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Aus dem Nachlaß von Karl Marx ist kürzlich eine Arbeit veröffentlicht, welche durch die russische Revolution zeitgemäß wurde. Marx nimmt in dieser Arbeit Stellung zu der Frage, welche die russischen Umstürzler lange beschäftigt hat, ob nämlich das russische Volk, um zu der erwünschten sozialistischen Gesellschaft – dem von den Gegnern so genannten Zukunftstaat – zu kommen, erst durch den Kapitalismus gehen müsse, oder ob es gleich unmittelbar aus seiner gegenwärtigen Verfassung heraus den Schritt tun könne.
Einmal angenommen, daß die Geschichte der Menschen sich abwickelt, wie es Marx und diese Umstürzler glaubten, ist die Äußerung von Marx, wie es nicht anders zu erwarten ist, sehr klug. Er sagt, daß die westeuropäische Entwicklung durchaus kein unabänderliches Schicksal aller Völker sei, »die zu einer Wirtschaftsordnung kommen wollen, die die größtmögliche Entfaltung aller Produktivkräfte und die höchste Entwicklung der natürlichen menschlichen Kräfte verspricht«.
Seine weitere Ausführung geht uns hier nichts an; mit seiner eigentümlichen romantischen Auffassung urtümlicher Zustände nimmt er an, daß die russische Dorfgemeinde organisch weiterentwickelt werden könne.
Was hier wichtig ist, das ist die Tatsache, daß Marx, der bedeutendste Vorkämpfer des Proletariats, der im wesentlichen die heute erstrebten Ziele der Arbeiter, man darf sagen: die Ziele der heutigen Arbeiter überhaupt, aufgestellt hat; daß dieser Mann, indem er die »größtmögliche Entfaltung aller Produktivkräfte« und die »höchste Entwicklung der natürlichen menschlichen Kräfte« nebeneinander stellt, demselben Irrtum unterliegt, welchem die liberale Nationalökonomie und die Bourgeoisie vor ihm unterlegen ist. Wir sind ja gewöhnt, Liberalismus und Sozialismus, Bourgeoisie und Proletariat als Feinde zu betrachten; vielleicht beginnt heute mancher einzusehen, daß diese Feinde sich ganz gut vertragen können; wie das möglich ist, wird klar werden, wenn man sich deutlich macht, daß beide auf einem Boden stehen, indem sie nämlich die äußeren Güter maßlos überschätzen. Es war ja nicht erst Ibsen, welcher eine seiner Gestalten sagen ließ, eine Wahrheit werde regelmäßig nach dreißig Jahren eine Lüge. Dieser Ausspruch ist eine Wahrheit, und da er nur formales Gepräge hat, so bleibt er das für immer, nicht nur für dreißig Jahre. Was die Sozialdemokratie wollte, das war eine solche Wahrheit, welche dreißig Jahre alt wird; sie schlug um etwa in der Zeit, als das Sozialistengesetz aufgehoben wurde. Als der deutsche Idealismus zusammenbrach, der letzte Versuch einer seelischen Auffassung der Welt, begann
unumstritten die Herrschaft jener Anschauung, welche auch Marx in den angezogenen Worten vertritt. Ein Dichter aus unserer großen Zeit hat seherisch, schon halb in Wahnsinn gehüllt, diese neue Welt dargestellt:
Zu lang ist alles Göttliche dienstbar schon;
Und alle Himmelskräfte verscherzt, verbraucht,
Die gütigen, zur Lust, danklos, ein
Schlaues Geschlecht, und zu kennen wähnt es,
Wenn ihnen der Erhabene den Acker baut,
Das Tageslicht und den Donnerer, und erspäht
Das Sehrohr wohl sie all und zählt und
Nennt mit Namen des Himmels Sterne.
Die Produktivkräfte haben ihre größtmögliche Entfaltung gewonnen, das ist in der Ausdrucksweise der Zeit das, was der Dichter meint, wenn er ein schlaues Geschlecht danklos alle Himmelskräfte verscherzen und zur Lust verbrauchen läßt. Die Zeit glaubt, daß auf diese Weise die natürlichen menschlichen Kräfte zu ihrer höchsten Entwicklung gelangen; vielleicht meint Hölderlin diesen fürchterlichen Irrtum, wenn er fortfährt:
Der Vater aber decket mit heil'ger Nacht,
Damit wir bleiben mögen, die Augen zu.
Wirklich: hätten die Menschen bleiben können, wenn sie gesehen hätten, wohin sie die Entfaltung der Produktivkräfte führt? Ihr verdanken wir diesen Krieg: und wäre der noch das Schlimmste, was wir ihr verdanken werden!
Die Entfaltung der Produktivkräfte kam zustande durch die immer weiter getriebene Arbeitsteilung und die immer zunehmende Ersetzung der menschlichen Arbeit durch Maschinen. Der Grundsatz ist in beiden Fällen, daß aus der Arbeit in steigendem Maße zunächst das Seelische, dann das Geistige entfernt wird und nur der seelen- und geistlose Handgriff übrigbleibt. Man denke etwa an die Herstellung einer Nähnadel. Im Mittelalter war da ein Handwerker, man nannte ihn Kleinschmied, welcher aus Eisen allerhand kleines Gerät verfertigte, das man bei ihm bestellte: eine Schnalle, einen Haken, ein Schloß, auch eine Nadel. Der Mann hatte in seiner Lehrzeit gelernt, mit dem Eisen umzugehen, die herkömmlichen Geräte zu schmieden, die man verlangte; wenn er begabter war als der Durchschnitt, so zeigte er in seinen Arbeiten nicht nur die gewöhnliche Geschicklichkeit, sondern auch einen höheren Geschmack, einen Sinn für die Form, oder er erfand nützlichere Formen, ja ganz neue Werkzeuge. So sind etwa unsere Uhren im Mittelalter erfunden und die unübersehbar vielen schönen Gegenstände in unsern Kunstgewerbesammlungen gemacht, die sich durch die Jahrhunderte der allgemeinen Zerstörung erhalten haben. Es ist verständlich, daß der Mann seine Arbeit liebte, die ihn ernährte, und in welcher er seine ganze Kraft ausgeben konnte. Offenbar kann ein Mensch eine Nadel schneller machen, wenn er den ganzen Tag nichts weiter tut als nur Nadeln schmieden, sein Leben lang. Offenbar werden die Nadeln noch schneller fertig, wenn man etwa zwanzig Menschen nebeneinander stellt, von denen jeder nur einen Griff zu tun hat bei der Verfertigung der Nadel, und jeder immer nur denselben Griff tut, sein Leben lang. Offenbar geht die Nadelmacherei noch schneller, wenn man eine Reihe von Maschinen hintereinander aufstellt, von denen die erste den Draht zugeführt bekommt und die letzte die fertigen, in Briefe gesteckten Nadeln ausspeit; der Arbeiter hat dann nur noch die Maschine zu beaufsichtigen, sein Leben lang.
Wenn man so weit gekommen ist, daß an die Stelle des Kleinschmieds, der Erfindungen macht und kunstgewerbliche Gegenstände verfertigt, ein Mann getreten ist, welcher Kohlen schaufelt, mit der Ölkanne hantiert, oder aufachtet, daß der Draht regelmäßig eingeführt und die Päckchen regelmäßig ausgespielt werden, dann hat man die Produktiokraft der menschlichen Arbeit zu ihrer höchsten Entfaltung gebracht nach der Meinung der heutigen Zeit, denn der alte Feinschmied hätte vielleicht, wenn er einen Tag nur Nadeln geschmiedet hätte, höchstens fünfzig Stück zustande gebracht, und der Arbeiter von heute, wenn man seinen Anteil an der täglichen Summe der ausgespienen Päckchen berechnete, bringt vielleicht eine Million fertig.
Wir wollen gar nicht untersuchen, ob der Nutzen denn so groß ist, daß heute so viele Millionen Nadeln erzeugt werden; wer etwas zu nähen hat, der kann immer nur eine Isabel gebrauchen, und im Mittelalter haben die Leute ja auch alles genäht, was sie zu nähen hatten; sie nähten eben aus dauerhafteren Stoffen und mit dauerhafterem Zwirn und achteten mehr auf ihre Nadel, und so ging es auch.
Aber was hat denn diese Nähnadelflut mit der höchsten Entwicklung der menschlichen Kräfte zu tun? Gar nichts. Der alte Feinschmied entwickelte seine Kräfte, der heutige Fabrikarbeiter entwickelt sie nicht, sondern er unterdrückt sie in der schändlichsten Weise.
Die Herstellung der Nähnadeln ist nur ein Beispiel. In allen Berufen ist der alte Kleinschmied durch den Mann mit der Kohlenschaufel und Ölkanne ersetzt. In allen Berufen, sowohl in den geistigen wie in denen der Handarbeit; und nur da, wo die alten Verhältnisse sich teilweise gehalten haben, kann der Mansch seine Kräfte noch entwickeln; er kann sie gerade so weit entwickeln, als sich die alten Verhältnisse gehalten haben. Wenn im Bauernstand etwa das Spinnen und Weben der Frauen aufhört, weil in der Fabrik Millionen Meter Gespinste hergestellt werden können, so hört der Geschmack und die Begabung für Gespinste und Webstoffe im Bauernstande auf. Es ist dann Zeit, daß man Kunstgewerbemuseen gründet und sich wundert, daß kein Kunstgewerbe mehr entstehen will.
Der Irrtum, daß man glaubte, die höchste Entwicklung der menschlichen Kräfte habe irgend etwas mit der größtmöglichen Entfaltung der Produktivkräfte zu tun, rührte daher, daß man die menschlichen Kräfte den Produktivkräften gleichsetzte; daß man ganz vergaß, daß die Kräfte des Manschen, welche für den sinnlichen Gebrauch arbeiten, nur ein ganz kleiner Teil aller seiner Kräfte sind.
Man hat aber diese Produktivkräfte auf Kosten aller andern Kräfte des Manschen gesteigert, indem man diese andern Kräfte einfach in der Rechnung ausließ.
Nun haben wir heute das Ergebnis dieser falschen Rechnung.
Die gesteigerten Produktivkräfte, allein gelassen von den höheren Kräften der Menschheit, zeigen sich als gänzlich sinnlos. Sie haben ja nur einen Wert, wenn sie den Zwecken des Menschen dienen. Zwecke setzen können die Menschen aber nur mittels der höheren Kräfte. Sind diese unterdrückt, so wissen die Manschen nicht, was sie mit den Dingen anfangen sollen, welche sie der gesteigerten Produktivkraft verdanken. Man hat oft genug über die Lächerlichkeit einer ungebildeten Bourgeoisie gespottet, man hat nicht bedacht, daß die Bourgeoisie als Bourgeoisie notwendig ungebildet sein muß, daß nur ein einzelner, der sich für sich aus dem Getriebe rettet, heute überhaupt Bildung erwerben kann. Die Löhne sind heute so hoch gestiegen, daß auch die Arbeiter an den sogenannten Kulturgütern teilhaben können. Man beginnt bereits die Arbeiter zu verspotten, welche mit ihrem Geld nichts anfangen können.
Bedenkt man denn gar nicht, wie fürchterlich dieser Zustand ist, daß er nicht Spott, sondern Entsetzen hervorrufen sollte?
Wir haben in Westeuropa die Entfaltung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus ermöglicht. Dieser hat gleichzeitig die Gesellschaft in zwei Lager geteilt und eine unüberbrückbare Feindschaft von Klassen in allen Völkern geschaffen. Er hat aber auch gleichzeitig eine noch nie geahnte Feindschaft der Völker gegeneinander entfesselt, denn die kapitalistische Entwicklung der Produktivkräfte muß notwendig durch das Mittel des freien Wettbewerbes auf die Vernichtung des Gegners zielen, die Völker müssen sich als feindliche kapitalistische Gruppen gegenüberstehen, die zuletzt zum Mittel des Krieges, und zwar des Vernichtungskrieges, greifen müssen.
Der Sozialismus hat einige Folgen der kapitalistischen Form der Produktioitätsentfaltung vorausgesehen; er glaubt, vielleicht mit Recht, daß diese heute zusammenbricht, und er schickt sich an, die Herrschaft anzutreten.
Mit ihm aber würde nur noch Furchtbareres kommen. Denn für den, der ernst wollte und dem seine Seele wichtiger war als äußeres Wohlleben, war in der kapitalistischen Gesellschaft immer irgendein Schlupfwinkel vorhanden. Wer nicht Sklave werden wollte, mußte es nicht werden. Die sozialistische Gesellschaft wird unbarmherzig jede solche Möglichkeit zerstören. Sie wird dafür sorgen, daß die Millionen Nähnadeln pünktlich hergestellt werden, und sie wird niemand erlauben, sich von der Pflicht der Herstellung und von dem Glück an dem Verbrauch dieser Millionen von Nadeln auszuschließen.