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Zwanzigstes Kapitel

Gegen Pfingsten kam eine ungesunde Luft übers Land und viele Leute erkrankten und bald lagen in der kleinen Stadt Hilligenlei zehn tot auf der Bahre. Und die eine Bahre stand in der blau gekalkten Kammer im langen Haus, in der Kai Jans als Domschüler gehaust hatte; und darauf lag seine Mutter.

Sie hatte nicht viel über Schmerzen geklagt; aber sie wurde matter und matter, und am sechsten Tag, nachdem sie sich hingelegt hatte, merkte sie, daß sie sterben würde.

Als Thoms Jans noch einmal in die Apotheke lief, ein Tröpflein zu holen, ob es helfen würde, trug sie Heinke auf, sie solle Thoms Jans sagen, daß er die Kinder grüße. Sie wollte ihrem Mann noch nicht zeigen, daß es mit ihr zu Ende ginge, und wußte nicht, ob sie nachher noch die Macht haben würde, das nötige zu sagen. Dann gab sie Heinke auch noch den Auftrag, daß die alte Sielemannsche, eine alte, saubere Frau, sie waschen solle, und es solle niemand dabei zugegen sein, auch ihr Mann nicht. Und wenn das kleine Kind von Hans Köster, der im langen Haus als neuer Mieter wohnte, in ihrer Sterbestunde etwa schliefe, so müsse es geweckt werden, damit es keinen Schaden bekäme.

Als sie um Mitternacht sehr schwach wurde, sagte sie noch leise zu ihrem Mann: »Ich habe immer ein störrisches Wesen gehabt, darunter habt ihr gelitten; ich konnte aber nicht dagegen an. Nun weiß ich nicht, ob der liebe Gott mich brauchen kann.«

Da erst merkte Thoms Jans, daß seine Frau von ihm gehen wollte, und fing bitterlich an zu weinen.

Als allmählich das Sinken und Fallen anfing und das zur Seite weggetragen werden an einen stillen Ort: da sprach sie noch mit langsamer, schwerer Stimme von ihrem Sohn: »Er hat kein Glück auf der Welt. Aber nicht traurig sein darüber, Vater. Es ist besser als viel Lachen ... Ich wollte nur, er wäre bald fertig damit, wie ich jetzt.«

Das war das letzte, womit sich ihre Seele befaßte. Gleich darauf nahm der Gottesbote sie auf seine breiten Flügel.

Am zweiten Tag holte Heinke Boje Kai Jans vom Bahnhof ab und erzählte ihm, wie seine Mutter gestorben war.

Er ging schweigend neben ihr und sie sah ihn scheu an. Er war stattlicher in seiner Erscheinung geworden und ruhiger in der Art seines Gehens, und seine Augen waren tief und ernst. Sie fühlte deutlich, daß er nun ein ganzer Mann geworden war; sie fühlte aber auch, daß seine Gedanken nicht hier waren. Sie hatte ihn anderthalb Jahr lang nicht gesehen.

Als er vom offenen Sarg weg ans Fenster trat – sein Vater war in die Küche gegangen, ein wenig Abendbrot zurecht zu machen – trat sie schüchtern zu ihm und sagte: »Quält es dich sehr, daß du deine Mutter verloren hast?«

Er schüttelte den Kopf: »Nein,« sagte er mit ruhiger, tonloser Stimme. »Sie ist gegen siebzig Jahr alt geworden, hat viel Unruhe und Arbeit gehabt, aber auch viele gute Freude, und zuletzt einen guten Tod. Wie soll ich traurig sein? Sie hat alles gut überstanden; wer weiß, ob uns das gelingt, Heinke? Als sie noch lebte, habe ich oft gedacht, daß ein Unglück sie noch treffen könnte, nun ist sie geborgen. Wenn ich dennoch ein wenig traurig bin, so ist es, weil sie nicht erlebt hat, daß aus ihrem Sohn noch etwas Tüchtiges geworden ist.«

»Wir verstanden nicht alles, was sie zuletzt sprach,« sagte Heinke, »aber wir merkten wohl, daß sie ein gutes Zutrauen zu dir hatte. Und das haben wir alle, Kai, die dich kennen. Sieh, du gehst nicht wie andere einen Weg, der gebahnt ist; sondern du gehst durch Dickicht und über weglose Dünen. Aber zuletzt findest du, oder machst du dir einen schönen, hohen Weg.«

»Ach du!« sagte er und streichelte ihre Hand. »Du liebe Predigerin! Du hast immer eine Hilfe und einen Trost für mich.«

Er blieb drei Tage, bis er die Mutter begraben hatte, und dann noch einen Tag, und wohnte die letzten beiden Tage – es waren die Tage vor dem Pfingstfest – unter den Kastanien in der Giebelstube. Peter Volquardsen war zu seinen Eltern nach Ost-Holstein gefahren.

Als er vom Grabe zurückkam, ging er in die Stube hinauf und bald kam sie und brachte ihm den Kaffee. Er war so in Gedanken, daß er nicht hörte, wie sie eintrat. Als sie aber leise seinen Namen nannte, riß er sich heraus und kehrte sich um und sah sie an und sagte: »Du trägst dich jetzt noch stolzer als früher ... Ich habe mich immer sehr über deine Briefe gefreut, Heinke; besonders über die vom letzten Vierteljahr. Sie sind klug und weit und farbig. Aus dem Kinderspielplatz ist allmählich ein breites Land geworden.«

Eine rote, schöne Welle der Freude zog über ihre Wangen. »Daß du mir sagtest, daß ich zu meiner Natur Vertrauen haben sollte: das hat mir viel geholfen; und dann, daß ich bei den lieben Menschen in Hindorf war. Das habe ich alles dir zu danken.« Ein heißes Gefühl der Liebe stieg ihr in die Augen, daß sie feucht und dunkel wurden. Sie wollte ihm noch mehr sagen. Da sah sie, daß er schon wieder in andere Gedanken versunken war.

Nach einer Weile sah er sich in der Stube um und sagte: »Es scheint ein feiner Mensch zu sein, der hier wohnt?«

Sie erzählte ihm, daß es ein guter Junge wäre, dazu schmuck und fein, und wie sie sich täglich mit ihm unterhielte, und was sie trieben ...

Er besah einige der Bilder und sagte: »Ich sehe wohl auch gern allerlei Kunst; aber viel mehr bedeutet mir Menschenschicksal.«

»Ja,« sagte sie. »So bist du ... Ich bin anders,« sagte sie sinnend. »Mir sind fremde Menschen ziemlich gleichgültig; aber Natur und Kunst machen mir Freude.«

Er sah sie nachdenklich an: »Und wir sind doch so gute Freunde.«

»Ich denke,« sagte sie; »gerade weil wir so ganz verschieden sind, Kai. Der Mensch sucht sein Gegenstück.«

Er hörte nicht hin und sagte in Gedanken: »Ich bin von Natur und durch meine mühselige Jugend ein schwerfälliger Mensch. Das ist es.«

Nach einer Weile fing sie wieder an und fragte ihn: »Wie alt bist du jetzt?«

»Einunddreißig,« sagte er.

»Einunddreißig,« sagte sie langsam. Und dann zögernd ... »ich werde zweiundzwanzig.«

»Ja,« sagte er. »Du könntest nun heiraten.«

Sie sah ihn klar und ruhig an, mit dem Blick, der ihr und ihrer Schwester eigen war, als dachte sie: ›Paßt auf, meine Augen! Jetzt tut ein Mensch seine Seele auf.‹

Aber er sagte weiter nichts.

Da senkte sich eine leise Trauer auf ihre Seele: So! ... Nun weiß ich, daß ich niemals seine Frau werde ... Was nun? ...

»Alle deine Gedanken sind in Berlin,« sagte sie leise.

Das war wie ein Weckruf. Er wurde lebendig.

»Du solltest sehen,« sagte er mit wacher, voller Stimme, »was für ein Gewühl und für ein Gewirr es ist in dieser Zeit, nicht allein in Berlin, sondern im ganzen Land.

»Diese gewaltige wirtschaftliche Wandlung in diesen letzten dreißig Jahren! Ostelbien zieht nach Berlin, Hamburg und Westfalen. Hunderttausende ziehn mit ihren Frauen und lieben Kindern von der Heimat fort, wo der Himmel weit ist und der Wind übers grüne Land weht, darum, weil sie in elender Landlosigkeit und Unterdrückung gehalten werden. Und nun solltest du sehen, wie diese Leute da in Berlin hausen! Wenn sie aus ihren Häusern heraussehen, sehen sie nicht gegen grüne Kastanien und blankes Wasser, sondern gegen elende graue Mauern und dummglotzende Fenster. Sie selbst spielten einst in ihrer Kindheit am Rain und schrien am Waldrand; ihre Kinder spielen im sonnenlosen, tiefen Häuserschacht. Da kannst du dir denken, wie dunkel und wirr es in ihren Köpfen aussieht: mit welchen Gefühlen sie an den Gutsbesitzer denken, dem weit und breit draußen in der Heimat Wald und Feld gehören, darauf ihr Schweiß liegt; und an die Kirche, welche sie wandern ließ, ohne eine Tat und ohne ein Wort zu ihren Gunsten zu sagen; und mit welchen Augen sie auf den Reichtum sehen, der einige Straßen von ihnen entfernt sein eitles Pfauengefieder breitet.

»Zu dieser großen wirtschaftlichen Veränderung kommt der schwerste religiöse Wirrwarr. Die wissenschaftliche Forschung hat die beiden Kirchenlehren ganz und gar durchlöchert. Es sind nur noch hohle Gestelle, durch allerlei Drapierungen und Klugheiten aufrecht gehalten, als lebten sie noch. Aber der größte Teil des Volkes weiß, daß sie tot sind, und kümmert sich nicht mehr um sie. Und nun sind die Menschen ohne Religion, und darum mißmutig und verbittert, irr und wirr, ohne Friede und Freude, ohne Weg und Ziel.

»Und was für ein Wirren und Suchen in allen andern Stücken des Volkslebens, im ganzen Bereich der Sitte: in Kunst, in Erziehung, in Rechtsprechung, im geselligen Verkehr.

»Es geht, wie alle hundert Jahr, eine Zeit der Unruhe durchs Volk, ein Fieber, aber ein Fieber zur Genesung. Altes und Faules wird im fiebernden Blut verzehrt und ausgeschieden. Neues und Starkes und Frisches will werden. Es geht wieder ein Sehnen durch unser Volk, die drei gewaltigen Mächte, die es aus sich selbst erzeugt, die Obrigkeit, die Religion und die Sitte, zu verjüngen. Es geht ein Wille und Wunsch durchs Volk, zur Natur zu kommen: zu einer schlichten, schönen Religion, zur sozialen Gerechtigkeit, zu einem einfachen, edlen, germanischen Menschentum.

»Und sieh, Heinke: die Verjüngung und Erneuerung hat schon mit Macht angesetzt. Hier und da arbeiten und jubeln schon neue Kräfte. Viele Tausende sagen, sie sehen schon heiliges Land. Wie wird in der Bibel geforscht! Wie tapfer rührt sich die Regierung! Wie wehen die Fahnen der Arbeiter! Welch ein Leben in Kunst und Erziehung! Aber es ist doch noch ein schweres Wühlen und Wirren. Und es packt einen zuweilen eine Angst, daß wir doch den neuen Weg und das neue, schöne Land der Zukunft nicht finden, und das Suchen wieder aufgeben, und in den alten, starren Formen bleiben. Und wenn das geschähe, wäre es mit uns und unserer Zukunft vorbei.

»Und nun sieh: ich habe von meiner Kindheit an ein sonderbares Wundern gehabt, ein Nichtbegreifenkönnen dessen, was ich um mich sah. Freilich Wind und Wasser und Feld und Wald konnte ich verstehen; aber in dem, was die Menschen eingerichtet haben und wie sie miteinander leben, war mir vieles unbegreiflich. Ich sah in meiner Seele immer eine andere Welt; ich sah eine Menschheit, die heilig und rein war. Darum war ich ein stiller und verschlossener Junge. Nur zuweilen, wenn ich mich vergaß, riß ich die Tür meiner Seele auf, und schrie meine Verwunderung hinaus. Dann lachten die Leute. Ich habe viel in höhnische Gesichter sehen müssen, Heinke, von meiner Kindheit an bis jetzt. Nur zwei oder drei, Pe Ontjes und Anna, und dann du, und dann mein guter Freund in Berlin: ihr lachtet nicht, und habt mir dadurch in meiner Verlassenheit und Einsamkeit großes Gutes getan.

»Und nun sieh: in diesen letzten beiden Jahren ist mir zuweilen, als wenn ich mich hindurcharbeitete aus dem dunkeln Gewusel heraus zu einem hellen Ort. Es entsteht leise und schwach ein wenig Selbstvertrauen: daß vielleicht ich, über den die Menschen so oft gelacht haben, im Rechte bin, daß die ewige Macht mir keine unfruchtbare Wunderlichkeit gegeben hat, sondern eine Gabe, welche gute Frucht bringen kann: die Dinge der Welt mit Kinderaugen zu sehen und also natürlicher und klarer als andre Menschen. Und sieh ... da bin ich nun, auf dem Weg dieses Selbstvertrauens, weiter in die Dinge hineingegangen, habe über all das Wirren und Sehnen nachgesonnen und habe vor, meinem Volke zu zeigen, wie ich, mit meinen Augen, die vom Deich und von der weiten See kommen, das Leben meines Volkes ansehe: was unnatürlich und widersinnig und veraltet und tot ist und darum böse; und wie ich meine, daß es zum Heiligen und Gesunden kommen könnte. Ich wollte ein Buch schreiben von deutscher Wiedergeburt.«

»Tu das!« sagte sie lebhaft. »Dann wirst du fröhlich. Du grübelst und grübelst alles in dich hinein. Erzähle, schreibe, daß dein übervolles Herz frei und selig wird.« Sie sah ihn an und wunderte sich: so leuchteten seine Augen und so schön war sein liebes, ernstes Gesicht.

Aber rasch verflog ihm der Mut. »Ja,« sagte er, »wenn ich aber daran gehen will, und seh' die Menge der Dinge und das Gewirr darin, und weiß nicht, wo ich es anfassen soll, und finde nicht die Quelle aller Übel: dann kommt wieder der alte Zweifel! Was willst du eine so große Sache übernehmen!? Die Menschen werden erschrecken vor der Härte deines Urteils und vor der Gründlichkeit deiner Neuerungen. Sind da nicht große Gelehrte und Männer auf hohen Posten, von wo man weiter sieht, als vom Deich von Hilligenlei? Laß die das Neue bringen! Ich fürchte mich auch, daß mein Name in vieler Leute Mund sein wird. Wie schwer ist es, andern seine Seele zu zeigen und nachher dabei zu stehn, wenn sie ihren Spott damit treiben.«

So sagte er, und war wieder mutlos und bange, und war wie ein Mensch, der weiß, daß er, wider seinen Willen, tun wird, was ihm Schweres bringen wird.

Am Pfingstabend fuhr er wieder davon. Er bat sie, dann und wann nach seinem Vater zu sehen und die Freunde zu grüßen.

»Von Piet,« sagte sie, »hören und sehen wir fast gar nichts. Er geht ganz in seiner Arbeit auf und hat keine Zeit für uns. Er hat weiter keinen Gedanken als vorwärts zu kommen und bald erster Inspektor zu werden ... Ich weiß nicht,« sagte sie in Gedanken, »ob nun solch ein Leben richtig ist, ob man auf diese Weise das Beste vom Leben zu sehen und zu fassen bekommt?«

Aber er antwortete nicht.

Als sie auf dem Weg zum Bahnhof über den Immenhof kamen, wo man den Kippelgang hinunter sieht, machte sie ihn auf Tjark Dusenschön aufmerksam, der breit und ruhevoll nach seinem Schuppen hinunterging. »Der macht sich nicht soviel Gedanken wie du,« sagte sie.

Aber er sagte nur traurig: »Ich habe gar keine Gedanken für alte Bekannte gehabt, kaum für die Mutter. Ich habe immer an das andere gedacht.«

Auf dem Bahnhof drückte er ihr fest die Hand. »Nun, Heinke,« sagte er, »es bleibt bei der alten Freundschaft. Bist du in irgendeiner Not, so rufst du mich. Ich mache es ebenso. Nun wünsche mir eine gute Reise und ein gutes Jahr. Mögen wir ein Stück von Hilligenlei finden, Heinke!«

Das war sein Abschiedswort.


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