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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Ein Vierteljahr später, als Heinke Boje in Ostholstein neben der Mutter von Peter Volquardsen beim Morgenkaffee saß, den blitzenden Brautring an der Hand, bekam sie den ersten ausführlichen Brief von Kai Jans. Er kam aus Kapstadt. Sie fuhr auf und lief nach oben in ihre Schlafkammer und las mit scharfen Augen. Die beiden Reisenden waren in Kapstadt von Bord gegangen und wollten nun nach einem wohlüberlegten Plan die ganzen englischen Kolonien bis nach dem Krokodilfluß hinauf bereisen. Zwei Jahre sollten dazu verwendet werden. Danach wollten sie, wenn es möglich wäre, über Land nach unsrer westlichen Kolonie hinüberziehn. Der Brief hielt sich aber bei dieser Sache nicht lange auf, sondern plauderte bald von allerlei persönlichen Erlebnissen, alten und neuen, größern und kleinern, und von der Stimmung, mit der sie aufgenommen waren, oder welche sie hervorgebracht hatten, und gaben der Leserin ein buntes, lebendiges Bild von der Seele des Schreibers. Es war der Brief eines Menschen, der die Entsagung fertig gebracht hat und seinen einsamen Weg mit stillen, ernsten Augen tapfer geht. Einmal nur gab eine kleine Wendung einen Ton wie von heißem Jammer um das Verlorene; aber er verklang gleich und rasch hinter einem schelmischen Spott.

Sie war überglücklich über den Brief. Sie hatte gefürchtet, daß er sich doch verbittert von ihr abwenden könnte und kalt und fremd schriebe, oder daß er vielleicht über seine große Not klagte. Aber nun schrieb er so lieb zugleich und so tapfer. O, sie hörte es aus den ernsten und aus den schelmischen Worten, wie lieb und wie tapfer! Sie las den Brief durch Tränen wieder und wieder, und setzte sich gleich hin und schrieb einen langen Brief zurück, der voll war von ihrer großen Freude und heißen Freundschaft.

Von da an gingen freundliche, inhaltreiche Briefe hin und her. Sie dachte zuweilen mit großer Sehnsucht an ihn; aber meistens mit guter Ruhe, wie ein Mensch, der ein schönes, reiches Gut in Händen hat, und eins in der Fremde; er weiß aber, daß es ihm unverloren ist. Sie freute sich wie ein Kind auf den fernen Tag, da er einst wiederkommen würde. Das sollte köstlich sein! Wenn er als ihr Gast an ihrem Tisch säße! Was für ein lieber Gast! Wie wollte sie ihn verziehn! Wie wollte sie necken und schelmen, und aufmerken, was ihm lieb oder leid wäre.

Und eines Tages meldete sie ihm, daß sie nun mit ihrem Freunde zusammen hause, und wiederum eines Tags, daß sie ihr erstes Kind erwartete, und wiederum eines Tags, daß sie einen kleinen Knaben geboren hätte. Mit heißer Freude, mit heimlichem, bangem Stolz hörte sie aus seinen Briefen, wie schwer die Nachrichten ihn getroffen hatten. Sie wollte ja und begehrte ja heiß, daß er sie lieb behielte, immer, immer. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß eine andre ihn besitzen, und daß sie vergessen sein könnte. Und sie schrieb ihm in rührenden Worten, wie glücklich sie wäre, das Kleinod seiner Liebe zu besitzen, und daß sie eine wunderschöne Hoffnung hege: einst, wenn sie beide älter geworden und ruhige Leute: dann wollten sie Haus an Haus wohnen: »Und dann kommt jeden Morgen, jeden Morgen, eins von den Kindern, und bringt Dir zum Morgengruß eine Blume, und an jedem Abend sitzt Du bei uns unterm selben Lampenschein.« Er ging in seiner Antwort auf diesen Gedanken ein und malte ihn wieder und wieder aus, bald in drolliger Schelmerei, bald in so ernster, lebendiger Art, daß sie heiß aufschluchzte.

So vergingen drei und ein halbes Jahr. Sie lebte in köstlicher Einigkeit und Glückseligkeit mit ihrem Mann, freute sich mit ihm an ihrem Kinde, das nun schon zwischen ihnen beiden hin und wieder lief und mit klugen Augen auf die Bilder sah, die der Vater ihm zeigte, und erwartete ihr zweites Kind.

Um diese Zeit brachten die Zeitungen die ersten Nachrichten von dem Aufstand in unsrer Kolonie, der uns soviel edles Blut gekostet hat. Sie waren aber wegen ihres Reisenden ohne Sorge; denn er hatte in seinem letzten Brief geschrieben, daß sie wegen der hohen Kosten und der Jahreszeit darauf verzichtet hätten, auf dem Landweg in die Kolonie zu kommen; sie würden über Kapstadt-Swakopmund dahingelangen. Als sie aber dann zehn Wochen lang ohne Nachricht blieben, fingen sie doch an zu sorgen.

Da endlich kam ein Brief. Sein Freund schrieb von Windhuk aus an die »Freundin seines lieben Freundes« ... »Wir entschlossen uns doch, da wir Begleitung von Buren fanden, mit Wagen durch Griqualand nach Großnamaland zu kommen, und erreichten es auch glücklich und schickten uns an, von den Buren wegzugehen, um einige Farmen zu besichtigen. Da kam in der Nacht ein Kolonist an unser Feuer, zu Fuß, flüchtig, und meldete uns, daß er überfallen wäre, und daß seine Frau mit drei Kindern im Busch umherirre. Da standen Kai Jans und ich auf, trennten uns sofort von den Buren und schlichen im Schutz der Dunkelheit mit dem Flüchtling an seine Wohnstätte heran und suchten und fanden im Busch seine Frau und die Kinder und wanderten nun in Tag- und Nachtmärschen, zu Fuß, über heißen, trocknen Sand und Fels, oft fast verdurstet, immer in Gefahr, nach Norden zu. Während dieses Marsches hat unser Freund sich zu sehr angestrengt. Sie wissen, daß seit der Zeit, da er auf der Klara Matrose war, Herz und Lunge nicht sehr stark sind. Dazu ließ seine lebhafte Phantasie ihn in den Nächten unserer Flucht auch dann nicht schlafen, wenn wir andern die Wache übernommen hatten. Dazu war er immer bereit, das kleinste Kind zu tragen, einen kleinen dicken Jungen, der immerfort weinen wollte. Genug, als wir in Rehoboth ankamen, wo einige Sicherheit war, bekam er eine schwere Lungenentzündung. Diese Krankheit, welche rasch und heftig verlief, ist nun ziemlich gehoben; aber der Arzt weiß doch nicht, wo es mit ihm hinausläuft, da sich nun erst zeigt, wie sehr das Herz angegriffen ist. Ich habe eine leidlich gute Gelegenheit benutzt, mit ihm hierher nach Windhuk zu kommen, und will ihn von hier, wenn der Arzt es irgendwie gestattet, nach Deutschland bringen, damit Sie und die Heimat und ihre Heilquellen ihn wieder gesund machen.

Nun nehme ich mir die Freiheit, Ihnen noch folgendes zu schreiben: Ich wußte seit dem Anfang unserer Reise, daß mein Freund ein schweres Leid trug, obgleich er kein Wort zu mir darüber gesagt hatte. Aber sein Benehmen zeigte mir, was sein Mund nicht sagen wollte. Er war zwar für gewöhnlich so, wie Sie ihn kennen: wahren und klaren Geistes, für die Zustände des fremden Landes interessiert, immer freundlich, immer hilfreich, ein Freund der Menschen. Aber wenn er allein war und sich unbeachtet glaubte, fand ich ihn oft in wunderlicher Stimmung, zuweilen zusammengesunken, einen stillen Gram im Gesicht, wie ein Mensch, dem alle Hoffnung gescheitert ist, zuweilen aber mit glänzenden, weltfernen, glücklichen Augen, wie ein Mensch, der im Geist in weiter Ferne seine Liebe in Glück und Freude lachen und spielen sieht. Ich wußte nicht, was es war, das ihn in so verschiedene Stimmungen hineinbringen konnte; doch dachte ich mir schon lange, daß beide, die verzweifelte wie die fröhliche, mit Ihrer Person zusammenhingen; denn wenn er auf Jugend und Heimat zu sprechen kam, sprach er zuletzt immer von Ihnen.

Aber am ersten Tag in Rehoboth, am Spätnachmittag, als er merkte, daß eine schwere Krankheit in raschem Anzug war, und er noch eilig einen Brief an Sie schreiben wollte, das aufbrausende Fieber aber seine Hand fliegen machte und er die Feder hinwerfen mußte: da sagte er mit dem Ton vollständiger unruhiger Mutlosigkeit, daß er viel Schweres im Leben besiegt hätte, er hätte sogar mit alten und mächtigen Geistgewalten tapfer gefochten; aber eins könne er nicht bezwingen und nicht zu gutem Ende durchfechten: daß er Sie verloren hätte, und zwar durch seine eigene Torheit.

Ich bin ein nüchterner und fast kalter Mensch – er sagt, daß er mich gerade darum zu seinem Freunde gemacht habe, daß ich sein wildes, heißes Blut kühle –: ich sagte ihm, daß ein Gefühl der Zuneigung ins Ungeheure wachsen könne, wenn die Sehnsucht und eine lebhafte Phantasie es täglich nähre. Aber er antwortete mir, daß er Sie von Ihrer Kindheit an kenne. Und obgleich er gegen Ihre Fehler, welche die Fehler Ihrer Familie wären, nicht blind wäre, bedeuteten Sie doch für ihn von Ihrer Kindheit an alles Schöne und Liebe und Reine.

Ich will Ihnen von seiner Krankheit weiter nichts erzählen, als daß er in seinen Phantasien noch immerfort einen Knaben tröstete, den er durch den Sand und den Busch trug; es war aber nicht jenes Kind, sondern das Ihre, das Sie erwarten. In einer wunderbaren Wirrung des kranken Geistes brachte er es zu Ihnen, durch weite Landstrecken, auf mühsamen Wegen, mit schwerer Anstrengung gehend, während Sie in der Ferne standen und herübersahen und ihn schalten, daß er so langsam vorwärts ginge.

Ich fand hinten in seinem Tagebuch, das er mir übergab, einige Aufzeichnungen, welche ich diesem Brief noch anfüge. Zuerst einige Anmerkungen zum Leben des Heilandes, welche darauf absehn, daß einige Rauheiten im Stil verschwinden und einige Härten gemildert werden. Die andern Aufzeichnungen beschäftigen sich mit seinem Verhältnis zu Ihnen. Wohl in der Absicht, in seinem Leid in jedem Augenblick Tröstung und Stärkung zur Hand zu haben, hat er die Erwägungen zusammengestellt, die ihm das eine oder das andre bringen. Ich nenne diese: ›Weil Gott mich und sie vor schwerer Not bewahren wollte, sorgte er, daß ich sie nicht bekam; denn ich soll bald sterben ... Ich bin es allein, der leidet; sie beide leben durch meine Entsagung in reinem Frieden ... Ich muß leben und tapfer sein, damit sie einen Helfer haben, wenn sie vielleicht einmal in Not kommen ... Wie mancher arme Verschmähte hörte nicht ein einzig freundliches Wort von seiner Geliebten; ich aber bin ihr lieb und wert; das sehe ich aus jedem Brief ... Ich will glauben, daß meine Not einen guten Zweck in sich selbst trägt: sie wird mich ernster und heiliger machen und stark zu meinem Werk ... Ich will an ältere Tage denken, wo ich einst ihren Umgang ertragen, ja mich köstlich daran freuen kann ... Wenn sie meine Frau wäre, hätte ich bei jedem Herzklopfen und bei jedem Schmerz in der Schulter Angst, daß ich lange krank würde oder stürbe; nun aber bin ich ein Mensch, der ewigen Macht immer gewärtig, sie bringe gesunde oder kranke Tage oder die Sterbestunde.‹

Ich schreibe Ihnen dies alles und schicke es mit der Post, die übermorgen fällig ist, entweder, damit Sie ihm schreiben können, was Sie nach diesem für richtig halten, oder, im andern Fall, damit Sie über seinen ganzen Zustand unterrichtet sind, wenn ich vielleicht nach einigen Wochen depeschiere, daß ich ihn nach der Heimat zurückbringe.«

So lautete der Brief des Freundes.

Drei Wochen später kam eine Depesche: »Jans 21. Mai Hamburg.«

Da fuhren die beiden Menschen, die ihm vor allen und von Kind an am nächsten standen: Heinke Volquardsen und der Kornhändler Lau am 21. Mai, morgens in aller Frühe, nach Hamburg.

*

Als Pe Ontjes Lau gleich nach der Ankunft vom Gasthaus nach dem Hafen herunter kam, um sich zu erkundigen, sah er den Dampfer, wie er langsam an Blohm und Voß vorüber elbauf ging. Er fuhr eilig nach dem Afrikakai und kam fast mit dem Dampfer zugleich an und ging an Bord.

Er ließ den Arzt herausbitten und fragte ihn, ob Jans da wäre und wie es mit ihm stände. Der junge Arzt sagte, daß die Seefahrt der Lunge sehr gut getan hätte; sie sei wohl ganz wieder heil; aber das Herz ließe noch sehr zu wünschen übrig. Es könne sich wieder kräftigen, ja nach einer gelungenen Kur an einer Heilquelle wieder ganz gut werden; es könne aber vorläufig auch jeder Tag das Schlimmste bringen. Er wollte hineingehen und den Besuch anmelden; hoffentlich bringe er nur Gutes.

Da ging Lau hinein und war mit ihm allein. Er lag auf dem Bett und war mager und stark verfallen, so daß Lau erschrak. Er verbarg es aber und setzte sich auf den Stuhl am Bett und behielt seine Hand in der seinen.

»Wie bei Kap Horn,« sagte Kai Jans.

»So ähnlich!« sagte Lau. »Ich soll dich von allen grüßen,« sagte er. »Zuerst von deinem Vater.«

»Was macht der Alte?« sagte Kai Jans und lächelte. Er dachte an die Briefe, die er von ihm bekommen hatte, in denen er bald in drolliger Weise von Hilligenlei, bald in etwas überschwenglichen Worten von seinen religionspolitischen Hoffnungen sprach.

»Er steht nichts aus,« sagte Lau. »Er hat das kleine Stück Zinsgeld von der Hindorfer Sparkasse und die Altersrente, und dann und wann noch einen kleinen Arbeitslohn: das macht zusammen soviel, daß er jeden Tag eine Mark zu verzehren hat. Er ist wieder, seit du ihn gesehen hast, etwas kleiner geworden, auch wieder etwas magerer; aber ich sage dir: wenn er tief in der Mütze sitzt und die Augen funkeln gleich unterm Schirm, und die kurze Pfeife ist im Gang: es gibt nichts Großartigeres in Hilligenlei. Ich sage manchmal zu Anna: Du und Thoms Jans, jeder in seiner Art: ihr seid die Fürstlichkeiten am Ort. Er liest die Arbeiterzeitung wie zuvor und bleibt bei der Partei. Aber er ist nicht ganz waschecht; er kann sich von der Bibel nicht trennen ... er kann sozusagen ... vom Feuerschiff nicht weg, auf dem er in jungen Tagen ein Grübler und Bibelleser gewesen ist.«

»Wie geht es Anna und ihren Kindern?«

Pe Ontjes Lau schmunzelte: »Siehst du,« sagte er: »wir, ich meine die Kinder und ich, kennen ja jetzt ihre Nücken und kommen leidlich gut mit ihr aus. Sie quält sich natürlich damit, daß ihr Mann nicht der reichste und angesehenste und gelehrteste Mann in Hilligenlei ist – eigentlich könnte sie ja von Gott verlangen, daß es so wäre – und daß ihre Kinder nicht die klügsten und ersten in der Schule sind. Das Mädchen hat einen raschen, hellen Geist, wie sie; aber der Junge ist langsam, wie ich. Wir haben unsere Not mit ihr, Kai, und werden sie immer haben; es ist, als wenn ihr Geist unbehauen oder doch ungeglättet geblieben ist. Und sieh: da hast du uns etwas geholfen. Als sie damals, vor vier Jahren, das Leben des Heilands gelesen hatte, das Heinke von dir bekommen hat, war sie eine Zeitlang weicher, gerechter und ruhiger. Neulich aber kam der Junge zu mir in die Schreibstube, stellte sich dicht neben mich und spielte so etwas mit dem Lineal und sagte so nebenbei: ›Du, Mutter ist wieder so hochfahrend und so scharf, gestern und heute ... weißt du was ... du mußt heute abend mal das Gespräch auf das Leben des Heilands bringen. Vielleicht liest sie es mal wieder.‹«

Kai Jans lächelte: »Aber glücklich seid ihr doch!« sagte er.

»So! So!« sagte Pe Ontjes. »Ihre und unsre ganze Not ist, daß sie uns so überhitzig lieb hat.«

»Und Piet?«

»Piet? ... Piet hat immer noch kein andres Interesse als: erwerben, erwerben. Er ist nicht glücklich dabei ... aber es ist, als wenn etwas andres in seiner Seele nicht vorhanden ist. Er hat eine Deutschamerikanerin geheiratet, die ihm ähnlich ist und uns fremd.«

Kai Jans lag eine Weile still, mit halb geschlossenen Augen, und dachte an seinen Jugendfreund. Dann glitten seine Gedanken zu Tjark Dusenschön und er fragte nach ihm.

»Er ist hier in Hamburg und soll irgendeinen guten Posten als Privatbeamter haben. Ich glaube, beim Begräbniswesen. Mach dir um den keine Sorge: so einer kommt nicht um.«

Kai Jans schwieg und lag wieder eine Weile, ein wenig müde, und Pe Ontjes saß bei ihm. Dann wurde er aber wieder wach und sagte: »Hast du sonst noch einen Gruß für mich?«

»Heinke ist hier, Kai.«

»Kommt sie denn hierher?« sagte er leise. Und plötzlich ... er wollte es aufhalten, konnte es aber nicht, fing er heiß an zu weinen und sagte unter Weinen: »Lieber Pe Ontjes ... Ich bin kein Weichling, aber ich bin noch schwach von der Krankheit.«

»Weiß ich, mein Junge ... weiß ich ... wenn es nicht anders geht, wein' man.«

»Ich habe nicht geweint seit dem Tag auf der Goodefroo.«

»Weiß ich, mein Junge ... Du brauchst dich nicht zu schämen; die Geschichte ist schlimm genug.«

»Es ist das Härteste, was ein Mensch erleben kann,« sagte Kai Jans, »wenn man das Liebste, was man hat, meiden muß.«

»Kann ich verstehn, mein Junge.«

»Ich habe dagegen angekämpft: das kannst du glauben. Aber oft, wenn ich so ganz allein war, so verlassen und dachte mich da hinein: wie lieb sie ist und hörte ihre gütige Stimme und sah ihre Augen, dann nahm der Gram fast überhand.«

»Ich denke, es wird nun besser, Kai,« sagte der große Pe Ontjes mitleidig. »Du wirst dich daran gewöhnen, sie dann und wann zu sehen. Dann wirst du ruhiger werden.«

Er wurde ein wenig stiller. »Ja,« sagte er. »Da es nun einmal so gekommen ist, muß ich mich freuen, daß sie und auch ihr Mann so freundlich mit mir sind. Ich will es noch lernen, mich an ihrem Glück zu freuen.« Er fuhr mit der Hand über die Augen und lag still. »Es ist ja auch möglich,« sagte er dann, »daß ich nicht lange mehr lebe; dann hat alle Not ein Ende.«

»Ach,« sagte Pe Ontjes, »rede nicht davon: Du gehst nach Wiesbaden oder nach Nauheim und wirst wieder gesund und wirst wieder ein frischer, starker Mann und bist in der Weise tätig, wie du es dir nach deinem Leben des Heilands zurechtdenkst.«

»Ja,« sagte er ... »ich will sehn ... ich möchte noch viel tun ...«

Man hörte einen Schritt draußen auf dem Deck und eine Frauenstimme.

»Ich habe ihr gesagt, daß sie mir nachkommen soll, wenn ich nicht wiederkomme. Ich glaube, sie ist da ... Ich bleibe auf dem Schiff ... Ich wollte dir noch sagen, daß sie ihr zweites Kind erwartet ... So, sei tapfer und ruhig.«

Er ging nach der Tür und trat hinaus und sie kam herein.

Sie ging gleich auf sein Bett zu und fing an, ihn zu streicheln, und obgleich sie sich fest vorgenommen hatte, daß sie ruhig bleiben wollte, fing sie doch an zu weinen und streichelte ihn und sagte: »Lieber, lieber Junge ... siehst du ... nun ist die Heinke hier ... nun sag', was soll sie dir zuliebe tun? Sag' es, was soll ich tun?«

Er sah mit strahlenden Augen zu ihr auf: »Freundlich mit mir sein,« sagte er. »Ich bin zu glücklich, daß du so mit mir ... Sind sie gut mit dir.«

»Wer, Kai ... Peter Volquardsen? Der ist immer derselbe geblieben, Kai ... Immer lieb, und immer klug und fein.«

»Dann ist ja alles gut,« sagte er. »Dann ist es nicht vergeblich gewesen.«

»Nein,« sagte sie, »nicht vergeblich. Du hast eine Menschenseele vor bösem, finsterm Weg bewahrt und eine andre vor schlechtem Gewissen. Nicht vergeblich! Aber du mußt tapfer sein. Was nützt es sonst, wenn du nicht tapfer und fröhlich bist?« Sie beugte sich über seine Hand und drückte sie gegen ihr Gesicht und sagte mit schmerzlichem Weinen: »Wenn du es nicht erträgst und an deiner Liebe zu mir zugrunde gehst, das kann ich nicht ertragen. Dann ist all mein Glück dahin.«

Er nickte ihr zu: »Ich bin immer tapfer gewesen,« sagte er. »Habe ich dir nicht immer gute Briefe geschrieben?«

Sie strich ihm mit weicher Hand das Haar an Stirn und Schläfen und sah ihn mit gütigen, tränenvollen Augen an. »Und in den Sommerferien, wenn du in Wiesbaden bist, wenn wir irgendwie soviel Geld zusammen sparen können, wollen wir dich besuchen. Ich kann dann noch reisen. Dann will ich den ganzen Tag bei dir sitzen. Und dann, im Herbst, kommst du nach Hilligenlei. Du sollst bei Anna wohnen. Weißt du schon?«

»Nachher will ich in Hamburg wohnen,« sagte er. »Ich habe es mit meinem Freund beredet. Ich will da das und das tun.« Er lachte leise: »Du sollst sehn: ich fürchte mich nicht.«

»Dann kommst du dann und wann nach Hilligenlei und dann freuen wir uns! Du sollst es uns allen ansehen, wie wir uns freuen. Wir alle.«

»Und dann werden deine Kinder größer,« sagte er mit glücklichen Augen, »und dann kommst du mit ihnen nach Hamburg und ich zeige euch alles. Und dann werde ich allmählich älter und kann bei dir sitzen und kann dir zusehn, wie du in deinem Hause wirtschaftest, und rede mit dir von alten Zeiten.«

»Und dann,« sagte sie schelmisch, mit großen Augen, »dann werden wir beide ganz alt und du kommst jeden Tag und wir unterhalten uns über unsern Gesundheitszustand,« und sie fing an, mit hoher, piepiger Stimme zu sprechen, nach der Weise ganz alter, kraftloser Leute. Es stand wunderlich zu ihren jungen, feuchten Augen und ihrem frischen, lachenden Gesicht.

Er sah sie mit glücklichen Augen an: »Wie wunderbar lieb du bist,« sagte er. »Bist du so gegen alle Menschen, wie du gegen mich bist?«

»Nein,« sagte sie. »Du weißt, das können die Bojes nicht. Gegen die Meinen und gegen dich. Ach, du solltest den kleinen Jungen sehn! ... Ich wollte ihn erst mitbringen. Aber es ist besser so. Ich wollte die alte Heinke Boje sein, wenn ich käme.«

»Die alte Heinke Boje!« sagte er und atmete schwer.

»Deine liebste Freundin!« sagte sie, »die alles, alles für dich tut. Du sollst nie einsam sein, Kai! Das soll ich dir von meinem Mann sagen. Du sollst nie einsam sein.«

»Ihr lieben Menschen,« sagte er. »Erzähl mir von ihm und wie du lebst.«

Sie fing an zu erzählen und er hörte eine Weile zu. Aber allmählich wurden ihm die Augen schwer.

Da trat auch der Arzt herein. Er trat ans Bett und sagte: »Ich habe gedacht, ich wollte Sie heute nachmittag um drei selbst ins Krankenhaus begleiten. Da Sie nun heute schon allerlei Aufregung gehabt haben, und die Übersiedlung Ihnen noch bevorsteht, schlage ich vor, daß Sie Ihre Freunde erst morgen vormittag wiedersehn ... im Hospital. Sind Sie damit einverstanden?«

Kai Jans nickte und der Arzt wandte sich dem Ausgang zu. Da beugte sich Heinke Boje noch einmal rasch und heimlich über ihn und sagte leise, mit überströmenden Augen: »Du lieber Mensch,« und ging hinaus.

So hatten sie sich zum letztenmal gesehn.

Am Spätnachmittag wurde er in das Hafenkrankenhaus gebracht und lag dort müde und matt von der Übersiedlung, doch ruhig.

Gegen Abend kam ein junger Hamburger Pastor zu ihm, der schon seit Jahren sehr an ihm hing und nun durch zufällige Begegnung mit dem Arzt erfahren hatte, daß er da wäre. Der hatte auch, wie einige andre Bekannte, die Handschrift über das Leben des Heilands gelesen, die schon in einigen Abschriften von Hand zu Hand ging, und fragte ihn, ob er sie veröffentlichen wolle. Aber er sagte, er wolle noch ein Jahr damit warten; er müsse sie noch wieder durchlesen.

Darauf fragte ihn der junge Freund, ob er sich vor der Veröffentlichung fürchte.

»Nein,« sagte er. »Wie soll ich mich fürchten? Mögen die Kirchen sich fürchten. Ich weiß, daß mein Heiland und mein Evangelium wahrhaftiger ist als das der Kirchenlehren. Und wenn ich ganz allein stünde; ich wollte mich doch nicht fürchten. Wer mit der Wahrheit allein ist, der ist noch lange nicht verlassen ... Sie werden freilich sagen: ›Sieh, nun er nicht mehr im Amt ist, redet er so frei und wild heraus‹; aber so ist es nicht; sondern ich war vorher noch nicht klar. Ich war noch im Bann der Kirchenlehre, wie die meisten meiner Brüder. Es ist alles langsam und quälig gekommen. Wie habe ich in meinem Leben gegrübelt. Wie habe ich mich gefürchtet.« Nach einer Weile sagte er: »Aber ich habe mich doch durch all das Gewirr hindurch gekämpft; ich habe mich nicht hin- und hergewunden wie ein Aal, der aus der Reuse läuft. Darum bin ich nun auch froh und frei, und will leben oder sterben, wie Gott will.«

Nach einer Weile, während welcher der Freund in dem Neuen Testament blätterte, das auf dem Tisch neben dem Bett lag, sagte er wie zu sich selbst: »Es ist auch besser so.«

»Was ist besser so?« fragte der Freund.

Aber er antwortete darauf nicht. Er sagte mit leiser, müder Stimme – er hatte wohl das Knistern der Blätter gehört –: »Lies mir ein wenig vor ... von ihm.«

Da las der einige Worte aus der Bergpredigt und einige Gleichnisse, wie er sie gerade aufschlug.

Nach einer Weile träumte er auf und sagte: »Die Lehrer im ganzen Land sollen freundlich sein mit allen Kindern.«

»Wie kommst du darauf?« fragte der Freund.

»Gegen Kinder muß man freundlich sein,« sagte er; »sie können sich nicht wehren. Und vielleicht – sie können es nicht wissen – sitzt zu ihren Füßen der Knabe, der uns die letzte Erkenntnis bringt, oder das Mädchen, das seine Mutter wird, und wird gequält von schweren, wunderlichen Gedanken wie von Träumen.«

Der Freund sagte: »Eine ganze Zahl von Professoren mühen sich jetzt, dem einfachen Volk das Neue zu erzählen. Sie schreiben wahrhaftig ein schlichtes Deutsch.«

Da lächelte er. »Es wird ihnen schwer genug werden,« sagte er ... »Gott segne die deutsche Wissenschaft allezeit ... Ich habe früher gering von ihr gedacht ... Wir sind ihr viel Dank schuldig.«

Der Freund sagte: »Wenn nun dein Leben des Heilands veröffentlicht wird, so werden viele, viele Menschen, die mit der Kirchenlehre zerfallen waren und damit allen Glauben verloren hatten, sich wieder als Christen fühlen. Sie werden sich wieder zum Evangelium halten und damit für Seele und Leben viel gewinnen.«

Er schien nicht gehört zu haben. Nach einer Weile sagte er: »Wenn wir erst frei sind von all den schweren, wirren Dingen: von Papst, und Stellvertretung durch sein Blut, und den andern dumpfen Irrtümern und haben dafür das schlichte, schöne Evangelium: dann wird es hell werden.«

Danach faltete er mühsam die Hände und lag eine Weile still. Dann sagte er ziemlich laut: »Ich habe Hilligenlei einmal gesehn ... im Traum ... es war unsäglich schön.«

Dann schien er zu schlafen.

Da saß der Freund noch eine Weile neben dem Bett, im Neuen Testament lesend, und ging dann leise fort.

Am andern Morgen fand man Kai Jans tot. Er war, wie die Untersuchung ergab, um Mitternacht herum, an Herzschlag gestorben; wie es schien, ohne schweren Kampf.

*

Als Pe Ontjes morgens um neun ins Krankenhaus kam, erfuhr er das Ende und ging sehr bedrückt in den Gasthof zurück zu Heinke. Die war noch in ihrem Zimmer.

Als er es ihr sagte, war sie erst wie versteinert. Dann, als sie es begriff und es plötzlich vor ihr stand: ›er ist weg, weg aus deinem Leben ... ‹ weinte sie heiß auf und streckte die Hand nach ihm aus, wie ein Kind, dem sein liebes Spielzeug weggenommen wird.

So saß denn nun mal wieder eine Boje auf ihrem Bettrand, ganz untröstlich.

Pe Ontjes redete ihr zu, so gut er konnte: »Hast du ihn denn so lieb?« sagte er. »Und hast deinen Mann ebenso lieb? ...« Und mit ehrlichem Erstaunen sagte er: »Was seid ihr doch für merkwürdiges Volk, ihr Bojes! ... Aber nun mußt du das Weinen lassen. Steh nun auf und komm. Wir müssen depeschieren und sehn, wie wir ihn begraben.«

»Nicht in Hamburg,« sagte sie.

»Unsinn ...« sagte er, »in Hindorf. Daher stammt sein Geschlecht. Da hat sein Vater seine Jugend verbracht. Da ist er die zwei Jahre im Amt gewesen.«

»Ja,« sagte sie ... »und da komm' ich oft und besuche die lieben, freundlichen Menschen im Pastorat, wo wir beide wie Kinder im Hause gewesen sind.«

Sie stand auf und wusch sich die hellen Augen und ordnete ihr Kleid und sagte unter erneutem Aufschluchzen: »Ich kann nicht so gehen; ich muß ein schwarzes Kleid haben.«

Er lächelte in all seiner Trauer. »Wir wollen hier eins kaufen, Heinke,« sagte er freundlich und streichelte sie. »So, nun komm!«

Da nahmen sie einen Wagen und fuhren nach dem Krankenhaus. Unterwegs beredete er sie, daß sie es aufgab, den Toten noch zu sehn. »Ich habe ihn gesehn,« sagte er, »und ich sage dir, daß er mit einem stillen, friedlichen Gesicht daliegt. Damit laß es genug sein.«

Als sie wieder aus dem Gebäude heraustraten, kam kein andrer als Tjark Dusenschön über den Platz auf sie zu.

Er trug feierliches, zweireihiges Schwarz und hohen, blanken Hut und Regenschirm. Mit tiefem Ernst in seinem runden, bartlosen Gesicht trat er an sie heran, grüßte und gab ihnen die Hand und sagte: »Ich habe gehört, daß Kai Jans tot ist ...« er kämpfte mit den Tränen ... »Die Leiche soll nach Hilligenlei?«

»Nach Hindorf.«

»Ich bin Geschäftsleiter des Begräbnisvereins St. Trinitatis Barmherzigkeit, den ich gegründet habe. Wenn du mir diese traurige Angelegenheit überlassen willst, so will ich alles wohl besorgen ... Wir haben drei Klassen ...« und er zog einen Prospekt heraus.

»Die mittlere,« sagte Pe Ontjes rasch und kurz.

»Sarg, Schmuck ...«

»Ich will aber dabeistehn und zusehn,« sagte Pe Ontjes.

»... und Transport bis Bahnhof Hilligenlei zweihundertsechzig Mark.«

»Abgemacht,« sagte Pe Ontjes ... »Dann können wir nun gehn, Heinke,« sagte er.

Am dritten Tag lag Kai Jans in der Leichenhalle des Krankenhauses aufgebahrt, noch unverändert, in seinem weißen Schmuck, den Tjark Dusenschön besorgt hatte. Pe Ontjes hatte aufrecht daneben gestanden und hatte zugesehn. Nun kamen die Träger herein.

Da trat Tjark Dusenschön in seinem schönen, zweireihigen Rock, den blanken, schwarzen Hut in der Hand, zu Häupten des Toten und sprach mit seiner schönen, vollen Stimme, gemäß den Satzungen des Vereins St. Trinitatis Barmherzigkeit, ein Vaterunser.

Dann wurde der Sarg zugemacht und hinausgetragen.

Draußen, als der Leichenwagen schon im Gange war, und Pe Ontjes zu Heinke in den Wagen steigen wollte, trat Tjark Dusenschön noch zum Abschied hinzu und sagte mit einem ernsten, traurigen Kopfschütteln: »Es ist schade, daß doch so gar nichts aus ihm geworden ist; er hatte eine so gute Begabung. Aber er hatte ... weißt du ... er hatte kein rechtes Standesgefühl. Das war es. Er blieb immer der Arbeiterjunge, der Dorfjunge. Er erhob sich nicht ... Das war sein Fehler.«

Pe Ontjes sagte nichts. Er hastete, daß sie aus der großen Stadt nach Hause kamen. Er lehnte sich immer wieder aus dem Wagenfenster und sah dem voranfahrenden Leichenwagen nach, wie er sich durch all die Menschen und Wagen und durch all das Lärmen und Klingeln langsam und ernst hindurch wand.

Als sie auf dem Bahnhof in Hilligenlei ankamen und dort die zwanzig bis dreißig Leidtragenden standen, lauter bekannte Gesichter, und als dann acht Tagelöhner von Hindorf den Sarg anfaßten, je vier auf jeder Seite, blonde zur Linken, rote Bärte zur Rechten, und mit einem kräftigen Ruck hoch auf die Schultern nahmen, da atmete Steuermann Lau hoch auf. »Gott sei Dank!« sagte er. Es war ihm, als wenn er ihn erst jetzt aus aller Not der Seele und des Lebens gerettet wüßte.

Vor dem langen Haus, vor seiner Tür, stand der kleine Alte und wartete auf den Zug. Er warf einen langen Blick auf den Sarg und es zuckte um seinen Mund. Aber dann drückte er die Mütze tief über die Augen und trat stumm ins Gefolge. Pe Ontjes Lau, der Gewaltige, trat an seine Seite.

Einige Kinder kamen von der andern Seite, von der Schmiede von Jan Friech Buhmann her, und einer sagte: »Weißt du was? Kai Jans hat Gott gesehen. Zwischen hier und der Bülk, auf dem Deich hat er ihn getroffen.«

Heinke und Anna, die bei dem Alten gewesen waren, sahen aus dem Fenster. Es kommt hier erst jetzt allmählich die Sitte auf, daß Frauen im Gefolge sind.

Was sollen wir nun noch sagen? ... In sein offenes Grab fiel ein schwerer, warmer Mairegen. Neues Korn sprießt auf. Und Menschen werden wachsen, die sich in Grübeln und Taten um die höchsten Dinge der Menschheit Mühe geben.

 

Ende


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