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Die Seligkeitslehre

(1919)

Was ist Seligkeit? Ist sie ein Zustand nach dem Tode, ist sie eine Form unserer Seele, die wir schon in diesem Leben erreichen können?

Die Frage ist falsch gestellt. Was nach dem Tode mit uns geschieht, darüber können wir nichts wissen; wir können vernünftigerweise auch nichts darüber glauben, wenn wir das »glauben« so auffassen, wie es die Menschen heute tun, nämlich, trotz aller Verwahrung, als eine Art von Fürwahrhalten. Die Männer, welche die Religion selber erlebt haben, machen nicht einen solchen Unterschied zwischen der Seele in diesem Leben und der Seele nach dem Tode; denn Religion, welche innige Verbindung mit dem Ewigen ist, geht jenseits der Grenzen von Raum und Zeit vor sich, jenseits also unserer Vernunft in einem Bereiche unseres Geistes, in welchem das Heute und Morgen, Leben und Tod nichts bedeuten, in welchem sich die zufällige Seele selbst als ewig setzt.

Es ist unmöglich, Leuten, welche nie ein Kunstwerk erlebt haben, klarzumachen, was Kunst ist; es ist ebenso schwer, Leuten, welche nie Religion erlebt haben, Religion klarzumachen. Menschen, welche diese Erlebnisse gehabt haben, sind ungemein selten, unter Tausenden trifft man vielleicht einen. Trotzdem wird über Kunst oder Religion allgemein gesprochen; und wie man so spricht und handelt, als ob jeder, der zu den höheren Gesellschaftskreisen gehört, ein Mann sei, für den die Kunst etwas bedeutet, so benimmt man sich allgemein so, als ob jedermann im ganzen Volk religiös sei oder religiös sein könne. Dadurch geschieht viel Unglück. Denn es wird ein Ersatz, irgendein Gedankengespinst den Leuten gegeben, die Leute werden genötigt, diesen Ersatz aufzunehmen. Aus diesem Umstand ergeben sich Folgen, das Ganze wird unter »Kunst« oder »Religion« eingeordnet, und es hat doch mit Kunst oder Religion gar nichts zu tun; während Kunst und Religion den Menschen unter allen Umständen erhöhen, bewirken diese Ersatzmittel, wenn sie nicht auf Gleichgültigkeit stoßen, ein Herunterdrücken der Menschen.

Das deutsche Volk erlebt heute Tage bitteren Unglücks. Die Größe dieses Unglücks ist noch nicht zu ermessen; ganz unmöglich ist es nicht, daß es einen Umfang hat, neben welchem selbst die Folgen des Dreißigjährigen Krieges verschwinden; das ist keine Übertreibung, welche hier gesagt wird, das ist ein überlegter Satz.

In einem solchen Unglück ist der einzige Trost die Religion.

Wir wollen diesen Satz nicht falsch verstehen. Was uns jetzt nottut, das ist: unser Gewissen zu fragen, wo unsere Schuld sitzt, und uns zu ändern, da wo wir uns ändern müssen; die Wirklichkeit nüchtern und ohne die gewohnten Redensarten und Lügen zu betrachten und zu sehen, wie wir unser neues Leben einrichten müssen; und nach unserer klaren Überlegung unbeirrt und ordentlich zu handeln.

Aber das genügt nicht. Der höherstehende Mensch kann überhaupt nicht bloß leben durch sein vernünftiges Handeln in bezug auf die Dinge dieser Welt; der gewöhnliche kann es nur, wenn es mit den Dingen dieser Welt seinen ruhigen und glücklichen Fortgang hat. Der höherstehende Mensch muß immer sein Leben mit dem Ewigen verbinden, der gewöhnliche muß es in Zeiten der Not. Wenn also gesagt wird, daß in einem solchen Unglück, wie wir es heute erleben, der einzige Trost die Religion ist, so heißt das, daß die Gesamtheit außer ihrem vernünftigen und kräftigen Handeln noch jene höhere Verbindung suchen muß. Diese soll aber nicht in schwächlicher Weise die männliche Tätigkeit ersetzen.

Wir müssen die Dinge dieser Welt für uns wieder in Ordnung bringen, denn wir leben in dieser Welt. Aber ein Trost wird es für uns sein, wenn wir uns klarmachen, wie wenig sie eigentlich bedeuten, wie geringfügig sie sind neben dem, was uns kein Unglück rauben kann, der Verbindung mit dem Ewigen.

Die Lehren der Bergpredigt scheinen auf den ersten Blick mehr sittlicher Art zu sein als religiöser. Als sittlich werden sie alle jüngeren Menschen empfinden, als schwere Gebote, die uns zu erfüllen vorgestellt sind.

Der Jugend wird die Verbindung mit dem Ewigen schwerer als dem reiferen Alter; vielleicht kann man sagen, daß der Glaube ein Gewinn unseres Lebens sein muß.

Das Gebot, daß wir dem Übel nicht widerstreben sollen, steht im Mittelpunkt des Gedankenkreises der Bergpredigt: es wird ausgeführt in orientalisch witziger Weise durch die Beispiele des Backenstreiches, des Rocks und des gezwungenen Mitgehens. Unverkennbar ist der Zusammenhang der, daß diejenigen selig gepriesen werden, welche dieses Gebot erfüllen.

Der junge Mensch glaubt, die Lehre ist so, daß der, welcher das Gebot

erfüllt, selig wird; mit ihm glaubt das die große Menge der Menschen, und der Unterschied ist etwa der, daß die einen von einer jenseitigen Seligkeit träumen, die andern annehmen, daß sie den Lohn schon in diesem Leben in Gestalt einer neuen Seelenverfassung genießen.

Es braucht nur einer kurzen Überlegung, daß man die Unrichtigkeit dieser Ansicht einsieht. Faßt man das Nichtwiderstreben als ein Gebot auf, dann muß die vernünftige Antwort lauten: dieses Gebot kann niemand erfüllen. Ja, wenn Männer kommen, welche erklären, daß die Gesinnung unmännlich ist, welche auf Erfüllung eines solchen Gebotes zielt, so ist ihre Ansicht nicht so einfach von der Hand zu weisen, und man kann also mit Recht sagen: dieses Gebot darf niemand erfüllen. Der Irrtum liegt darin, daß der Satz kein Gebot enthält, daß er gar nicht sittlich gemeint ist. Er beschreibt einen Zustand und ist religiös gemeint. Die Seligkeit soll nicht die Folge des erfüllten Gebotes sein, sondern sie ist der Zustand der Seele, in welchem man ganz von selber dem Übel nicht widerstrebt.

Glauben muß man erleben, man kann ihn nicht durch Lehre übermittelt bekommen. Was eben gesagt ist, das kann kein Mensch verstehen, der es nicht erlebt hat; und weil so wenig Menschen den Glauben wirklich erlebt haben, deshalb wird auch die Seligkeit der Bergpredigt immer falsch aufgefaßt.

Wir kommen auf den Anfang unserer Betrachtung. Wenn in dem schweren Unglück unseres Volkes uns die Religion ein Trost sein soll, so ist das nicht so gemeint, daß sich nun die Kirchen füllen müssen und daß die Kanzelberedsamkeit eine große Bedeutung gewinnen wird; jedermann weiß ja, wie viel oder wie wenig Kirche und Kanzel mit der Religion zu tun haben. Es ist noch nicht einmal gesagt, daß die Leute wieder mehr in der Bibel lesen sollen, obwohl das immerhin kein Schade wäre. Es ist etwas Anderes gemeint: daß die Leute sich wieder darauf einstellen, daß sie den Glauben erleben können.

Bis hierher war der Gedankengang wohl den Menschen, welche sich »modern« nennen, fremdartig und schien ihnen veraltet. Aber man muß sich klar machen, daß die Dinge der Seele, seit es Menschen auf der Erde gibt, immer dieselben gewesen waren, und daß nur die Worte verschieden sind, in welchen man über sie spricht. Wir wollen nun mit den Worten der heutigen Menschen fortfahren.

Wir betrachten unsere Aufgabe biologisch. Je schwerer die Last ist, welche Einer zu tragen hat, desto größer muß seine Kraftaufwendung sein. In glücklichen Zeiten erschlaffen die seelischen Kräfte des Menschen, wie ihre anderen Kräfte; in schweren Zeiten werden die Menschen zur höchsten Kraftentwicklung gezwungen.

Ein Übel ist eine Schädigung des Menschen. Je geringer die Kraft eines Menschen ist, desto tiefer wird er jede Schädigung empfinden, und ganz natürlich wird er desto stärker durch Widerstreben sie abzuwenden oder auszugleichen suchen. Je höher die Kraft eines Menschen ist, desto geringer wird er die Schädigung fühlen, desto weniger wird er geneigt sein, dem Übel zu widerstreben. Ein Seelenzustand, in welchem man überhaupt nicht dem Übel widerstrebt, ist also ein solcher, in welchem die Seele ganz außerordentlich stark sein wird. Mit anderen Worten: wenn wir sagen, daß in unserem Unglück unser einziger Trost die Religion ist, dann sagen wir, daß wir unsere Seelen stark machen sollen.

Nachdem wir eine Weile mit den Worten der heutigen Menschen gesprochen haben, müssen wir wieder weiter gehen und Worte gebrauchen, welche wenigstens der größte Teil der heutigen Menschen nicht gebrauchen wird.

Wie können wir diese Stärkung unserer Seelen erreichen?

Wenn wir, wie wir ja müssen, die alten, herkömmlichen Worte beibehalten, so können wir sagen, daß die wichtigste Seelenkraft der Wille ist. Es wäre denkbar, daß es wissenschaftliche Untersuchungen darüber gäbe, wie man den Willen stärken und auf bestimmte Dinge wenden kann. Die Askese und sonstige Übungen, welche in den Religionen angewandt werden, wären die Ausübung einer solchen Wissenschaft. Aber diese Übungen werden von den höher gerichteten Gläubigen im besten Falle immer nur als Vorstufen bezeichnet; das Wesentliche ist etwas anderes: das Aufgehen unseres Willens in Gott. Wessen Wille in Gott aufgegangen ist, der wird dem Übel nicht mehr widerstreben.

Für dieses Aufgehen des Willens in Gott können wir keinen Ausdruck

aus der heutigen wissenschaftlichen Sprache finden. Es ist eine Verbindung von Einsicht – von Einsicht, die lebendig geworden ist – mit einem eigentümlichen Streben. Es ist ein Erleben, deshalb ist es nicht zu beschreiben. Was man sagen kann, das ist folgendes, das, wie man sich klarmachen muß, begrifflich gefälscht ist und deshalb durchaus nicht das Erlebnis ausdrückt.

Durch unsere vielen irdischen Wünsche verzetteln wir unsere seelische Kraft. Die Jugend ist die Zeit der vielfachen irdischen Wünsche; sie muß es sein, denn nur durch Wünsche und Wunschbefriedigung oder Wunschversagung lernen wir die Wirklichkeit kennen, die wir kennen müssen, wenn wir volle Menschen sein wollen. Wir müssen uns aber den verhältnismäßigen Unwert dieser Dinge klarmachen; nur klarmachen, denn wir fühlen ihn schon durchaus im Fortgang des Lebens durch die Enttäuschungen der Erfüllung, durch das zunehmende Wertloswerden immer größerer Teile unseres Besitzes. Es genügt, wenn wir bewußt leben, also die allgemeinmenschlichen Lebenserfahrungen ausnützen. Indem so die Verzettelung der seelischen Kraft immer mehr aufhört, sammelt sich die Kraft immer mehr. Von allen Gegenständen, auf welche sie sich wenden kann, bleibt ihr endlich nur der eine, auf den sie sich also gesammelt und mit höchster Stärke wendet, den unsere Vorfahren Gott nannten, und den nur eine Scheu uns hütet, ebenso zu nennen, weil der Name Gottes zuviel unnütz gebraucht wird. Hat dieser Zustand seine Vollkommenheit erreicht, dann sind wir selig. Es ist nun eine Selbstverständlichkeit, daß wir dem Übel nicht widerstreben, denn das Übel bedeutet uns ja nichts mehr.


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