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Wihelm v. Humboldt sagt einmal in einer unvollendeten Schrift »Theorie der Bildung des Menschen«: »Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Tätigkeit steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Wert und Dauer verschaffen will. Da jedoch die bloße Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben ... könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt außer sich. Daher entspringt sein Streben, den Kreis seiner Erkenntnis und seiner Wirksamkeit zu erweitern, und ohne daß er sich selbst deutlich dessen bewußt ist, liegt es ihm nicht eigentlich an dem, was er von jenen erwirbt, oder vermöge dieser außer sich hervorbringt, sondern nur an seiner inneren Verbesserung und Veredelung, oder wenigstens an der Befriedigung der inneren Unruhe, die ihn verzehrt.«
Die Geistesrichtung, aus welcher ein solcher Satz entspringt, mag man in Ermangelung eines genauer passenden Wortes als adelig bezeichnen. In ihr fühlt sich der Mensch als Zweck.
Wenn man heute Menschen fragen würde, ob ihr Leben so angelegt sei, daß ein solcher Satz von ihm ausgesagt werden könne, so würden nur sehr wenige mit Ja antworten, die meisten würden verneinen müssen. Je nach der Geistesverfassung der Befragten würde das Nein schmerzlich oder stolz ausfallen. Die einen würden bedauern, daß die Fülle der Berufsgeschäfte ihnen keine Zeit zur Ausbildung ihrer Persönlichkeit lasse: und die andern würden erklären, die Zeit der Menschen, die nur an Genuß dachten, sei vorüber, und wir lebten heute in dem Jahrhundert der Arbeit, der Pflicht und des Großgewerbes.
Einen Gedanken, welcher diesen Wandel erklärt, äußert Humboldt in einer andern Schrift »Über das Studium des Altertums«. Er sagt da: »Der Grieche in der Periode, wo wir die erste vollständige Kenntnis von ihm haben, steht noch auf einer sehr niedrigen Stufe der Kultur« (er meint Zivilisation). »In diesem Zustand wird, da der Bedürfnisse und der Befriedigungsmittel nur wenige sind, immer mehr Sorgfalt auf die Entwicklung der persönlichen Kräfte als auf die Bereitung und den Gebrauch von Sachen verwandt ... Es ist daher bei Nationen auf einer niedrigeren Stufe der Kultur verhältnismäßig mehr Entwicklung der Persönlichkeit in ihrem Ganzen als bei Nationen auf einer höheren.« Das Wort »verhältnismäßig« ist unterstrichen. Schiller, dem der Aufsatz vorgelegen hatte, schrieb am Rand hinzu: »Ganz gewiß, weil kultivierte Nationen durch Regeln, die immer etwas Allgemeines sind, Naturvölker durch Gefühle sich bestimmen. Die Vernunft« (er meint Verstand) »erzeugt Einheit und dadurch oft Eintönigkeit; der Sinn bringt Mannigfaltigkeit.«
Mit dem Tod Goethes und der Auflösung der Hegelschen Philosophie bricht der deutsche Idealismus zusammen. Zwei Mächte treten gleichzeitig in das Leben des deutschen Volkes ein, welche beide behaupten, seine Erbschaft angetreten zu haben: der Industrialismus und die sozialistische Arbeiterbewegung. Beide Mächte gehören zusammen. Durch wechselseitiges Ursachenverhältnis; sie gehören auch noch in tieferem Sinn zusammen. Dem Sozialismus wie dem Industrialismus
ist der Mensch nur noch Mittel und das wirtschaftliche Ding, welches er erzeugt, der Zweck; der Sozialismus will lediglich die Hemmungen beseitigen, welche dem Industrialismus dadurch anhaften, daß er noch eigenwirtschaftlich ist. Bei dem heute herrschenden Marxischen Sozialismus wird das nicht so klar; deutlich erkennt man das Ziel, welches auch er hat, wenn man Fourier, den zur Zeit jenes Zusammenbruches maßgebenden Sozialisten liest.
Man kann vielleicht nicht sagen, daß der Sozialismus neben dem Industrialismus herrscht; aber jedenfalls herrscht die Gesinnung, aus welcher beide Mächte entstanden sind. Diese Gesinnung ist der unserer klassischen Zeit gerade entgegengesetzt. Seitdem sie zur Herrschaft gekommen ist, haben wir aber unsere Bevölkerung verdoppelt, unsern Reichtum um das Vielfache gesteigert, alle Bedürfnisse und ihre Befriedigungsmittel vermehrt. Wir sind unzweifelhaft zivilisierter geworden gegenüber unserer klassischen Zeit. Es ist durchaus natürlich, daß wir heute mehr durch Regeln (Gesetze und Verordnungen) bestimmt werden als unsere Vorfahren, und daß dadurch – nicht nur dadurch – Einheit, wir klagen schon seit lange: Einförmigkeit erzeugt wird. Die Geschicke der Völker werden nicht bewußt geleitet; sie hängen auch nicht von etwaigen Fehlern und Irrtümern in ihrer unbewußten Entwicklung ab.
Die Behauptung, daß die herrschenden Mächte der Gegenwart die Erben unserer klassischen Zeit seien, wenn sie gerade das Gegenteil von ihr wollen, mag man auf sich beruhen lassen. Ob in dem deutschen Idealismus ein grundlegender Fehler war, durch den er zusammenbrechen mußte, mag man auch auf sich beruhen lassen. Die Deutschen zur Zeit Goethes und Schillers, Kants und Fichtes dichteten und dachten. Die Deutschen von heute erwerben Reichtum und erhöhen ihre Lebenshaltung; beides ist Wirklichkeit; und jede Wirklichkeit liegt in Gottes Hand und kann durch uns mit unsern unzulänglichen Mitteln nicht beurteilt werden.
Auch der einzelne Mensch, wenn er sein vergangenes und gegenwärtiges Leben betrachtet, kann zu keinem andern Schluß kommen wie ein ganzes Volk. Je tiefer wir in unsere Erlebnisse und Handlungen eindringen, desto deutlicher wird es uns, daß nicht die Richtigkeit oder Unrichtigkeit unserer Schlüsse unser Wollen, sondern daß umgekehrt unser Wollen die Nichtigkeit und Unrichtigkeit unserer Schlüsse bestimmte.
Aber wie der einzelne Mensch, trotzdem ihm das völlig klar sein kann, doch für die Zukunft auf Grund neuer Schlüsse andere Vorsätze zu fassen vermag, so vermögen es auch Völker. Es liegt hier für den Verstand ein Widerspruch, über den er nie fortkommen wird, über den das Gemüt uns ohne weiteres bringt.
Dieser Krieg ist im eigentlichen Sinne der Krieg des Industrialismus und der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft. Die Deutschen sind später in die Laufbahn des Industrialismus getreten als andere Völker; die Größe des möglichen wirtschaftlichen Reichtums ist begrenzt; obwohl die Grenze noch nicht erreicht ist, müssen doch andere Völker wünschen, uns in unsere frühere Lage zurückzuwerfen, damit durch unsern Mitbewerb nicht ihr Stück kleiner wird.
Über die Folgen des Krieges kann ja noch niemand etwas sagen; nur eine Folge ist ganz gewiß: eine ungeheure Abnahme des Reichtums in allen kriegführenden Ländern. Da der Befriedigungsmittel weniger werden, so werden denn also die Bedürfnisse nach dem Krieg wohl wieder herabgeschraubt werden müssen.
Man wird ja guttun, diesen kommenden Zustand schon jetzt ins Auge zu fassen, damit man nicht allzusehr überrascht wird, wenn er eintritt; man könnte vielleicht finden, daß er nicht gar so schlimm sein wird, daß er vielleicht sogar seinen Nutzen für uns hat. Unsere frommen Vorfahren glaubten: Wen Gott liebt, dem müssen alle Dinge zum Besten dienen; könnten wir nicht sagen: Wer es bewirkt, daß ihm alle Dinge zum Besten dienen, der liebt Gott?
Die Steigerung der Bedürfnisse in den Jahrzehnten etwa von 1830 an war nicht in der Weise erfolgt, daß die Menschen aus Erwägungen herausgefunden hätten, daß dieses oder jenes gebraucht wird; sondern sie war so erfolgt, daß die Befriedigungsmittel sich vermehrt hatten. Nicht weil die Menschen mehr gebrauchten, sondern weil ihnen mehr angeboten wurde, stiegen die Bedürfnisse. Notwendig mußte es dadurch kommen, daß nicht nur überflüssige, sondern sogar schädliche Bedürfnisse entstanden; und was das Merkwürdigste ist, daß solche Bedürfnisse, die bloß durch die Natur befriedigt werden, an denen also das Großgewerbe oder der Handel nichts verdienen kann, sogar unterdrückt wurden.
Es ist etwa sicher den Wünschen im Grunde gleichgültig, ob auf ihrer Treppe ein Teppichläufer liegt oder nicht; ich kann mir sogar denken, daß einem verständigen Mann sauber gescheuerte Stufen angenehmer sind als der Staubfänger; aber ob man in einer Mietswohnung wie in einer Reihe ineinandergehender Vogelbauer über einer Großstadtstraße wohnt, oder ob man ein Haus hat, aus dem tretend sich Einem die Brust weitet und man Erde und Himmel fühlt, das ist gewiß niemand gleichgültig. Ach, wieviel von unsern heutigen Bedürfnissen gleicht doch dem Teppich auf der Treppe, der uns in einen Vogelbauer führt! Welches Glück könnte es für die Menschen sein, wenn sie erst genötigt sind, auf manche Bedürfnisse von heute zu verzichten, wenn sie dann die überflüssigen und schädlichen Bedürfnisse aussuchten und die von sich würfen!
In den Anfängen der sozialdemokratischen Bewegung prägte Lassalle das Wort von der »verdammten Bedürfnislosigkeit des Proletariats«. Die Bedürfnisse des Proletariats sind außerordentlich schnell gestiegen, genau so schnell wie die Bedürfnisse der Bourgeoisie: Bourgeoisie und Proletariat sind ja ein siamesisches Zwillingspaar, das Schicksal des Einen ist immer auch das Schicksal des Andern. Nur daß der Bourgeoisie niemand eine Aufforderung zuzurufen brauchte, ihre Bedürfnisse zu erhöhen. Gewiß gibt es Arbeiter, welche sich gemüht haben, ihren Geist höher zu bilden; aber es kann doch niemand leugnen, daß der weitaus größte Teil der gestiegenen Bedürfnisse durchaus fragwürdiger Natur war. Der eigentliche Kern aller Leiden des Proletariats in Zeiten steigenden Absatzes, wie wir ihn doch die ganze Zeit durch hatten, ist in der Wohnungsfrage beschlossen. Wenn es den Proletariern etwa gelungen wäre, sich von der Mietkaserne zu befreien, auf genossenschaftlichem Wege Ansiedlungen von Wohnungen mit Gärten zu schaffen, die für ihre Lebensweise vernünftig eingerichtet wären, dann hätten sie nicht nur ein wirkliches Bedürfnis befriedigt, sondern auch ihrer Klasse einen Halt gegeben, die heute genau so wehrlos jeder Krise gegenübersteht wie vor 60 Jahren.
Humboldt sprach von den Griechen, also von Zeiten, die so weit entlegen sind, daß wir wichtige Einzelheiten besonders über wirtschaftliche Dinge aus ihnen nicht mehr wissen. Vielleicht hätte er sonst zu seinem Satz noch eine Ausführung gegeben, daß von einem bestimmten Zeitpunkt an offenbar den Menschen die vernünftige Leitung ihrer Bedürfnisse entfällt; und vielleicht hätte er gefunden, daß nicht die Steigerung der Bedürfnisse an sich den Erfolg hat, die Entwicklung der Persönlichkeit verhältnismäßig in den Hintergrund zu drängen, sondern die Steigerung der falschen und törichten Bedürfnisse.
In der bürgerlichen Gesellschaft nehmen nur solche Bewegungen einen großen Umfang an und wirken einheitlich, welche auf den Erwerb der Dinge, seine Sicherung und seine Vorbedingungen gehen; alles, was auf das Persönliche geht, bleibt notwendig vereinzelt und unzusammenhängend, und dadurch wirken solche Bewegungen dann vereinsmeierhaft und schrullig. Das ist aber kein Beweis gegen sie; wenn sie trotzdem überhandnehmen, dann ist das ein Zeichen, daß in der bürgerlichen Gesellschaft ein organischer Fehler sein muß. Fast alle Bestrebungen auf naturgemäße Lebensweise gehören hierher; je industrieller und proletarischer ein Gebiet ist, desto stärker sind in ihm auch diese Bestrebungen. Sie gehen alle auf Vereinfachung der Bedürfnisse, namentlich Ausschalten der schädlichen und törichten. Wenn die Schwierigkeiten, welche nach dem Kriege eintreten, den Erfolg hätten, daß diese Bestrebungen unterstützt und vielleicht durch eine große, allgemeine Bewegung aus dem sektiererischen Winkel herausgetrieben würden in das allgemeine Volksleben, so wäre das gewiß eine der segensreichsten Folgen des Krieges.
Das würde nicht nur eine Gesundung des Volkes bedeuten, sondern auch eine neue Einstellung der Seelen von dem bürgerlichen Ideal des Genusses auf das adelige Ideal des Seins. Die bürgerliche Ordnung der Gesellschaft hat alle Menschen freigemacht, daß sie wählen können, was ihnen angemessen ist: Es kann heute jeder ein Adelsmensch werden, wenn er nur will.