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So verging wieder ein Jahr.
Da kam ein schöner, sonniger Oktobertag mit frischem Westwind. Da gelüstete es Anna, am Nachmittag, nach ihrer Gewohnheit, zu ihrer Mutter zu gehen.
Als sie unter dem Fenster vorüber ging, hörte die Mutter den Schritt, und sah auf, und erkannte die Tochter, und sah mit den scharfen Mutteraugen, daß die Haltung ihres Kindes ein wenig anders wäre. Sie sagte aber nichts dergleichen, als nun der schöne Besuch herein kam, sondern redete dies und das: daß Piet geschrieben, und daß Hett Wäsche geschickt, und daß Heinke bei einer Freundin wäre. Anna Lau hörte zu und sah zuweilen hinaus, und zuweilen nach der Mutter, und in ihren Augen spielte ein leichter Schelm.
Da dachte die Mutter: Spielst du mit mir, spiel' ich mit dir, stand auf und ging nach der Kommode, die rechts von der Tür stand, kniete davor, und kam mit einem kleinen Stapel Wäsche wieder, setzte sich wieder hin und fing an, den Knopf anzunähen, der an dem Hemdchen noch fehlte.
Anna saß ihr gegenüber, sah zuweilen mit spiegelnden Augen auf die Hände der Mutter und dann wieder in Gedanken auf die Straße, auf der es voll großer gelber und roter Blätter lag; dazwischen lagen in geborstener dicker Hülle blanke, braune Früchte. So saß sie ruhevoll und sagte kein Wort.
Da kam Heinke vom Spaziergang zurück, nickte mit dem feinen blonden Kopf und sagte so in Gedanken: »Du da, Anna?« und trat an den Nähtisch der Mutter und suchte da etwas. Da sah sie die Arbeit, welche die Mutter in Händen hatte, und bückte ihre hohe Gestalt und ging hinaus.
Als Anna bald darauf auf die Diele trat, nach Hause zu gehn, kam Heinke aus der Kammer und hatte ein Buch in der Hand.
Anna nahm es ihr ab und sah hinein und sah, daß es ein Band Goethe war und sagte in bedrücktem Sinnen: »Das ist mir zu hoch. Pe Ontjes hat auch gar kein Interesse für so was ... Es ist schön, daß du Kai Jans zum Freunde hast; der kann dir vorwärts helfen.« Und sie legte das Buch auf den Tisch.
Heinke ließ es da liegen und sagte: »Ich bring' dich nach Haus,« und legte draußen mit einer scheuen und gütigen Bewegung ihren Arm in den der Schwester, was sie sonst nie tat. Da faßte Anna die Hand, die in ihrem Arm lag.
So gingen sie schweigend durch den Herbsttag, zwei hohe, schöne Frauen. Und im Gehen stießen sie mit den Fußspitzen gegen die reifen Kastanien, die da lagen, und Anna, die wohl zeigen wollte, wie gewandt sie wäre, bückte sich, ohne den Arm der Schwester loszulassen, und nahm eine Kastanie auf, die war geborsten, und die blanke, braune Frucht sah heraus; und ließ sie in Gedanken in Heinkes Hand gleiten. Einige große, rote Blätter fielen zu beiden Seiten. Der Tag war hoch und hell.
Da wurden Annas Gedanken schwer und sie fing leise an zu weinen: »Heinke,« sagte sie. »Ich habe dir nie gezeigt, daß ich dich lieb habe. Ich habe dich so herzlich lieb ... du mußt deine Seele in beide Hände nehmen ... es ist so schrecklich, wenn man sich ganz in eine Liebe hineinwühlt und muß sie nachher, wenn sie ganz tief drin sitzt, selbst aus der Seele reißen. Nimm dich in acht, daß du Kai Jans nicht so lieb gewinnst.«
Heinke ließ den blonden Kopf tief sinken und sagte leise: »Ich weiß, daß er mich gern hat ... und ich freue mich darüber; aber weitere Gedanken habe ich mir nicht gemacht. Ich bin erst neunzehn, Antje.«
»Dann hätte ich nicht davon reden sollen,« sagte Anna.
»Das kannst du gern,« sagte Heinke. »So kann ich mich ja in acht nehmen.«
»Du bist mir äußerlich ähnlich,« sagte Anna, »bloß deine Augen sind weicher und dein Haar ist ein wenig dunkler: so wird deine Natur wohl auch sein, wie die meine. Und bei solchen Menschen kann es eine Not werden, die Gott im Himmel erbarmen mag.« Ihre Stimme schlug wieder um und sie weinte.
Da merkte Heinke, daß ihre Schwester von erlebter Not redete, drückte ihr die Hand und sagte verwirrt: »Fürchte dich nicht meinetwegen. Ich freue mich über meine alte Freundschaft mit ihm und will mich nun noch mehr zusammennehmen als bisher. Ach, was habe ich für Pläne, die ich noch ausführen will!« Sie lachte leicht auf. »Was weiß ich von solch schrecklich großen Dingen als Lieben und Heiraten! Ich fühle mich noch sehr wohl in meiner Haut.«
Da beruhigte sich Anna.
Heinke aber wurde von dieser Stunde an zutraulicher zu ihrer Schwester und kam oft zu ihr gelaufen und half ihr, die schwerfälliger wurde, in ihrem Hausstand, und wurde in diesem Jahr weiblicher und reifer. Sie stand in banger, scheuer Heiligkeit, wie eine junge Birke allein in der weiten Heide steht. Es rührt sie keine Menschenhand; es rührt sie nichts als Wind und Regen.
Kai Jans ... Kai Jans rührte sie nicht an.
Wenn er sie angerührt hätte, wäre sie nach einem kurzen Augenblick seliger Verwirrung seine überglückliche Braut geworden; sie hätte gejubelt und gesagt: »Ich habe dich über alles lieb, schon lange Jahre.« Aber er dachte an so etwas nicht.
Er stand vor andern Dingen. In stiller Dorfeinsamkeit, unter vielen klugen und ernsten Büchern, in dem ernsten Amt, das ihn mitten ins Auf und Ab des Menschendaseins stellte, ging er, unter mühseligem, wirrem Kampf, ins Mannesalter hinüber. Von Kind an mit dem Sinn für das Natürliche, Schlichte, Wahre begabt, mit Adams Augen, und darum verwundert stehend in einer verschrobenen Welt, nun immer mehr mit dem Ernst des Mannes auf die Dinge sehend, erschien ihm alles, was er um sich sah, furchtbarer und unerträglicher. Der wirre Weg des einzelnen Menschen, die Kleinlichkeiten und Verlogenheiten der menschlichen Gesellschaft, die mühselige Existenz des Staates, der hölzerne, stumpfe Glaube der Kirchen, der langsame und blutige Weg der Menschheit: das alles stand mit dumpfen Augen vor ihm, und wenn er es ansprach, hatte es weder Rede noch Antwort.
Er ging in seiner Not über die Heide und in die Waldstriche, die seine Heimat begrenzen, und ging zur Bibel und zu andern klugen Büchern. Aber er fand keine Antwort.
Wortkarg, mit versonnenen Augen, in denen die Seele ihre leuchtenden Notzeichen aufgestellt hatte, kam er nach Hilligenlei. Er saß seinem Vater gegenüber und hörte zu, was der von Lebensläufen erzählte, und wurde nicht fröhlicher; denn wunderlich war ja dies alles und wirr.
Dann kam er zu Heinke Boje.
Er verlangte nicht von ihr, daß sie ihn ganz verstand. Er kam zu ihr, wie ein großer, von der Welt und seinem Gewissen geängstigter Junge zu einem lieben, reinen Freunde kommt.
Und sie, so ganz und gar ungelehrt, aber von schlichter und feiner Natürlichkeit, fand immer das Rechte. »Fürcht' dich noch nicht!« sagte sie. »Tu, was dein Freund dich bittet: Nimm seine Hilfe an und lern' noch ein paar Jahr in Berlin! Geh doch, Kai! Wir wollen es deinen Eltern schon deutlich machen, daß es richtig ist. Die werden es auch verstehen; sie sind ja kluge Leute.«
»Ja,« sagte er, »ich glaube, daß es richtig wäre, wenn ich ginge. Ich fürchte, daß die Kirche mich sonst in ihre Enge gefangen nimmt. Ich möchte mit freien forschenden Augen den Zustand meines Volkes kennen lernen, in dieser großen unruhigen Zeit, und sehen, was man tut und tun kann, ihm hindurch zu helfen.«
Einmal, als sie so mit ihm nach den Höhen hinauf ging, und er merkte, daß sie bedrückt war, fragte er sie. Sie wollte es erst leugnen. Dann aber sagte sie, daß die Mutter sie wieder einmal gescholten hätte. »Ich kann mich mit Mutter nicht vertragen,« sagte sie; »sie tadelt immer an meinem Charakter.« Sie schüttelte den Kopf, während ihr die Tränen in die Augen schossen. »Und als ich neulich in der Kirche war,« sagte sie, »predigte der Pastor über ewige Verdammnis und über die Hölle. Nachher war ich ganz verzweifelt. Ich weiß nicht, was ich von mir denken soll,« und sie ließ den Kopf hängen und weinte.
Da freute er sich fast, bei all seiner eigenen Not, daß er ihr auch einmal eine Hilfe bringen konnte, und redete eifrig auf sie ein und stärkte sie: »Sieh mal,« sagte er, »du mußt nicht unbesehen hinnehmen, was die Kirche, oder die Eltern, oder sonst irgendein Mensch sagt: ›Dies ist Sünde, und das ist Verkehrtheit!‹ und: ›Du bist ein häßlicher und ganz verkehrter und wunderlicher Mensch.‹ Ich sage dir: viele junge Menschen gehen trübe Wege, ja nicht wenige Selbstmorde junger Menschen haben darin ihren Grund: daß Eltern und Geschwister und Kirche und Gesellschaft und Vorgesetzte durch hartes und unverständiges Urteilen die Jugend, und besonders gerade das edelste Blut, gegen seine eigene Natur mißtrauisch machen, so daß sie einen verzweifelten Zorn auf sich selbst bekommen, ihr Dasein und Leben für verfehlt halten, und falsch oder bitter oder sauer werden, oder wohl gar aus der Welt stürzen. Kopf hoch, Heinke Boje; laß die Eulen über dich schreien, du lieber, sonniger Tagvogel! Bist du nicht aus edlem Blut? Ist nicht dein Vater aus dem alten Geschlecht der Tödien; und deine Mutter aus dem großen, langbeinigen Volk der Vogdemannen? Ach! Heinke Boje! sei stolz auf deine Erscheinung und deine Natur; sei sicher darin und bilde sie aus! Glaube, daß viel Gutes und Edles in dir sei! Dieser Glaube ist hundertmal besser als der, den die Kirche lehrt, daß wir allzumal zur Hölle verdammt seien. Liebe Heinke Boje: Erbsünde gibt es nicht. Erbübel gibt es und Erbgut. Erbübel hast du: du bist ein wenig leicht empfindlich und zornig und auch ein wenig bequem, und deine Nase ist ein wenig zu spitz; aber Erbgüter hast du mehr, eine schwere, schwere Menge: von deinem langen blonden Haar, bis auf deine feinen Knöchel, von deiner lieben Seele und von deinem klaren Geist ganz zu schweigen! Also: tu mir den Gefallen und hab Zutrauen zu dir! Denke dir, daß der gute Heiland zu deinen jungen Jahren sagt: Laß sie so weiter gehn: sie ist nicht fern vom Reiche Gottes!«
Da ging ein wonnig lachender, heller Schein über das zarte Gesicht von Heinke Boje, und Gott gab der träumenden Jugend das rechte Wort zur rechten Zeit – Heinke Boje: wie schön warst du in diesem Augenblick – »du«, sagte sie mit lachenden Augen: »Wenn es so um mich steht, daß ich aus gutem, altem Geschlecht bin und meines Charakters froh sein soll: so laß du auch dein Zögern und deine Mutlosigkeiten. Vertrau auch du dir, Feigling!«
Da sah er sie verwundert an und sagte: »Das sagst du mir gut.«
»Geh,« sagte sie, »wohin dein Wille dich treibt, und glaube, daß es zum guten Ende geht.«
Damit gingen sie auseinander.
Und dann kam er richtig eines Tages, als Neujahr vorüber war, durch Regen und nassen Schnee, von seinen Eltern her zu Mutter Boje und Heinke, und sagte, daß er nun nach Berlin ginge.
Und nahm Abschied.
Und als Kai Jans die Stube im Hindorfer Pastorat geräumt hatte, da zog Heinke Boje da hinein. Er hatte die Pastorsleute darum gebeten.
Unsicher wie eine Schwalbe, die zum erstenmal auf eine fremde Diele fliegt, kam sie unter das lange Strohdach. Das erste war, daß sie den Spiegel zerbrach, der links von der Haustür hing, als sie ihn mit zitternder Hand abreiben wollte; das zweite war, daß sie des Pastors Predigt mit Tinte beschüttete.
Als sie aber merkte, daß die Pastorsleute eines andern Menschen Natur und Charakter respektierten, ja, an anderer Art ihre Freude hatten, wurde sie zutraulich. Und als sie Zutrauen gefaßt hatte, wagte sie es allmählich, ihre Natur zu zeigen und sich ihrer zu freuen, wie Kai Jans sie ermahnt hatte. Und sie wurde sinnig und still fröhlich in sich, und wagte zuweilen vorsichtig ein kluges Wort und war zuweilen ein Schelm.
Und wunderte sich über sich selbst und verspottete sich: »Nein, Heinke Boje! Was bist du für ein kluges und gutes Menschenkind ... Heinke Boje! Du fährst jetzt mit deinen eignen jungen Pferden; fahr vorsichtig!«
In der kleinen Stube, die nach Südosten liegt, von der man weit, weit hinein sieht in die Marsch, las sie die Briefe, die Kai Jans ihr schrieb, und schrieb ihm wieder, und las weiter in den schönen, starken Büchern, die einst ihres Vaters Freude gewesen waren, und verstand sie wohl. Und der Pastor half ihr.
*
Im Anfang Mai gebar Anna Boje in dem Hause, das Pe Ontjes Lau von Reimers gekauft hatte, in der Südwester Stube, die nach dem Deich sieht, nachdem sie noch den Tag über den ganzen Hausstand besorgt hatte, gegen Mitternacht ihr erstes Kind. Es stand niemand an ihrem Bett als ihre Mutter, die ihr mit Ruhe und Umsicht half. Von Rieke Thomsen wollte sie nichts wissen. Mitten in der schweren Stunde, als ihre Augen im Zimmer umher suchten, blieben sie an dem Schiff haften, das über der Kommode an der Decke hing, und sie sagte zur Mutter: »Wenn es gut geht, soll Pe Ontjes die Nachricht an Torril Torrilsen schicken, daß er sich mit uns freut.«
Als zehn Tage um waren, und sie ihr Kind mit unendlicher Freude zum erstenmal selbst besorgt hatte, kam gegen Abend Heinke zu Fuß von Hindorf herüber, das Kind zu besehen. Und als sie es eben mit stillem scheuem Staunen besehen und sich gesetzt hatte, kam Kassen Wedderkop.
Wedderkop nahm auf die Umstände Rücksicht und dämpfte seine Stimme, vergaß es aber zuweilen, und rief dann um so lauter, und fiel dann plötzlich wieder in einen tiefen Flüsterton, so wie ein Junge von oben herab in einen tiefen, losen Strohhaufen fällt.
Pe Ontjes war trotz seiner jungen Vaterschaft ärgerlich, weil wieder einmal ein Ewer, der ihm Gerste bringen sollte, am Dänensand fest saß. »Ich wollte,« sagte er giftig, »ich könnte den Bürgermeister und die beiden fetten Ratmänner diese Nacht hindurch rund um den Ewer an Tauen aufhängen und im Wasser baumeln lassen.«
»Denn will ich dir was sagen!« sagte Wedderkop, »denn hänge noch einige mehr dazu. Der Bürgermeister ist ja ein schlimmer Geselle, ein Narr in einer Art von fürstlicher Aufmachung; er ist so eitel, daß er es nicht fertig bringt, eine Sache an und für sich zu beurteilen, sondern er denkt immer gleich an seine Person, welche Rolle sie dabei spielt. Aber die eigentlichen Herren von Hilligenlei sind er und die Ratmänner nicht. Das sind vielmehr Leute wie Heine Wulk und der Wirt Birnbaum. Die machen die Meinung und sind die Lehrer der Stadt. Heine Wulk mit seiner wirren Zeitung, und Birnbaum, der seinen vielen Gästen nicht allein Bier verschenkt, sondern auch seine gemeine und erbärmliche Ansicht über Gott und Welt und über alles Gute und Hohe beibringt: die sind die Herrscher über Hilligenlei.«
»Kommst du zuweilen in den Domklub?« sagte Pe Ontjes giftig.
»Ich war neulich da,« sagte Wedderkop. »Sie redeten gerade über Hausmäuse. Jeder Anwesende erzählte eine Mausgeschichte, die sein Eigentum ist, und auf die er stolz ist. Die andern saßen vornüber gebeugt und starrten den Erzähler an, nicht aus Interesse an der Geschichte: die kennen sie schon lange; sondern aus brennender Begier, nun ihre eigene Mausgeschichte erzählen zu können. Plötzlich, bevor der Erzählende seine Maus in Sicherheit bringen konnte, sprang die des andern auf die Bühne und biß der vorigen den Schwanz ab. So ging es reihum. Nachher kamen sie auf Politik.«
»Was haben sie denn da für Meinung?«
»Weißt du: Sie haben so den Standpunkt von Anno fünfundsiebzig, und fassen alles zusammen unter die Worte: die drei großen Dummheiten Bismarcks ... Und dann haben sie so ein Wort, so einen Witz, den sie immer anbringen. Sie sagen: ›Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser? Paßt man auf! Sie liegt bald im Wasser!‹ Dieser Witz ist aber, im Unterschied von der Mausgeschichte, nicht Eigentum eines einzelnen Mitglieds, sondern er ist gemeinsames Klubeigentum. Wenn ein Neuling oder ein Fremdling den Klub betritt, so bringt irgendeiner von ihnen diesen Witz an den Mann und dann sieht er sich mit stolzen, blanken Augen nach allen andern Mitgliedern um und sieht in lauter blanke, stolze Augen.
»Nachher kamen sie auf allerlei Anekdoten. Es waren fast lauter Zoten. Dies Anekdotenerzählen, Pe Ontjes, ist eine gemeine Seuche, die stark umgeht; die Geschichten treiben den Ernst aus dem Tagwerk und die Ehrfurcht aus dem Leben. Da im Domklub sitzen die alten Familienväter und die jungen, ledigen Männer beieinander, und lachen über die Gemeinheiten, und richten ihre eigenen Charaktere und die der andern zugrunde.«
»Nun,« sagte Heinke verständig, »aber die Handwerker ... die sind solide.«
»Ach, die Handwerker!« sagte Kassen Wedderkop ... »Entschuldige, Anna, die verdammten Koreaner ... Sieh mal,« sagte er flüsternd: »ich habe heute meinen Tischler beobachtet, wie er im Garten bei seinem Erbsenbeet stand und versuchte, eine tote Krähe an die Stange zu binden, die Vögel abzuschrecken. Mit dieser Unternehmung hat er sich den halben Vormittag beschäftigt. Wenn du etwas bei ihm bestellst, so bekommst du im besten Fall nach einigen Monaten etwas anderes, als was du gewollt hast. Es ist nichts mit den Handwerkern; es sitzt kein Vorwärtswollen in ihnen. Wenn ihnen einmal die ganze Kläglichkeit ihres jämmerlichen Lebens dumpf dämmert, dann berufen sie eine Sitzung der Schweinegilde oder der Totenzunft, und fahren da wild gegeneinander an und beleidigen sich; und der Vorsitzende, der Sattler Jenkner, muß abends mit Bedeckung nach Hause gebracht werden. Sie starren zu dem Narren von Bürgermeister und zu manchem faulen Akademiker hinauf als zu hohen Respektspersonen; sie sollten wissen, daß schlichte Tatkraft es weiter bringen kann, als träge Gelehrtheit.«
»Na,« sagte Heinke; »denn ist ja in Hilligenlei nichts Gutes.«
»Ja, was läßt sich von den Arbeitern sagen, Heinke? Die könnten am ehesten stolze, wache Menschen sein; denn sie haben ein hohes, ideales Ziel, man mag im einzelnen darüber denken wie man will. Aber sie halten sich nicht dazu. Sie meiden und hetzen einander. In keinem Stand ist mehr Neid als unter den Arbeitern ... Sieh, das ist die Bürgerschaft von Hilligenlei! Eine Herde von Narren und gutmütigen Schlafmützen. Donnerwetter, Pe Ontjes ... entschuldige, Anna, die Koreaner ... als ich ein junger Mann von siebzehn Jahren war – ich war doch nur eines kleinen Geestbauern Sohn: was hab' ich gesucht, ob ich einen Weg fände zum Vorwärtskommen! Wie habe ich mit wachen Augen mein Talentlein gesucht und es gefunden und es verwertet. Und du, Pe Ontjes, und Piet, wie habt ihr die Hälse gereckt! Weißt du was, Pe Ontjes? Wenn Daniel Peters' Regierungszeit in sechs Jahren abläuft, mußt du Bürgermeister von Hilligenlei werden.«
»Was?« sagte Pe Ontjes Lau entsetzt. »Ich, Bürgermeister von Hilligenlei? Ich Gänsehirte? Fuchs will ich sein!«
»Ach!« sagte Anna spöttisch. »Du und Fuchs! Sag' meinetwegen: Löwe!«
Er hörte zuweilen diesen Ton in ihrer Kehle und sagte ärgerlich: »Bin ich zum Fuchs zu dumm?«
»Ach,« sagte sie ... »sei nicht gleich böse.«
In dem Augenblick kam Heinke aus der Nebenstube, wo sie wieder am Kinderwagen gestanden hatte, und sah den Briefträger auf das Haus zukommen und sagte es Anna. Da ging die hinaus und kam mit einem schon aufgebrochenen Brief wieder und lächelte im Lesen.
»Von Piet,« sagte sie ... »er schenkt dem Kleinen das Taufkleid ... und ... nein! Hört doch ... Tjark Dusenschön kommt ... hierher nach Hilligenlei ... er hat das Haus und den großen Schuppen von Dittmar gekauft ... nein ... er will hier eine Fabrik anlegen; Piet meint: eine große, mächtige Wurstfabrik.«
»Nanu?!« sagte Wedderkop.
»Eine große Fabrik?« sagte Heinke.
»Das brauchst du nicht zu bemerken,« sagte Pe Ontjes ruhig. »Das versteht sich bei Tjark Dusenschön von selbst ... So! Also Tjark Dusenschön wird Bürger von Hilligenlei und Fabrikant!« Er lehnte sich nachdenklich in den Stuhl zurück.
Anna sagte spöttisch: »Mich soll verlangen, was das für ein Schwindel wird.«
»Schwindel?« sagte Kassen Wedderkop. »Warum so ohne weiteres Schwindel?«
»Anna Boje ist mit dem Urteil gleich fertig,« sagte Pe Ontjes ... »Hört ihr? ... Es geht schon los ...«
Man hörte ein schweres Trampen, wie von einem trabenden Elefanten; mit dumpfem Poltern und Schlagen kam es näher. Anna konnte noch mit rascher Hand den guten Stuhl zur Seite schieben und einen geringeren hinstellen und die weiße Decke zurückschlagen: da stand Jan Friech Buhmann in der Tür, groß und furchtbar und rußig wie immer.
»Tjark Dusenschön ist da!« sagte er, und atmete mit Mühe und warf seine schwarze Mütze auf die Erde. »Weiter sag' ich nichts. Er ist Millionär ... Es geht alles in Erfüllung.«
»Was?« schrie Wedderkop und sah erstaunt auf das Wunderbild.
»Alles, was Rieke Thomsen immer gesagt hat: daß Tjark Dusenschön Hilligenlei groß machen wird. Steuerfreiheit, Hafenregulierung, das Geldschiff im Dänensand, alles geht in Erfüllung. Er ist verkleidet hier gewesen und hat das Gewese von Dittmar gekauft und wohnt bei Ringerang und hat seine Großmutter besucht. Ich sage dir, die alte Stiena wogt und tanzt! Als er aus ihrer Wohnung heraus kam und schon die halbe Hafenstraße hinauf war, kam sie aus der Tür geglitten und rief: ›Tjark ... Tjark ... komm noch einmal zu deiner Ohma.‹ Da horchte ich auf, und da habe ich mit ihm gesprochen. Es geht alles in Erfüllung, alles, was Hule Beiderwand einst gesagt hat.«
»So ...« sagte Pe Ontjes Lau und stand auf. »Und nun meinst du: wenn er kommt, der Herr Fabrikant, der Herr Dusenschön, dann soll ich ...? Ich sage dir: ich schmeiß' ihn hinaus! Der Mensch hat mir in meiner Jugend Not genug gemacht.«
Und damit ging Pe Ontjes Lau, der Gewaltige, an seine Arbeit.