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Und siehe da: als der Lehrer in Freestedt, oben auf dem Deich, gestorben war, da kam ein neuer Lehrer dahin. Der hieß Wilhelm Boje.
Der hatte noch niemals ein Weib berührt, außer daß er einmal, wie aus Versehen, die Hand der Schwester eines Freundes berührt hatte, bloß um zu wissen, wie ein Frauenkörper sich anfühlt. Aber damals war er noch sehr jung gewesen; jetzt war er vierundzwanzig.
Er hatte sich auf die Zeit des ersten Amtes sehr gefreut. Er hatte es sich sehr schön gedacht, an jedem Tag nach der Schularbeit und nach einem Spaziergang auf dem Deich in den herrlichen Büchern zu lesen, die er sich als Seminarist mühselig zusammengekauft hatte. Die Geschichte von Odysseus, das schrecklich schöne Spiel von dem König Macbeth und dem Professor Faust, und die Geschichte von Robinson, und einige andere erschienen ihm wie klare Gläser, in die man hineinsieht, und sieh, man schaut das ganze Spiel der Welt.
Aber er wohnte noch nicht vier Wochen in dem leeren, stillen Hause, da wurde es März. Und da fiel er in Liebe.
Er wußte nicht, wie ihm geschah. Es war eine schlimme, selige Zeit.
Er stand eine Weile an seinem kleinen Bücherbord und griff nach einem Buch; aber seine Gedanken liefen gleich wieder aus dem Buch heraus. Er sah zwar noch hinein, aber er dachte nicht mehr daran; und plötzlich überfiel ihn eine so starke Freude, daß er das Buch rasch hinstellte, mit beiden Händen in sein helles Haar griff und vor lauter Lust aufschrie. So selig machte ihn der Gedanke an sie. So sehr liebte er sie schon, obgleich er sie noch nie mit seinen Augen gesehen hatte.
Oft ging er in die vordere größere Stube, die ganz leer stand, und malte sich aus, wie es werden würde, wenn sie hier mit ihm hauste. Da, an der Dielenwand, sollte das Sofa stehen; da wollte er abends mit ihr sitzen und sie herzen und küssen ... Von der Stube ging er auf die Diele und griff mit der Hand in den Schrank und sagte bei sich selbst: »Da wird ihr Sonntagskleid hängen ...« Er ging in die Küche und stellte sich an den Herd, seitwärts, daß er ihr nicht im Wege war; aber er hörte doch, wie sie schalt und sagte, sie könnte es nicht haben, wenn jemand bei ihrem Kochen zusähe ... Er ging in den Garten und rief sie, aber sie schwieg. Da suchte er sie und fand sie richtig hinterm Stachelbeerbusch kauernd. Er schalt sie, daß sie die unreifen Beeren aß; sie leugnete zwar, daß sie welche gegessen hätte; aber die Schalen, die auf der Erde lagen, verrieten sie. »Nein,« sagte er, »was bist du noch für ein Kind! Was für ein liebes, schönes, seltsames Kind bist du.« ... Abends bevor er schlafen ging, trat er in die mittlere Stube, die auch ganz leer war; aber in verliebter Sehnsucht sah er das Lager und sah sie daneben stehen. Sie war stattlich und voll junger Kraft, und hatte unter schwerem, hellem Haar, das lang und glatt herunterhing, stolze, fliegende Augen, die sahen ihn weder gut noch gnädig an, sondern mit einem klugen, klaren Blick. Aber dann hob sie plötzlich die Arme, wobei sie den ganzen Oberkörper hob, und legte sie um seinen Hals und war nichts als Güte; und er durfte das Schönste sehen, was Gott gemacht hatte ... So deutlich stand sie vor seiner Seele, obgleich er noch gar nicht wußte, wer sie sein würde. Es war eine selige, schlimme Zeit.
Zuletzt kam ein Tag, da er besonders unruhig war. Den ganzen Tag dachte er an sie und abends fand er sich, wie er sich über sein Bett beugte und mit einem sonderbaren freundlichen und lieben Ton, den er bisher nicht in der Kehle gehabt hatte, sagte: »Du ..., die Deern soll Heinke heißen und der Junge Piet.«
Da erschrak er und dachte: »Gott sei Dank, daß ich unter Menschen wohne! Und daß Mädchen wie Brombeeren wachsen. Ich will die suchen, welche ich meine, und will heiraten.«
Am andern Tag hörte er, daß drüben in Hilligenlei ein großer Bauerntanz wäre: da wartete er, bis der Hafenmeister Lau mit seinem Boot herüberkam, und fuhr mit dem nach Hilligenlei.
Als er im Tanzsaal ankam, sah er unter den jungen Mädchen, die da an den Säulen saßen, eine, die war dem Bilde, das er im Geiste trug, sehr ähnlich. Sie war von stattlichen Gliedern und hellem Haar; und wenn sie zum Tanz aufstand, trug sie ihre frische Schönheit wie ein Königskleid. Als sie oftmals an ihm vorübertanzte, sah er, daß sie schöne, tiefe Augen hatte, die wegen der Unschuld ihrer Seele stolz und unsicher zugleich waren; und er gewann sie noch lieber. Er versah sich so sehr in die Schönheit ihres starken Körpers und in die herbe Süßigkeit ihres kleinen hellen Gesichts, daß seine Seele freudig und liebevoll ihr entgegenflog.
Da traf es sich, daß sie in seiner Nähe vom Tanzen abließ und am Arm ihres Tänzers vorüberging und mit scheuen Augen nach den Männern sah und auch zu seinen Augen kam. Da irrte sie rasch mit den Augen weg – so schwirrt die Taube ab vom fliegenden Habicht – ging mit gesenktem Kopf weiter und dachte: »Was ist das für ein langer, schmucker Mensch und wie hat er mich angesehen ... Ach, wenn er doch mit mir tanzte.«
Es war aber ein unordentliches Tanzen im Saal, weil der junge Ringerang, der Wirt, so lappig ist wie ein nasses Handtuch. Die jungen Leute stürmten beim Beginn der Musik auf die los, die begehrt waren, so daß es jedesmal ein unwürdiges Drängen gab. Wilhelm Boje versuchte zweimal, bis an sie heranzukommen, mußte es aber wieder aufgeben und stand und sah finster drein.
Sie hatte ihn aus ihren Augenecken genau beobachtet. Und als sie nun wieder tanzte, dachte sie in wirrem, wunderlichem Weibssinn: »Ich tu' es – ich tu' es nicht, heut ist er da; nachher seh' ich ihn niemals im Leben wieder ... Ich tu' es! ...«
Da flog ihr Schuh zu seinen Füßen.
Sie schrie leise auf. »O,« sagte sie zu ihm, »ich bin aus meinem Schuh getanzt,« und wandte sich zu ihrem Tänzer. »Es ist aus und vorbei mit dem Tanzen, die Spange ist gerissen,« und verneigte sich vor ihm. Der ging. Denn er war noch jung und dumm.
»Wenn du nicht mehr tanzen kannst,« sagte Wilhelm Boje leise mit schwerer Stimme, »dann geh' mit mir.«
Sie legte die Hand auf seinen Arm, sah in den Schuh und glitt hinein und sagte leise: »Nicht nach den Stuben zum Weintrinken, sondern hinaus.«
»Ich geh' voran,« sagte er leise, »du kommst nach.«
Er ging und hatte unterwegs im Gewühl Aufenthalt; und fand sie nicht, als er aus der Tür unter die kahlen Kastanien trat, unter denen es dunkler war. Aber dann sah er sie an der schmalen Brücke stehen, die über den Burggraben in den Stadtgarten führte. Die Burg ist schon lange nicht mehr da.
Sie legte den Arm in den seinen und sagte: »Mein Vater ist hier in Hilligenlei. Wenn er mich sieht, schilt er.«
»Oh,« sagte er, »das laß jetzt.«
Sie lachte leicht auf: »Darf ich davon nicht reden?«
»Nein,« sagte er.
»Wovon denn?«
»Ob du mich leiden magst.«
Sie beugte sich im Gehen und sagte zögernd: »Magst du mich denn leiden?«
»Ich habe noch niemals ein Mädchen geküßt, du ... und noch keine im Arm gehabt. Wenn ich eine lieb habe, so ist das eine ernste Sache.«
Sie beugte sich wieder vor und sah wieder auf die Erde und sagte schüchtern: »Es ist auch für mich das Ernsteste auf der ganzen Welt.«
Da blieb er stehen und griff nach ihrer Hand und bat: »Sieh doch auf und sieh mich doch an.«
Aber sie hielt den Kopf gebeugt; sie scheute sich, ihr Gesicht zu zeigen, in welchem die plötzliche Liebe eine große Verwirrung anrichtete, wie sie wohl fühlte. Lichter fielen durch die wehenden Zweige und spielten auf ihrem Haar.
Da legte er seine Hand gegen ihr Stirnhaar und bog ihren Kopf zurück und sagte bittend: »Gib doch her,« und küßte sie scheu; und da sie mit heruntergeschlagenen Augen still hielt, küßte er sie wieder und wieder. Dann ging sie langsam neben ihm her, beide Hände an seinem Arm und zutraulich an ihn gedrängt, die Augen wieder an der Erde.
»Ist es deinem Vater nicht recht, daß du zu Tanz gehst?«
»Nein,« sagte sie, »er will uns alle behalten, daß er billige Arbeitspferde hat. Unser Hof ist schwer verschuldet. Meine ältere Schwester ist schon alt und kalt geworden.«
Er war ganz außer sich: »Das soll dir nicht widerfahren. Du? ... Du sollst nicht ledig bleiben.«
»Will ich auch nicht,« sagte sie. »Aber wer nimmt mich?«
»Ja, wen willst du? Sieh, darauf kommt es dann ja an! Komm' doch mal her mit deinen Augen. So, sieh doch auf und sieh mich an. Sei doch nicht bange ... So! ... Was hast du für klare, kluge Augen! Sag' mal, wie muß der aussehen, den du lieb hast?«
Sie sah ihn eine Weile unbeweglich mit freundlicher Neugier an; dann hob sie die Hände weich und scheu; sie wollte sie wohl auf seine Schulter legen, brachte es aber nicht fertig und sagte mit rührender Verlegenheit: »Ungefähr so wie du.«
Er streichelte sie und sagte: »Zu lieb bist du.«
Sie waren noch ganz darin versunken, sich in die Augen zu sehen, da kam ein Schritt unter den Kastanien her. Ein breitschultriger, arbeitsschwerer Mann ging vorüber und sagte mit einer eingerosteten Stimme: »Du kommst mit nach Haus.« Sie trat, ohne ein Wort zu sagen, von Boje fort und ging an ihres Vaters Seite den Baumgang entlang und verschwand.
Da ging Wilhelm Boje zu Fuß um die Bucht herum nach Freestedt und kam wieder in sein leeres Haus.
Am andern Tag dachte er: »Nein, wie zutraulich war sie, wie lieb und köstlich! Was für ein liebes, weißes Gesicht.« Am zweiten Tag malte er sich aus, wie nun diese, die er nun ja kannte, in diesem Hause wohnen würde, und ging durch alle Stuben und sah ihr zu ... Am dritten Tag kam ein Brief von ihr, mit krickeligen Buchstaben – es war unbegreiflich, wie das große, kluge Mädchen zu so kleinen, wirren Buchstaben kam. In nicht ganz richtigem Hochdeutsch schrieb sie: »Ich soll doch heiraten, meinen Vetter auf Krautsiel. Er hat einen kleinen Hof unterm Deich und braucht keine Aussteuer, sagt Vater; und sie können zur Pflugzeit zwei Pferde sparen, wenn sie zusammenspannen, sagt er. Der Vetter ist noch ganz jung und hat eine Hornhaut und fühlt sich nicht menschlich an; aber ich glaube, ich will ihn doch heiraten, denn was soll ich? So bin ich doch von Vater weg. Mein Fenster ist das letzte an der Deichseite, nach Westen hin. Aber was hilft das? Ich denke die ganze Nacht an den Lehrer von Freestedt und wollte schrecklich gern wissen, ob er mich noch lieb hat.«
Da zog er abends, als es dunkel wurde, eine starke Winterjacke an und ging an den Strand, machte das Boot vom Krabbenfischer Paulsen los und ruderte in die Bucht hinaus. Er konnte hoffen, vom Ebbstrom mitgenommen, in einer Stunde in Krautsiel zu sein, denn der Strom ging schräg über die Bucht darauf zu. Mit dem entgegengesetzten Strom wollte er morgens wieder zurückkommen.
Er kam richtig in den Strom, achtete genau darauf, daß die Lichter von Hilligenlei in der richtigen Stellung blieben, und warf sich in die Ruder. Als er nach einer Zeit, die er viel zu kurz taxierte, da seine Jugend, seine Gedanken und der Strom ihn gleicherweise fortzogen, aufsah, waren die hellen Lämmerwölkchen verschwunden, die da in Herden gestanden hatten; statt ihrer waren einzelne schwere, dunkle Kühe heraufgekommen, die grasten bedächtig über die Himmelsweide; der Deich zur Rechten, dessen dunkle, gerade Linie er vorhin noch deutlich gesehen hatte, war verschwunden. Da wurde er unruhig und legte sich gewaltig in die Riemen, ob er den Deich nicht wieder erreichen könnte. Ein scharfer, kalter Wind kam auf, dessen Richtung er nicht kannte. Es war nichts um ihn, als graue, schwarze Wellen, die stärker wurden und ruhevoller dahinrauschten, darüber ein etwas hellerer Himmel. Da fror ihn, und er schalt auf das Mädchen: »Sie soll büßen, was sie hier angerichtet hatte. Büßen soll sie es!« Ganz verdrießlich und ärgerlich gab er es auf, sein Ziel zu erreichen, und beschloß, bis der Morgen graute, so eben weg gegen den Strom zu rudern, damit er die Wärme hielte und nicht zu weit ins Meer getrieben würde.
Er hatte es aber kaum gedacht, da sah er schräg vor sich, gar nicht mehr weit, einen wunderlichen, hellen Lichtschein. Ein Lichtschein, so schien es ihm ... in einem Turm. Und der Turm ... wankte ein wenig hin und her? ... Und lag mitten im rauschenden Strom? ... Und das Licht war so rot und feurig und hing hoch oben, als wenn es an einer Decke leise schwankte? Er hatte Mund und Augen gleich weit offen, und ruderte mit großer Sorge vorsichtig – eins – zwei – darauf zu.
Plötzlich erkannte er es. Gott bewahre! Das Feuerschiff! Das Feuerschiff, das draußen vor der Bucht liegt! Gott bewahre! Soweit war er hinausgetrieben!
Er ruderte heran und fand ein Tau, machte sein Boot fest und kletterte an Deck.
Zwei Matrosen lehnten über die Reeling und sahen ihm zu, und der eine sagte: »Nanu? ... Woher kommst du denn? ...«
»Ich bin der Lehrer Boje von Freestedt,« sagte er, »ich wollte nach Hilligenlei hinüberfahren und verirrte mich.«
»Das ist nicht wahr,« sagte der Matrose, »du hast nach Krautsiel wollen zu Hella Andersen.«
Boje starrte in das hagere Gesicht des Matrosen, aus dem zwei kluge Augen aus heimlichen Tiefen leuchteten: »Wer bist du denn?« sagte er, »daß du das weißt?«
»Ich bin Thoms Jans ... Meine Frau hat es mir geschrieben. Die hat gesehen, wie Hella Andersen aus dem Schuh getanzt ist. Sie kennt Hella Andersen gut, weil sie da auf dem Hof gedient hat. Siehst du!«
»Was hat denn deine Frau bei Ringerang auf dem Tanz zu tun, während du auf dem Feuerschiff sitzt?«
»Wir haben schon drei Kinder, siehst du; darum verdient sie etwas dazu. Sie ist bei Ringerang Aufwartefrau ... Nun komm mit, du bist ja ganz verfroren.«
An der Treppe standen der Kapitän und der Bestmann, hörten mit Kopfschütteln, was Boje erzählte, und sagten zu Thoms Jans: »Du kannst ihn nachher an Land fahren.« Weiter kümmerten sie sich nicht um den Gast.
Der saß in der Kajüte auf der äußersten Ecke einer Seekiste, so, daß er den kleinen eisernen Ofen, der ein wenig warm war, zwischen den Knien hatte; und er klapperte mit den Zähnen und schüttelte sich vor Kälte. »Bist du schon lange auf dem Feuerschiff?« fragte er.
»Drei Jahre schon,« sagte Thoms Jans.
»Mensch!« sagte Wilhelm Boje, »sag doch bloß: wie kannst du das aushalten! Drei Jahre weg von deiner Frau? Ja, wenn du tausend Meilen von ihr weg wärst! Aber so? Zwei Meilen von ihr entfernt? Das muß 'ne Höllensache sein.«
»Ist es auch,« sagte der Matrose, »aber was willst du machen?«
»Was denn?«
»Ja, siehst du; erstmal ist in Hilligenlei wenig Arbeit zu haben. Im Winter hast du sechs oder zehn Wochen gar keine Arbeit; du weißt wohl, ganz Hilligenlei schläft. Na und dann ... ja ... sieh mal ... Wir bekamen in den ersten drei Jahren gleich drei kleine Mädchen; da dachte ich: soll das so weiter gehen? ...«
»Und darum gingst du auf das Feuerschiff?«
»Darum.«
»Und bist drei Jahre lang nicht bei deiner Frau gewesen?«
»Ich bin wohl dann und wann dagewesen ... so alle sechs Wochen; aber ich habe mich fern von ihr gehalten ... verstehst du ...«
»Das ist verrückt,« sagte Boje und nahm den ganzen Ofen und setzte ihn vorsichtig ein wenig näher an sich heran. »Ganz verrückt ... Was hast du nun von deinem Leben?«
»Ja,« sagte Thoms Jans und sah von unten aus den klugen, tiefen Augen auf Boje, »es ist schrecklich. Das ganze Leben ist nichts, gar nichts. Aber sieh mal ... wenn es nun ein Junge wird? ... Die drei Mädchen laufen wohl an einen ordentlichen Mann. Aber wenn es ein Junge wird?«
»Wenn es ein Junge wird? Was dann? Dann haust du auf'n Tisch, Mensch, und freust dich!«
»So? Was soll er denn werden? Sieh ... mir war als Kind so zumute, als müßte ich immer, immer lernen dürfen; ich konnte mich nicht satt lernen und lesen. Der Lehrer sagte zu meinem Vater: ›es ist ein Jammer, daß der Junge zu den Bauern muß‹; aber ich mußte dahin; zehn Jahre war ich alt. Das Lernen sollte gerade anfangen, da war es vorbei. Ganz vorbei ... Vor sieben Jahren, als ich eben von den Soldaten zurückkam, diente ich bei Hargen Jansen, weißt du, in Süderwisch. Der bekam Besuch von seinem Bruder, dem Pastor. Da mußte ich mit dem drei Tage lang durchs Land fahren, bald nach dem Strand, bald nach den Geestdörfern hinauf; er wollte einmal sehen, ob er die Spuren seiner Kinderfüße wiederfinden könnte. In den drei Tagen, da ich neben ihm auf dem Wagen saß und die Zügel führte, sprach er mit mir über alles, was die Menschheit angeht und was die Gelehrten darüber zusammengedacht haben: über Religion und Regierung und Parlament und Selbstverwaltung und über Handel und Industrie und Landwirtschaft. Aber er hat mir fast keinen Gefallen getan; denn als die drei Tage um waren und ich wieder in den Stall mußte und abends wieder allein in der Kammer neben dem Pferdestand saß, ohne Buch und ohne Blatt: ich sage dir, ich bin niemals in meinem Leben unglücklicher gewesen. Na, und so ist es noch, und so wird es bleiben. Weißt du, wie es ist? Du hast ein großes, leeres Haus im Kopf, ohne Scherwände, ohne Fenster und Möbel, und es wohnt niemand darin. Kannst du das verstehen? Na also! Und nun? Mädchen sind nicht so heißhungerig. Aber wenn es nun ein Junge wird? Soll der in dasselbe Elend hinein? Soll der auch sein Leben lang mit einem so großen, öden Haus im Kopf umherlaufen? Kannst du das verstehen? ... Na also ... Dann weißt du auch, warum ich hier auf dem Feuerschiff sitze.«
»Hast du deine Frau sehr lieb?« fragte Boje.
»Das kannst du glauben!« sagte Thoms Jans. »Sie ist ein liebes kleines Weib.« Er stützte den Kopf in beide Hände und grübelte vor sich hin.
Drei Matrosen kamen in die Kajüte und setzten sich. Der eine fing an, seine Pfeife zu reinigen, die beiden andern sahen zu. Sie sagten nichts.
Thoms Jans hob den Kopf und sagte so aus seinen Gedanken heraus: »Sag' mal, Zimmermann, hast du jemals im Leben eine glückliche Stunde gehabt?«
»Weiß ich nicht,« sagte der Zimmermann. »Ganz glücklich? Glaub' ich nicht. Vielleicht als ich ganz jung war.«
»Du mußt nachdenken,« sagte Thoms Jans.
»Ach, Mensch!« sagte der Zimmermann und bohrte an seiner Pfeife ... »Du bist neugierig wie ein Kind ... Ganz glücklich? ... Das weiß ich nicht. Ja ... Ich fuhr mal vor sechs, sieben Jahren, bald nach dem Krieg, als Matrose auf einem Frachtdampfer nach London: da hatten wir ein merkwürdiges Erlebnis ... Es war da ein Reisender an Bord, ein kleiner Mann, so ein bißchen jüdisch schien mir sein Gesicht. Der kam eines Abends, als ich Freiwache hatte ... wir stampften hart gegen einen Nordwest an ... zu uns ins Logis; Bob Stewens hatte gerade die Bibel aufgeschlagen; es war also wohl ein Sonntag Abend. Genug: der Mann kommt ins Logis, setzt sich, sieht das Buch da liegen und, hast du nicht gesehen? – schlägt er auf das Buch und sagt: ›Das Buch ist das beste auf der ganzen Welt, und doch ist es schuld daran, daß soviel Armut und Dummheit in der Welt ist.‹ Ja, so sagte er ... so ungefähr.«
Thoms Jans hatte den Kopf höher gehoben. Seine Augen sprangen in das alte buschige Gesicht des Zimmermanns: »Weiter.«
»Die Reichen und die Pfaffen,« sagte der Jude, »die streuen uns Sand in die Augen und die Bibel muß ihnen den Sand liefern. Ja, das sagte er. Das war seine Meinung.«
Thoms Jans starrte in Bojes Gesicht. »Was sagst du dazu, Schulmeister? ...«
»Es ist ein Sozialdemokrat gewesen,« sagte Boje. »Ich habe mal davon gehört. Ein Sozialdemokrat! Was geht mich das an! Denk lieber nach, wie ich nach Krautsiel komme.«
»Ja, was sagte er sonst noch? Er sagte, es werde anders werden. Alles anders! Und das bald!«
»Ich verstehe es nicht,« sagte Thoms Jans ...
»Verstehst nicht, Mensch? Alle gleich! Alle gleich! Das sagte er. Ein Reicher, sagte er, hat ein großes Feld und einen großen Wald, darum müssen zehn Arme mit all ihren Kinder verfroren und schüchtern auf der Straße stehen oder in engen Höfen wohnen, in welche die Sonne nicht hinein scheint. Ein Reicher hat feine Kleider, besieht sich die Welt, kauft seinen Kindern alle Bücher, die sie haben wollen; darum müssen zehn Arme mit all ihren Kindern in Druck und Dummheit dahin leben. Das wird alles anders, sagte er. Wenn da zwei Kinder in der Wiege liegen, sagte er, dann soll es nicht heißen: Grafenkind und Reichmannskind reiten voran und Arbeiterkind kriecht hinterher. Sondern beide aufs Pferd! Und nun: Wer kann reiten? Wer fällt vom Gaul? ... Versteht ihr? Damit die tüchtigsten Männer dem Volk vorwärts helfen. Versteht ihr? So sagte er.«
Thoms Jans war aufgestanden. »So?« sagte er, langsam und schwer. »Das sagte er? Und ... was sagte er? ... sind da denn auch Leute, die daran glauben?«
»In Hamburg und Berlin, sagte er ... da sind Tausende in ihren Versammlungen. Sie haben auch schon Abgeordnete im Reichstag.«
»Und das von den Kindern?« sagte Thoms Jans und starrte ihn an. »Die Grütze im Kopf haben, die sollen in die Höhe? Das hat er gesagt?«
»Das hat er gesagt.«
»Dann ...« sagte Thoms Jans ... »Urlaub habe ich ... dann will ich wahrhaftigen Gotts ... ich will ... weg vom Feuerschiff, und will es riskieren! ... Riskieren will ich es ... Und das auf der Stelle ... Ich ... ich will nach Hilligenlei. Komm, Schulmeister, ich bring' dich nach Krautsiel und geh' von da nach Hilligenlei.«
Der Zimmermann wischte sich um den Mund und sah die andern an: »Riskieren will er es?« sagte er ... »was will er riskieren?« Die andern schüttelten den Kopf ... »Da war mal einer auf unserm Feuerschiff,« sagte der Zimmermann, »auch so'n junger Kerl; der wurde stiller und stiller und starrte nach der Bake von Blausand hinüber, starrte und starrte. Mit einemmal, abends, so in der Dämmerung, sagte er zu mir: Zimmermann, sagte er, steht da nicht meine Frau? Da hielt er, – Gott steh' mir bei – die lange lattige Bake von Blausand, die wenigstens fünfzehn Meter hoch ist, für seine Frau. Da mußte ich ihn an Land bringen ... So'n Feuerschiff ist nichts für junge Kerle. Der Jans ist auch unklug geworden. Riskieren will er's ...? Was will er riskieren?«
Indes stiegen die beiden schon über die Reeling und ruderten mit Ablösung, und wurden von einem kalten Regen, der aufkam, tüchtig eingeweicht und kamen nach einer Stunde durchnaß in den Priel von Krautsiel. Schweigsam und verfroren trabten sie oben auf dem Deich entlang, gegen den harten Wind an, bis Thoms Jans sagte: »Siehst du? ... da unten, unter den dunkeln Pappeln? ... Das ist der Hof.« Und als der andere, ohne ein Wort zu sagen, seitlich den Deich hinuntertrabte, rief er ihm noch nach: »Greif zu! Sonst gibt der Alte die Deern nicht ab.«
Boje kehrte sich im Trab nicht um und sagte: »Sorg' du für deine eigne Sache; ich sorge für meine.«
Als er auf das Strohdach zulief, ehe er noch die einzelnen Fenster unterscheiden konnte, sah er Hella Andersen. Sie saß auf der Fensterbank, legte den Arm um ihn und erschrak. »O Gott, wie naß bist du und wie verfroren ... Du lieber Mensch! Komm rasch herein! Komm, du sollst in mein warmes Bett hinein! Komm ... Du stirbst vor Kälte.«
Da stieg er ins Fenster.
»Du!« sagte er und umfaßte sie fest. »Sag' mir, mußt du den Vetter heiraten, den Hornharten? Weil der Alte zwei Pferde spart?«
Sie nickte und klammerte sich an ihn. »Verlaß mich nicht, du!«
»Ich dich verlassen? ... Ich dich verlassen? ... Wie wunderschön bist du!«
Nun besuchte er sie sechs Wochen lang.
Da war es soweit, daß sie es ihrem Vater sagen mußte.
*
Und als die Zeit um war, wurde im langen Haus in Hilligenlei ein kleiner Knabe geboren. Als Rieke Thomsen ihn waschen wollte, erschrak sie und wandte sich an die Mutter und sagte: »Sieh mal ... er hat mitten auf der Brust ein flammendes rotes Mal, rund und groß wie ein Taler. Was ist das? Hast du dich versehen?«
Thoms Jans beugte sich zu seiner todmüden, kleinen Frau hinab und sagte: »Hast du gehört, Male?«
Sie tastete nach seiner Hand und sagte: »Ich habe die drei Jahre, die du weg warst, im Geist das Feuerschiff gesehen, besonders abends, wenn ich im Bett lag und nicht schlafen konnte, und sah immer das Licht, so groß und rund wie ein Taler.«
Als Rieke das Kind wohl besorgt in den Arm der Mutter gelegt hatte – es war so gegen Mitternacht – klopfte Hule Beiderwand, der am Sterbebett seines Bruders gewacht hatte, ans Fenster und meldete, daß über die Bucht herüber das Licht schiene. Da fuhr Rieke Thomsen, wie sie ging und stand, hinüber und half Hella Andersen von ihrem ersten Kind, einem starken Mädchen mit hellem Haar, gleich ihrem eignen Haar, das wirr auf dem Kopfkissen lag. Wilhelm Boje aber, ihr Mann, drückte ihre Hand so hart, daß sie ihn bitten mußte, sanft zu sein. So sehr freute er sich über das Kind, das sein schönes, scheues, leidenschaftliches Weib ihm geboren hatte.
Und auch diese beiden Kinder wuchsen auf.
Und der kleine Jans im langen Haus in Hilligenlei wuchs heran und war ein wenig zart, doch nicht unkräftig. Seine Eltern sah er nicht oft. Die Mutter ging zu Ringerang auf Arbeit; der Vater stand am Rand des Meeres über seinem Spaten. Wenn sie fortgingen, schlief er noch, wenn sie wiederkamen, lag er schon im Bett. Aber am Sonntag saß er auf ihrem Schoß und stand zwischen ihren Knien.
Bald kam eine Zeit, da griff er in das Kleid seiner Mutter und ging neben ihr am langen Haus entlang bis zur letzten Tür. Da saß eine ungeheuer große runde Frau; alles war rund an ihr, besonders, schien ihm, ihre Augen. Sie trank Kaffee mit braunem Zucker und gab ihm ein Stück davon und sagte zur Mutter: »Merkwürdige Augen hat der Jung'! Als wenn er sich verwundert! Ich mag den Jungen sonst ganz gern; aber diese Augen mag ich nicht. Was ist denn in der Welt zu verwundern? Ich will doch 'mal sehen, ob die Karten etwas wissen.« Aber die Karten wußten weiter nichts, als daß da nicht viel Geld läge. Da meinte die kleine Male Jans stolz: Darin läge das Glück auch nicht.
Zuweilen schob er seine kleine Hand in die große, harte Hand seines Vaters und ging bis zur nächsten Tür und trat in die Stube von Hule Beiderwand. Der gab ihm ein Stück Brot mit dicker Butter und eine alte biblische Geschichte, die wunderliche Bilder hatte. Während er dann am Fenster, auf dem Stuhl kniend und das Buch auf der Fensterbank, leise mit den Bildern redete, sprach Thoms Jans von seiner Hoffnung, daß die neue Partei, die Partei der Arbeiter, die ganze Welt heilig machen könnte und so den alten Glauben, der an der Bucht wohnte, vielleicht zur Erfüllung brächte. Aber der Alte war stöckrig geworden und sagte ganz halsstarrig: »Nein, nein, es soll hier an der Bucht, hierauf dem Deich ein Mensch hausen, der soll mit Macht und großer Gewalt aus dieser Landschaft ein Hilligenlei machen, d. h. ein heiliges Land ... So glauben wir.«
Und er rief mit seiner hohen, hohlen Stimme das Kind und sah es mit seinen stumpfgewordenen Augen an und schüttelte den Kopf: »Nein,« sagte er, »dieser wird es nicht sein; er hat so scheue Augen ... Der fürchtet sich« und er stieß es fast von sich.