche Verbindung mit dem Göttlichen hatten – man nennt sie Söhne Gottes bei manchen Völkern – und ihr Gutes den übrigen, von ihnen wegen ihres Sitzens in der Finsternis auf das tiefste bemitleideten Menschen mitteilen wollen. Wie weit ihnen die Mitteilung glückt, mag die Frage sein, denn Jeder hört, nicht was der Andere sagt, sondern was seine Seele aus den Worten des Andern vernehmen kann; jedenfalls aber ist die Mitteilung für diese Söhne Gottes eine Notwendigkeit, sie ist ein Teil ihres Selbst.

Auf der Höhe dieser Menschen verschwindet nun eigentlich der alte kindliche Begriff der Religion.

Es handelt sich hier um Buddhismus, Taoismus und Christentum. Bei den beiden ersten Lehren werden manche zugeben, daß sie, im Sinne der Auserwählten aufgefaßt, eigentlich gar nicht mehr Religion sind, sondern etwas anderes: vielleicht Weisheit. Aber auch das Christentum könnte man doch einmal im Sinne der Auserwählten auffassen. Vielleicht rührt seine heutige Notlage daher, daß wir uns auf eine allzusehr für die große Masse berechnete Form des Christentums beschränken. Wenn wir, wie wir doch müssen, das Leitbild unserer klassischen deutschen Dichtung als christlich bezeichnen, wenn wir die Linie finden, die von Eckehart zu Goethe und Hegel führt, dann finden wir vielleicht auch das Christentum der Auserwählten.

Die großen Kinder wollen das Reich Gottes auf Erden. Christus sagt ihnen lächelnd: »Das Reich Gottes ist in uns.« Sie wollen, daß sie in das Himmelreich geführt werden. Christus sagt ihnen lächelnd: »Folgt mir nur nach.« Aber wenn sie ihm nachfolgen, dann gelangen sie nicht in ein Schlaraffenland, wo man nicht mehr vor dem Wettbewerb Angst zu haben braucht, sondern sie kommen auf einen Hügel, wo Christus ans Kreuz geschlagen wird und lächelnd spricht: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.«

Wir sind ja nun heute Christen. Aber die großen Kinder haben immer noch nicht verstanden. Sie suchen das Reich Gottes auf Erden und schreien nach dem Schlaraffenland, in dem es keinen Wettbewerb gibt. Christus hat gesagt: »Das Reich Gottes ist in euch.« Sie finden es nicht in sich; natürlich nicht; denn Christus hat es wohl in sich, aber das war sein Irrtum, daß er glaubte, die andern hätten es auch in sich. Sie sehen in sich hinein und finden nichts. Sie suchen das Himmelreich. Christus hat gesagt: »Das Himmelreich ist überall da, wo einer ans Kreuz geschlagen wird und lächelnd sagt:›Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun‹.« Die Leute aber fragen: »Wo ist es? Ist es im sozialistischen Zukunftstaat oder im kommunistischen?«

Woher kommt es, daß der Trieb so stark ist, daß die Leute die Wahrheit nicht verstehen können, auch wenn sie ihnen so klar gesagt wird, wie sie Christus ihnen sagte?

Das Weltgesetz ist tragisch. Alles Weltgeschehen kommt durch einen Kampf zustande. In diesem Kampf muß aber jede Partei überzeugt sein, daß sie im Recht ist; also daß sie das Reich Gottes auf Erden stiften will und einen Zustand vorbereitet, welcher dem des Himmelreiches entspricht. Wir haben diese Blindheit der Menschen ja im Kriege gesehen. Die Deutschen sind wohl immerhin noch das kritischste, die Amerikaner das kindlichste Volk der Welt. Man hält jetzt Herrn Wilson für einen Heuchler; nein, er hat ganz kindlich geglaubt – es kommt auf die Erwartungen an, die man vom amerikanischen Volk hegt, ob man den Glauben nicht als kindisch bezeichnen will: ich persönlich würde es tun – daß er für die Zukunft die Kriege abschaffen und ein Reich der Gerechtigkeit begründen wird. Die Deutschen waren bedeutend klüger: sie glaubten immerhin nur, daß sie, wenn sie den Krieg gewonnen hätten, die Angelegenheiten der Welt mit einer gewissen Bravheit ordnen würden. Da die Bevölkerungsklassen, welche bei uns heute herrschen, unsere kindischsten sind, so haben wir bei ihnen wieder das Mißverstehen des tragischen Weltgesetzes, den Irrtum, daß das Weltgeschehen nicht ein Kampf ist, sondern daß die Einführung des Reiches Gottes auf Erden möglich ist. Wer die Einsicht in das tragische Weltgesetz hat, der kämpft nicht mehr, der sieht ein und sucht die Kämpfenden zu belehren; daß er belehren will zwischen zwei Heeren, die in Schlachtordnung

gerüstet einander gegenüberstehen, wie in tiefer Sinnbildlichkeit die Bhagavadghita singt: das ist die Kindlichkeit des Mannes, der die tragische Einsicht hat, die Kindlichkeit Christi, der wohl sagte: »Wer Ohren hat zu hören, der höre«, aber doch wußte, daß die Menschen nicht die Ohren haben, um zu hören, wenn er sagte: »Das ist das Himmelreich, daß ich sagen kann: Vater, vergib ihnen.«

Der innere Kampf, der heute entbrannt ist, der durch die ganze zivilisierte Welt gehen wird mit Revolution, Streiks, Lohnforderungen und wahnsinniger Selbstüberhebung des niedrigsten Volkes, der schlimmer sein wird, als der Weltkrieg war, könnte ja in dem Augenblick beigelegt sein, wo den Menschen klar würde, was Christus gesagt hat. In den gesitteten Ländern wie Indien und China, wo ein größerer Kreis von Menschen Zugang zum Geist hat als bei uns, würde in solchen Kämpfen das Wort Christi wohl mehr Verständnis finden; ob so viel, daß der innere Zusammenbruch vermieden würde, mag ja zweifelhaft sein. Bei uns jedenfalls steht die Sache so, daß noch viel Blut fließen muß und viele Tränen, ehe wieder Verhältnisse kommen, die für eine längere Zeit Dauer haben.

Es gibt Männer, welche es als einen Vorzug Europas vor Asien empfinden, daß die Dinge bei uns so gehen, weil dieser Lauf der Dinge Geschichte sei und die Weisheit des Orients keine Geschichte bilde. Das mag sein. Aber jedenfalls ruht dieser Vorzug unseres Lebens nicht auf einer höheren Art unseres Seins, sondern er kommt daher, daß wir noch Barbaren sind.


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