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Kunst und Persönlichkeit

(1914)

Es scheint, daß mit der zunehmenden Verbürgerlichung der Menschen und der damit verbundenen Entfernung von der Natur das Verständnis für die Kunst den Menschen immer schwieriger wird; wenigstens sollte man das als Grund annehmen für die merkwürdige Erscheinung, daß die Schriften über die Kunst, die Künstler und die Kunstwerke sich immer vermehren.

Diese Schriften wirken nun jedoch durchaus nicht immer aufklärend. Kunst muß mit dem Gefühl aufgenommen werden, nicht mit dem Verstand; was man aber über Kunst schreiben kann, das wird naturgemäß meistens verstandesmäßige Untersuchung sein. Dadurch wird erstens für die Menschen leicht ein falscher Punkt gegeben, von dem aus sie Kunst betrachten sollen; und zweitens werden durch den grübelnden Verstand eine Menge Fragen aufgeworfen, die dann durch ihn freilich auch gelöst werden, aber für den, welcher die Kunst wirklich fühlt, eigentlich gar nicht vorhanden sind.

Eine solche Frage ist die von dem Verhältnis zwischen Kunst und Persönlichkeit.

Ein jedes Kunstwerk hat einen Gehalt, einen bedeutenden oder einen unbedeutenden. Angenommen, daß der Künstler in beiden Fällen seine Sache gekonnt hat, so sprechen wir dann von einem großen oder einem geringeren Kunstwerk. Der Gehalt kommt ungewollt und unbewußt aus der Seele des Künstlers, und aus einer bedeutenden Seele kommt natürlich ein bedeutender, aus einer unbedeutenden ein unbedeutender Gehalt.

Das ist eigentlich doch wohl selbstverständlich, und niemand, der ein Kunstwerk fühlend erlebt, wird hier eine Frage sehen. Wenn man aber das zeitgenössische Schrifttum über diese Dinge betrachtet, so findet man, daß über die Frage von der Persönlichkeit in der Kunst heftig gestritten wird. Ich las kürzlich einen Aufsatz über die Frage. In diesem stand folgender Satz: »Daß heut vollends die experimentierende Neuklassik, wiederum über das Ziel hinausschießend, die rein unpersönliche Stillinie, also etwas Extrem-Künstlerisches statt des Extrem-Persönlichen sucht, begreift sich sehr wohl aus der entgegengesetzten Übertreibung, für die das Ich alles und die Form nichts oder wenig bedeutet.«

Da die bedenkliche Aufschrift »Neuklassik« schließlich auf mir allein klebenzubleiben scheint, so bin ich wahrscheinlich mit diesem Satz gemeint. Ich muß mich aber sehr dagegen verwahren, daß ich jemals einen solchen Unsinn, wie er mir hier zugeschoben wird, ausgesprochen habe.

Ich glaube, und solche Aufsätze bestärken mich in dieser Ansicht, daß die Ästhetiker bei der Gegenüberstellung von Kunst und Persönlichkeit von einer falschen Voraussetzung ausgehen. Klassizität in der Kunst ist künstlerische Vollkommenheit, der restlos geglückte Ausdruck des Wollens durch das Können; wenn die »Neuklassik« wirklich klassisch ist, dann ist also »experimentierende Neuklassik« ein Widerspruch in sich selbst. Da die Begriffe über das Vollkommene in den Zeiten verschieden sind, so wird auch das Urteil darüber verschieden sein, ob ein Kunstwerk klassisch ist. Für Lessing war der Laokoon klassisch, für das vorige Geschlecht der Hermes von Praxiteles, für uns heute ist es etwa eine ägyptische Figur aus der guten Zeit und von einem guten Künstler. Bei einem solchen wirklich klassischen Werk darf man dann nicht mehr an die Persönlichkeit des Künstlers denken, der es gemacht hat, denn seine Persönlichkeit ist vermöge seines künstlerischen Könnens restlos in seinem Werk aufgegangen; aber natürlich hat er doch eine Persönlichkeit gehabt. Da die ägyptische Bildhauerkunst vernünftigerweise Urbilder, die einmal geglückt waren, festhielt, so ist hier für unseren unruhigen und eitlen Verstand die Sache nicht so klar einzusehen; man denke sich denn etwa den Mann, der als Erster das plastische Urbild des Schreibers geschaffen hat, und suche das Werk zu verstehen, dann wird einem klar werden, was der für eine große Persönlichkeit gewesen sein muß.

Der klassischen Kunst steht die romantische Kunst gegenüber, welche unabsichtlich oder absichtlich nicht Vollkommenheit anstrebt. Man kann hier vielleicht zwei Arten unterscheiden: die des Kunstfertigen und die des Ringenden. Der Laokoon etwa erscheint uns heute als ein rein gekonntes Werk: ein außerordentliches Können ist in den Dienst eines gemeinen Wollens gestellt. Eine Arbeit von Michelangelo ist das Werk eines Ringenden, dem seine Kunst und sein Kunstwerk nicht genügten, um seine Welt auszudrücken, bei dem das Wollen also größer war als das Können. Bei solchen romantischen Werken wird man natürlich leicht darauf geführt, über die Persönlichkeit des Künstlers nachzudenken; aber deshalb ist doch nicht gesagt, daß hier die Persönlichkeit eine größere Rolle gespielt hat als bei den klassischen Künstlern. Freilich, die Leute, welche mit dem Verstande an die Kunst herangehen und nicht über jene Kraft des Gefühls verfügen, welche ein großes, harmonisches Kunstwerk in seiner Gesamtheit erleben kann, werden solchen Erscheinungen immer den Vorzug geben und sie gegenüber den andern maßlos überschätzen.

Wir haben in unserer deutschen Kunst eine große Menge von fragwürdigen Erscheinungen, und je mehr über Kunst geschrieben wird, desto mehr werden solche Erscheinungen hervortreten. Dazu gehört etwa ein Mann wie Grabbe.

Grabbe hatte eine Begabung in sehr hohem Maße: die Darstellungskraft. Aber diese Begabung stand ganz allein in einer im tiefsten Grunde albernen Persönlichkeit; und man kann sich vielleicht sogar fragen, ob sie sich nicht deshalb so stark zeigen kann, weil durch die Albernheit gewiß Hemmungen und höhere Zwecke fehlen. Was hat es nun eigentlich für einen Zweck, einen solchen armen Menschen denn etwa einem Sophokles entgegenzuhalten, der die ungeheure Kraft hatte, sich selber gänzlich auszugleichen, und der einer von den paar Menschen ist, welche durch ihre gewaltige Persönlichkeit in den späteren Jahrtausenden die Vorstellung erweckt haben, die alten Griechen wären ein ausgeglichenes Volk gewesen! Hätte man Sophokles nach »Persönlichkeit und Kunst« gefragt, so hätte er doch wohl nur gelächelt: man hat es eben, oder man hat es nicht. Welcher Weg ist vom »König Ödipus« zum »Ödipus auf Kolonos«! Wenige Menschen hat es gegeben, die einen solchen Weg gegangen sind; auch ein Goethe hätte nicht die Kraft für ihn gehabt. Sophokles ist ihn gegangen und hat die beiden Dramen geschrieben, bei denen nun niemand mehr an ihn selber denkt, die wir hinnehmen als selbstverständlich wie die Früchte eines Baumes.

Die Seiltänzer, Akrobaten, Taschenspieler und ähnlichen Leute nennen sich bekanntlich Artisten oder Künstler. Diese Redeweise gibt einen Fingerzeig für die falsche Auffassung des Künstlers, die bei uns immer noch herrscht und die wahrscheinlich in der italienischen Renaissance entstanden ist. Der Künstler ist den Leuten immer der Kunstfertige, der Mann mit einer bestimmten Begabung, der Mann, der etwas Merkwürdiges kann, was andere Leute nicht können; nur daß bei der eigentlichen Kunst dann an die Stelle des bloßen Kunststückes das Kunststück als Persönlichkeitsäußerung tritt. In dieser Philisterauffassung vom Künstler liegt auch der Grund für solche Untersuchungen über Kunst und Persönlichkeit.

In Wirklichkeit ist der Künstler aber ein Mann, der ein neues, zunächst nur in ihm vorhandenes Weltbild in sich trägt, das er dann mit schwerer Arbeit, so gut er kann, sinnlich darzustellen sucht; unter den Künstlern ist der Dichter der höchste, weil bei ihm die Sinnlichkeit am geistigsten ist, weil für seine Künstlerschaft also der ganze Mensch in Anspruch genommen werden muß. In unserer Zeit, welche von der Wissenschaft und vom Geldverdienen eine übertrieben hohe Vorstellung hat, klingt es ja etwas anstößig, wenn man das sagt; aber hat Schiller recht, daß der Dichter der einzige wahre Mensch ist: nun, dann wird es ja wohl bei ihm auch nicht ohne Persönlichkeit gehen.


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