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Möglichkeiten einer Kinokunst

(1913)

Alle Künste haben sachliche und handwerkliche Vorbedingungen, ohne die sie nicht hätten entstehen können. Der Gedanke liegt einer auf das Sinnliche gerichteten Zeit nahe, daß sie einzig aus diesen Vorbedingungen entstanden seien und nicht aus der menschlichen Seele, welche sich mitteilen wollte und nun diese sachlichen und handwerklichen Umstände als Mittel verwenden mußte. So kann diese selbe Zeit denn auf den Gedanken kommen, es müsse möglich sein, daß durch neue handwerkliche und sachliche Bedingungen ganz neue Künste entstehen könnten, die es früher nicht gab, weil es diese Vorbedingungen nicht gab. Derartige Ansichten sind ja immer recht einleuchtend, weil es da mit Ursache und Wirkung recht einfach zugeht und den Menschen restlos alles klar wird, während bei anderen Betrachtungsweisen vieles unklar und unerklärbar bleibt. Aber das Einleuchtende ist gewöhnlich das Falsche: tiefere Zeiten wissen das durch philosophisches Nachdenken oder verständig gemachte Erfahrung; wenn unsere Zeit das nicht weiß, so ist der Hauptgrund wohl darin zu suchen, daß sie mit ihren Interessen innerhalb des Gebietes des Einleuchtenden bleibt.

Schon einmal, vor etwa einem halben Menschenalter, kam man auf den Gedanken einer neuen Kunst, welche aus den neuen Verhältnissen geboren sei: der Plakatkunst. Der Unsinn stellte sich bald heraus; es zeigte sich, daß man allerdings geschmackvolle und zweckentsprechende Plakate machen kann an Stelle der geschmacklosen und unzweckmäßigen, daß man aber solche Betätigung im günstigsten Fall eben noch zum Kunstgewerbe zu rechnen hat. Heute, wo das Geschrei von der Veredlung des Kinos ertönt, hören wir dieselben Gründe, welche damals für die Möglichkeit einer Plakatkunst vorgebracht wurden – von derselben Art von Menschen – für eine neue Kinokunst vorgebracht.

Bei so plötzlich erwachter allgemeiner Anteilnahme ist es in Anbetracht der menschlichen Gebrechlichkeit immer gut zu fragen, wer den Vorteil von ihr haben kann, denn für die höheren Ziele der Menschheit pflegt die Anteilnahme ja selten so allgemein zu sein und so lebhaft zu erwachen. Da sieht man denn auf der einen Seite das märchenhaft aufblühende Filmgewerbe sehr lebhaft beteiligt. Stimmen von angesehenen Personen sind laut geworden, welche in ihm eine Gefahr für das Volk sehen, Maßregeln der Verwaltungsbehörden sind bereits ergriffen, und eine eindämmende Gesetzgebung wird verlangt, vielleicht auch schon vorbereitet. Es mag dahingestellt sein, ob in dem allgemeinen Auflösungsvorgang der heutigen Völker, in welchem ja Bedürfnis nach und Befriedigung durch Filmaufregungen nur eine Erscheinung sind, nun gerade das Kino so bedeutend sein kann, wie man denkt; jedenfalls wird es verfolgt, und es sucht sich naturgemäß zu schützen; der naheliegendste Schutz ist, daß es erklärt, es sei gar nicht so schlimm, wie es gemacht werde, es sei im Begriff, sich zu veredeln, es entwickle sich zur Kunsteinrichtung, und die ersten Geister der Nation seien an dieser Entwicklung zur Kunst beteiligt. Die ersten Geister auf der anderen Seite beteiligen sich denn nun wirklich, da das Filmgeschäft ja gut bezahlen kann, und so werden wir denn mit der neuen Filmkunst beschenkt.

Welche Mittel hat nun, so muß man fragen, das Kino für die Kunst zur Verfügung?

Es wird ein Ereignis oder eine Abfolge von Ereignissen durch Schauspieler pantomimisch wiedergegeben; die nächste Verwandtschaft hätte also die Filmkunst mit der Pantomime. Die Unterschiede sind folgende. Bei der Pantomime stehen wirkliche Schauspieler auf der Bühne, es entsteht also jene seelische Beziehung zwischen Zuschauerraum und Bühne durch die körperliche Wirkung des Schauspielers, die auch beim eigentlichen Drama stattfindet; das heißt, die Zuschauer fühlen auch Nichtausgedrücktes mit. Diese Beziehung fällt bei der Vorführung einer Folge von Augenblicksaufnahmen fort; um sich verständlich zu machen, muß der Schauspieler also übertriebener spielen als bei der Pantomime.

Zweitens: es hat sich erfahrungsgemäß herausgestellt, daß eine Kinoaufführung nur dann Vergnügen macht, wenn die Vorgänge sich schneller abrollen als in der Wirklichkeit; wahrscheinlich, weil der Zuschauer doch irgend etwas haben will, was das Bild grundsätzlich als unwirklich erscheinen läßt. Dadurch gewinnen die Vorgänge von selber schon etwas Groteskes, und man könnte geneigt sein zu der Annahme, daß Möglichkeiten für groteske Wirkungen beim Kino vorhanden sind, die es sonst nicht gibt.

Drittens: dadurch, daß man bei der Herstellung des Films Dinge fortretuschieren kann, welche für die Figuren und Bewegungen in der Wirklichkeit durchaus notwendig sind, entsteht die Möglichkeit besonders phantastischer Wirkungen; nicht phantastischer Wirkungen überhaupt, sondern nur jener Art von ihnen, welche auf dem Auslassen von Zwischengliedern ihrer Entstehung beruht.

Das Kino gibt uns also eine Pantomime ohne das seelische Band von Schauspieler und Zuschauer, aber mit gewissen eigenen Möglichkeiten grotesker und phantastischer Art.

Wir müssen nun zunächst sehen, was die Pantomime bedeuten kann. Wir haben hier das Glück, daß wir uns nicht auf die ja immer graue Theorie zu verlassen brauchen; seit undenklichen Zeiten hat es die Pantomime gegeben, wenn also hier etwas herauskommen kann, so müßte es irgendwann und irgendwo einmal herausgekommen sein. Davon hat man aber nichts gehört. Was man erfährt, das ist, daß zu gewissen Zeiten die Pantomime eine nicht sehr hoch geachtete Volksunterhaltung war, zu anderen eine gleichfalls nicht sehr geschätzte Unterhaltung vornehmer Kreise. Das ist alles. Man kann ja so etwas als Kunst bezeichnen und dann mit dem in solchen Fällen gerade beim Theater so gern angewendeten Fehlschluß darüber dieselben Aussagen machen, die man etwa über Goethes Iphigenie macht; im Bewußtsein der betreffenden Zeiten aber stand diese Kunst der Kunst des Wintergartens gleich, nicht der Kunst des Dichters.

Wo soll es denn auch herkommen? Gefühle und Empfindungen hat jeder Mensch; den Dichter unterscheidet es, daß er sie durch Worte schön darstellt und zu einem höheren sinnvollen Gebilde vereinigt. Das Wort ist das Mittel des Dichters, wie die Farbe das Mittel des Malers ist, und die allgemein anerkannte höchste Stellung der Dichtung unter den Künsten rührt daher, daß im Wort in eigentümlicher Weise Sinnliches und Geistiges, Anschauliches und Begriffliches vereinigt ist, so daß der Dichter alles ausdrücken kann, was den Menschen bewegt, der Maler und Musiker nur einiges.

Wenn ein Mann schreibt: »Adolf tritt auf, drückt durch Gesten seine Verzweiflung aus, erblickt einen geöffneten Brief vor sich liegen, hebt ihn mit dem Ausdruck der Neugierde auf, liest ihn, seine Mienen drücken nacheinander Erstaunen, Verliebtheit, Eifersucht, Haß aus...« und so fort, so ist da doch nichts gedichtet; es ist auch nichts gedichtet, wenn Auguste dazukommt, Adolf sie totsticht, die Schutzleute erscheinen usw. Ein guter Schauspieler kann so etwas ja sehr nett machen, und seine Leistung hat immerhin noch eher Ähnlichkeit mit der Schauspielkunst als die Leistung des Textverfassers mit der Dichtkunst; aber man mache sich doch nur bei einem guten Schauspieler klar, ob nicht neun Zehntel des Eindrucks, den er macht, durch seine Beseelung des Wertes kommen; mit der Mimik kann man immer nur eine Tatsache ausdrücken; erst das Wort erweckt der Tatsache die tiefere Anteilnahme, macht sie geistig, indem es sie lebendig macht und ihr die seinen Abschattierungen gibt. Ich bin durchaus nicht geneigt, das Theater zu überschätzen; aber bis zu einem gewissen Grade kann auf dem Theater doch ein Schauspieler, der zu den Füßen einer Schauspielerin sitzt, Hamlet zu Ophelias Füßen darstellen; in der Pantomime nur einen jungen Mann, der zu den Füßen eines jungen Mädchens sitzt, die Augen verdreht, die Hand aufs Herz legt und empfindsam ist.

Also: die Pantomime kann nichts wie eine Folge von Tatsachen darstellen.

Wenn die Schauspieler in der Pantomime nun seine, begabte Menschen sind mit Herz und Verstand, so können sie durch ihre Persönlichkeit vielleicht eine Wirkung über das Bekanntgeben von Tatsächlichem hinaus erzielen durch jene seelische Verbindung mit dem Publikum, von der oben die Rede war, die ohne das gesprochene Wort freilich unendlich schwer zu erzielen ist, weil gerade der Klang der Stimme die ersten Fäden zu ziehen pflegt.

Fehlt dieser Umstand beim Kino, so ist doch durch die größeren Möglichkeiten des Grotesken und Phantastischen vielleicht etwas Neues, Günstigeres zu schaffen.

Auch hier kann man, ehe man sich die Sache gedanklich betrachtet, sich an Tatsächliches halten. Die Amerikaner haben offenbar eine besondere Begabung für die Art von grotesker und phantastischer Kunst, welche hier in Frage stehen würde, nämlich für die, welche durch verstandesmäßige Entwicklung des Tatsächlichen entsteht und das Gefühl nur als allgemeinen Untergrund der gesamten Empfindung hat. Man denke an Poe und Mark Twain – natürlich sollen nicht etwa die Persönlichkeiten der Beiden verglichen werden, sondern ihre allgemeine Richtung. Nun hat das Kino eine besondere Förderung in Amerika empfangen; ist es nicht merkwürdig, daß sich dort keine Begabung gefunden, die aus ihren Bedingungen heraus etwas Besonderes entwickelt hat?

Ein sehr häufiger und immer dankbarer Vorwurf ist die Jagd hinter einem fliehenden Geschöpf (Tier, Radler, Dieb usw.), bei der es an Straßenecken zu Zusammenstößen kommt; ich denke aber, wenn man die möglichen Abwandlungen des Vorwurfs gesehen hat, daß man dann hinreichend befriedigt ist. Sollte es nur an der Geistesarmut der Verfasser von Kinotexten liegen, daß diese öde Gleichförmigkeit herrscht? Man kann natürlich nicht beweisen, daß nicht ein Genie kommen könnte, das hier etwas sehr Komisches und immer Neues zustande brächte; jedenfalls aber ist es bis jetzt nicht gekommen, und man sieht nicht, wie es kommen könnte. Manche dieser Versuche sind bloß abgeschmackt, zum Beispiel, wenn ein Film, welcher einen Zigarrenmacher darstellt, von rückwärts vorgeführt wird; das Groteske daran ist zu dünn, um für einen gebildeten Menschen auch nur über eine halbe Minute auszuhallen.

Mehr Glück wäre vielleicht bei jenen phantastischen Vorführungen anzunehmen, wo man an den Films retuschiert hat. Hierher gehört der Umzug, bei dem die Möbel sich von selber an ihre Stelle begeben und zuletzt ein Lampentischchen ratlos umherirrt, bis es seinen Platz findet. Ich habe einmal einen Pariser Film gesehen, wo ein hölzernes Pferd sich aus einzelnen Stücken selber zusammensetzte und dann zu galoppieren begann. Auch hier scheint doch aber nur wenig möglich zu sein; jener Umzug wird seit langen Jahren vorgeführt; und wenn der Film in seiner Art ja auch wirklich gelungen ist, als ein Kunstwerk kann man ihn schließlich denn doch nicht bezeichnen.

Es ist eben doch so, daß zur Kunst zunächst Geist gehört, und Geist findet sich nun eben nicht im Tatsächlichen. Wenn ein Albrecht Dürer mit wissenschaftlicher Genauigkeit ein Rasenstück malt, dann haben wir ein Kunstwerk, denn das kleine Aquarell ist aus seinem Gehirn und seinem Herzen hervorgegangen; wenn das Kino uns eine im Wind bewegte Wiesenfläche vorführt, dann haben wir kein Kunstwerk, trotzdem für den rohen Betrachter die Filmvorführung sicher eindrucksvoller ist als das unscheinbare Bildchen. (Es soll nicht damit behauptet werden, daß sie wie Ähnliches nicht an sich eindrucksvoll wäre.)

Unsere Zeit setzt ja überall an die Stelle der menschlichen Arbeit die Arbeit der Maschine. Heute beginnt allmählich den Menschen klarzuwerden, daß das Ergebnis – abgesehen von den Folgen für die beteiligten Arbeiter – doch sehr seine Bedenken hat, schon bei den einfachsten gewerblichen Gegenständen; überall wo wir eine seelische Beziehung zu dem Gegenstände haben wollen, wirkt die Maschinenarbeit roh und gemein. Im Kino wird der Versuch gemacht, die höchste Betätigung des Menschen, die Kunst, durch Maschinenbetrieb herzustellen. Daß der Versuch scheitern muß, ist ja klar; daß er aber gemacht werden kann, das ist eines der schlimmsten Zeichen der Verwilderung unserer Zeit.


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