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Achtes Kapitel

In dem schmalen Hause am Schloßgarten, unter den Kastanien, wuchsen die beiden Bojemädchen heran. Sie wuchsen so mächtig lang und schlank mit so hellem, hohem Haar, daß fremde Leute, die vorübergingen, wenn eins der Kinder gerade heraustrat, im stillen erschraken: »Bewahre! Was für hohe Menschen wohnen in dem kleinen Haus.«

Anna Boje wurde siebzehn und ging ins achtzehnte hinein, wurde groß und von straffer Fülle und trug ihre blühenden Glieder, als ginge sie vor den Edelsten des Volkes, und die starken Flechten ihres Haares wie eine Königin ihr Diadem; und war das Schönste, was Hilligenlei besaß. Sie träumte so vor sich hin, nach der Weise ihrer Jahre, und wußte nichts von sich und von der Welt, und hatte keine Wünsche, als daß Haus und Küche reinlich wären – denn die Mutter saß den ganzen Tag an der Strickmaschine – und daß Piet schrieb, daß er gesund wäre, und daß sie selbst, später einmal, einen schönen und klugen Mann bekäme.

Heinke wurde zehn und ging ins elfte, ein langgliedriges, hellhaariges Kind mit einem zierlichen, etwas scharfen Gesicht und feinen, stahlgrauen Augen. Sie spielte mit den Jungen der Nachbarschaft, im Winter im Burggarten unter den Bäumen und auf dem Eis, im Sommer ins Watt hinein bis an die Mündung des Hafenstroms. Sie hatte in diesen Jahren, wie derzeit auch ihre Schwester Anna, immer irgendwo am Körper eine Wunde, sei's an den Händen, am Knie oder am Fuß, vom Sprung oder Stoß, Wurf oder Fall. Aber obgleich sie so mit den Jungen durch dick und dünn ging und ihre helle Stimme und ihre jungen Glieder nicht schonte, galt sie doch für stolz, ganz wie ihre Schwester. Das kam davon, daß sie beide so gerade und schön gingen, so ein wenig umständlich steif und so ein wenig königlich, und so feine Gesichter hatten, schön weiß mit zartem Rot, und ihre Augen ganz klar und ganz ruhig waren.

Auch Heinke machte sich keine Gedanken. Sie dachte oft, wenn sie allein war, an den Tag, wo ihr großer Bruder Piet heimkommen würde, der nun schon drei Jahre weg war; sie hatte dabei immer die Sorge, daß er roh und ungeschlacht sein könnte. Im übrigen war sie zufrieden, wenn sie in der Schule Ehre gewann, was ihr innerer Stolz von ihr verlangte, und wenn der Tag verlief, ohne daß die Mutter schalt.

Es verging nämlich kein Tag, daß sie nicht in einen Streit mit Hett, dem jüngern Bruder, kam, der alles für sich haben wollte. Die Mutter liebte ihn über alles und gab ihm immer recht; er war aber ein Lügner und ein habsüchtiger Weichling, am schönen Baum der geile Zweig.

Helle Boje, deren Haar in diesen Jahren seinen Glanz verlor, konnte an ihre Töchter nicht herankommen; sie waren zu scheu, auch nur die geringste Zärtlichkeit zu zeigen. Erst in den Jahren, da sie selbst Mannesliebe erfuhren und damit das Wesen der Mutter verstehen lernten, wurde das Verhältnis zu ihr besser. Darum war die ganze Liebe Helle Bojes in diesen Jahren bei ihren beiden Söhnen, dem einen, der in die weite Welt gegangen war, um ihr beizustehen, und dem schönen, weichlichen, der seine Arme so zärtlich um sie legte und so schön betteln konnte, obgleich er schon ein großer Junge war. An diese beiden und an ihre Zukunft dachte sie den ganzen Tag, während sie an der Maschine arbeitete.

Eines Abends im April – die Kastanien bekamen die ersten grünen Spitzen – sollte Anna wieder einmal zum Hafenmeister Lau gehen und die große Karte von Ostasien holen, auf der die Mutter die Reisen von Piets Schiff unermüdlich verfolgte, da zögerte sie zu gehen und sagte: »Ich geh' jetzt nicht gern hin, der große Pe Ontjes ist da und die Karte gehört ihm. Lene Winkler sagt, er tut so großartig ernst und würdig, als wenn er fünfzig ist, und ist höchstens vierundzwanzig. Er war als Junge schon so unausstehlich ...« Die Mutter aber kümmerte sich nicht um ihre Rede und sagte: »Du gehst hin und damit gut.«

Da band sie mit dem patzigen Gesicht, das sie dann hatte, die Schürze ab und lief durch die Hintertür und den kleinen Garten den Heckenweg entlang und trat durch die Küchentür in das Haus des Hafenmeisters und hoffte, die Mutter zu finden, die ihr die Karte herausbrächte. Die stand auch richtig am Aufwasch, sagte aber kurz und gemütlich: »Bin ich dein Schleppenträger? Hol' sie dir selbst. Er beißt dich nicht.«

Der Steuermann Pe Ontjes Lau saß am Tisch und arbeitete an einer großen Zeichnung. Er sah gleichmütig auf – jedermann weiß, wie so'n junger Steuermann einen Leichtmatrosen anredet. – »Nun? Was ist?«

Sie stand hell und steil, wie ein Licht, sofort voll heißen Zorns und sagte mit hoher, fliegender Stimme, was sie auf dem Herzen hatte.

Er stand gemächlich auf und nahm die Karte von der Wand. »Wie geht es denn deinem Bruder? ... Er ist jetzt in bedenklicher Zeit.«

»Wie meinen Sie das?«

»Na, wenn man so um achtzehn ist,« sagte er ... »man will kein Junge mehr sein und ist noch kein Mann ...«

»Piet will immer nur sein, was er ist,« sagte sie; »er stellt sich nicht an, wie andere Leute.«

Er verstand den Hieb nicht; er hörte nur, daß sie ihn mit Sie anredete; und das gefiel ihm; und er sagte ein wenig gemütlicher: »Sieh: was ich hier zeichne.«

Sie trat mit ruhigem Gesicht näher an ihn heran und sah in die Zeichnung. Er sah indes ihre Gestalt an und hatte eine dumpfe Empfindung: ein schönes, starkes Mädchen ist dies, lauter Kraft und Gesundheit und Reinheit. Es war eine Empfindung, als wenn man auf weiter Wanderung, da man an viel tausend Häusern vorüber kam, die man bald alle vergaß, ein besonders schönes und trautes Haus sah, in einem stillen, grünen Garten; man ging auch daran vorüber, aber man behielt eine leise, schöne Erinnerung.

»Es ist der Hafenstrom von Hilligenlei,« sagte er.

»Was soll die Zeichnung?« warf sie hin.

»Es ist ein alter Gedanke von mir ...«

»Seit fünfzig Jahren!« sagte sie.

»Was schnackst du?« sagte er, »seit fünfzig Jahren?«

»Ach,« sagte sie gleichmütig, »Sie sprechen so, als wenn Sie fünfzig Jahre alt sind.«

Nun wurde er wieder steif und sagte kühl: »Ich habe einen Plan ausgearbeitet, den Hafenstrom gerade zu legen, daß die Krabbenfischer rascher zu ihren Fangplätzen kommen und die Ewer zu jeder Zeit herein und hinaus können; ich werde den Plan heut abend dem Bürgermeister vorlegen.«

»So!« sagte sie und sah noch einmal flüchtig auf die Karte. »Wann reisen Sie wieder?«

»Morgen ... Ich gehe als Steuermann an Bord der Goodefroo nach Samoa. Ich fahre seit drei Jahren als Steuermann.«

»So!« sagte sie wieder und warf den Kopf zurück, daß er die weiße Kehle sah; »in zwei Jahren ist Piet auch so weit.«

Sie konnten nicht voneinander finden, so groß war die unbewußte Zuneigung; sie strebten aber beide danach, dem andern etwas zuleide zu tun.

»Ich wollte,« sagte er, wie in Gedanken, »daß ich den Kai Jans und den Piet mal als Matrosen an Bord bekäme.«

»Das wollten Sie wohl!« sagte sie. »Aber die werden sich hüten!«

»Warum?« sagte er.

»Ach,« sagte sie und stand nun in der Tür. »Warum? Weil es nicht schön wird für die beiden.«

»Warum?«

»Ach,« sagte sie ... »Sie haben damals mit uns gespielt und nun ... nun lassen Sie sich gefallen, daß ich ›Sie‹ sage ... Was sind Sie denn? Damals auf dem Dänensand ...« Da dachte sie plötzlich daran, daß er nackt vor ihr gestanden hatte, wurde rot und sagte mit ungestümem, heiß hervorbrechendem Zorn: »Sie sind immer noch derselbe unausstehliche Mensch wie damals. Das wollte ich Ihnen sagen.«

Damit schlug sie die Tür hinter sich zu und ging.

Als sie nach Haus kam, sagte sie zu ihrer Mutter: »Er ist der unausstehlichste Mensch auf der ganzen Welt und ein Ekel. Wenn er da ist, geh' ich nicht wieder zu Tante Lau.« Dann fing sie an, das Abendbrot zu machen.

Nach dem Abendessen, als es dunkel genug war, stach sie der Hafer, den Heckenweg entlang in den Garten des Rathauses zu laufen und einen vorsichtigen Blick in die Amtsstube des Bürgermeisters zu tun, welcher die Gewohnheit hatte, bei unverhängten Fenstern zu sitzen, damit er bei seiner Regierung gesehen würde. Sie gelangte glücklich an das Gesträuch zur Seite des Fensters. Richtig! Da stand Pe Ontjes Lau an dem großen Tisch und hatte seine Zeichnung ausgebreitet. Hinterm Tisch saß Daniel Peters in seiner ganzen Schönheit und Würde: neben ihm die beiden fetten Ratmänner, die mit dem Schlaf kämpften. Und Pe Ontjes sagte gerade so recht selbstverständlich und sicher: » So muß es gemacht werden.«

Der Bürgermeister drehte seinen schönen, weichen Schnurrbart und sah seitwärts nach den beiden Alten und sagte wohlwollend: »Mein lieber Herr Lau ...!« Und verbreitete sich über die Grundsätze einer »stabilen«, wie er sagte, »Gemeindepolitik«, und konnte kein Ende finden. Als er noch im besten Zug war, breitete Pe Ontjes plötzlich die Arme aus und packte den Hafenstrom samt ganz Hilligenlei zusammen und sagte ganz ruhig: »Ich will meinen Plan wieder vorlegen, wenn hier ein anderer Bürgermeister ist ...« Damit nahm er seine Zeichnung und ging.

Anna Boje stand noch, ganz verwundert und zornig über dies Benehmen: da hörte sie seinen Schritt näher. Er wollte auch durch den Garten nach Hause gehen.

»Na?« sagte er spöttisch. »Hast du gelauscht?«

»Was geht dich das an?« sagte sie. »Ich kann wohl stehen, wo ich will.«

»Du bist eine widerwärtige, streitsüchtige Deern,« sagte er ernst und böse. »Wenn du so bleibst, wird es dir noch ganz schlecht gehen.«

»Du?« sagte sie, »willst mir was sagen? ... und kannst nicht mal das Wort ›Durchstich‹ schreiben? Auf deiner Zeichnung stand, ›Durchstiech! Durchstiech!‹ ... Du hast überhaupt in der Schule wenig gelernt; meinst du, daß ich das nicht weiß? Du schlugst die andern, wenn sie mehr wußten als du. So bist du der Oberste geworden. Siehst du!«

Er wurde bleich vor Zorn und wandte sich ab, und sie ging nach der anderen Seite.

Sie atmete schwer vor Aufregung und dachte: ›Niemals im Leben wirst du einen Menschen so hassen wie diesen.‹

Sie wühlte ordentlich in diesem neuen Gefühl, daß es sich ausbreitete und rasch ihre ganze Seele füllte. Sie malte sich aus, wie sie ihm ihre große Verachtung zeigen wollte, und ob Piet ihr vielleicht helfen würde, ihn zu kränken. ›Ich wollte, ich könnte ihm Böses wünschen,‹ dachte sie. ›Könnte ich ihm bloß etwas Böses zufügen.‹ Ihr Geist wurde ganz wirr und dunkel und ihre schönen, klaren Augen bekamen einen harten, dunkeln Schein, und nun schluchzte sie heiß auf.

Sie ging den Kastaniengang entlang nach ihrem Hause zu und kehrte wieder um und ging einige Straßen, und wurde ein wenig ruhiger und begehrte einen Menschen zu finden, mit dem sie freundlich sein könnte; fand aber erst keinen.

Als sie aber in die Gegend von Ringerangs Gasthaus kam, das an der anderen Seite des Schloßgartens unter schönen Linden steht, stand dort im Dunkeln ein Landmannssohn, mit dem sie einst in Freestedt auf der Schulbank gesessen hatte. Der hatte sie erkannt und wartete, bis sie nahe kam.

»Sieh,« sagte er. »Da bist du, ich kannte dich am Gange; ich würde dich auf eine halbe Meile erkennen.« Und er ging neben ihr und erzählte, daß er vorgestern vom Militär zurückgekommen wäre.

Nun freute sie sich, daß der schmucke Junge so freundlich neben ihr ging, und wurde gegen ihre Art aufgetan und eifrig, und erzählte von ihrer Mutter und von Piet und fragte nach seiner Schwester, und hörte allerlei von diesen und jenen gemeinsamen Bekannten. Während sie über all dies sprachen, stand in ihren Augen zarte, sinnliche Freude am anderen, die höher und höher stieg. »Was hat er für schmucke Augen!« ... »Wie rein und klar sind ihre Augen.« ... »Wie lacht er herzlich.« ... »Ich möchte mit meiner Hand ihr Haar berühren; wie wunderschön ist es.« ... »Wie klug und freundlich spricht er von Piet, der liebe Junge!« ... »Ich möchte sie einmal an mich drücken, einmal, ganz fest.« ...

Als sie in den langen Lindengang einbogen, der quer und einsam durch den Burggarten nach den Kastanien führt, rissen ihm die Gedanken immer ab und standen zuletzt still. Da wurde auch sie ganz still. Er dachte in seiner jungen Männlichkeit, doch mit Bangen: ›Wage ich es und küsse sie? Sie ist sehr stolz.‹ ... Sie dachte mit Herzklopfen und mit zugeschnürter Kehle: ›Er will mich küssen.‹ ... Ein Strom von süßer Freude und Erwartung ging ihr durch alle Glieder.

Im letzten Schatten faßte er sie wirklich an und küßte sie, ohne ein Wort zu sagen, mehrmals. Sie hielt in unsagbarer Verwirrung still. Als er sie losließ, lief sie weg, auf die Haustür zu.

Sie lief in die Küche und kühlte ihre brennende Wange und Stirn mit Wasser. Da die Glut und die Verwirrung aber nicht abnahm, suchte sie nach einer Ursache, in der Küche zu bleiben, und holte aus der Schlafstube das Silberzeug, das die Mutter besaß, sechs Eßlöffel und ein Dutzend Teelöffel und eine kleine Zuckerdose, und fing an, es zu putzen.

Während sie so rieb und glättete – immer noch im Geiste in seinen Armen – stand zugleich, da der Geist so heiß bei der andern Sache war, das Kind in ihr auf, und sie fing an, jeden Löffel auf der hohen Hand in der Schwebe zu halten; dann bewegte sie ihn zwischen zwei Fingern hin und her und beobachtete, wie er sich auf dem dunklen Hintergrund der Küchenwand machte. »Wie wunderschön war es! ... Wie stark und fest stand er und umfaßte mich ... Ich konnte mich nicht rühren ... Wie schön ... wie wunderlich ... meine Knie waren ganz schwach und ... so selig war mir.« Als sie noch so träumte, waren Hände und Augen, als ohne Aufsicht spielende Kinder, dahin gekommen, die Namen und Daten zu lesen, die auf den Löffeln standen: »Zur Hochzeit« und wieder: »Zur Hochzeit«, und Name des Gebers und das Datum. »Wie mag die Mutter an dem Tage ausgesehen haben? ... So jung wie ich ... nur zwei Jahre älter ... Schön und jung und glücklich ... Wie glücklich! ... Immer so bei dem Liebsten zu sein ... Schön muß das sein ... und schlimm zugleich ... ja, auch schlimm ... Ach nein, nicht schlimm ... Wunderschön ... Und dann kam das erste Kind ... das war ich ... Ob Mutter sehr schwerfällig gewesen ist? ... Einige sehen so häßlich aus ... Ob sie sehr krank gewesen ist? ... Wie lange sie wohl allein gewohnt haben, ohne Kinder? ... Sieh ... das kann man ja auf dem Löffel sehen.« Sie hielt ihn gegen das Licht und rechnete vom Hochzeitstag bis zu ihrem Geburtstag, und rechnete wieder und bekam schmale Lippen und einen stillen, harten Ausdruck in den Augen, warf das Silberzeug klirrend in die Schublade und ging, ohne der Mutter »Gute Nacht« zu sagen, in ihre Kammer.

Sie wurde von diesem Tage an noch scheuer und stolzer, als sie schon von Natur war.

In der ersten Zeit nach jenem Tage konnte sie zuweilen der Lockung nicht widerstehen, daß sie, wenn sie abends Besorgungen machte, den Lindengang entlang ging und an der Stelle stehen blieb, wo er sie geküßt hatte. Sie stand und schloß die Augen und fühlte die ganze Süßigkeit des Kusses.

Aber sie zwang sich bald, dieser Versuchung zu widerstehen. Sie wollte an solche Dinge nicht denken; denn sie waren – so schien es ihr – unsicher und gefährlich wie weicher Moorboden, über dem eine dünne Grasnarbe liegt. Sie hatte die unklare Empfindung, daß sie heißes Blut hätte, und war nun unruhig geworden, so wie ein Wald im Mai, wenn der Morgen leise graut, wenn die ersten Vögel sich regen.

Gegen die Mutter war sie unfreundlich und sprach nur das Notwendige; an Heinke und Hett hatte sie viel zu tadeln. Die großen Schüler der Domschule, die in den Giebelstuben am Kastanienweg wohnten, wagten es zur Herbstzeit, eine Kastanie oder ein Zweigstück hinunterzuwerfen, wenn sie unten vorüberging; aber sie tat, als merkte sie es nicht. Auf den Bällen, die sie besuchte, wurde sie als Tänzerin freilich sehr begehrt, besonders von männlich schönen und sicheren Tänzern; denn sie tanzte leicht und sicher und es war eine helle Freude, dicht neben ihr zu gehen und all ihre Schönheit zu bewundern; es wagte aber keiner, sie zu einem Glas Wein aufzufordern oder zu einem trauten Spaziergang unter den dunkeln Bäumen. Sie merkte wohl, daß solche Aufforderung ausblieb. Da wurde sie noch trotziger und stolzer und tat, als wenn sie solchem Tun ganz abgeneigt wäre; redete sich auch selbst ein, daß es so wäre.

Die Mutter nahm die Unfreundlichkeit ihres ältesten Kindes still hin; sie dachte an ihre eigene Not und Unruhe in jenen Lebensjahren und fühlte sich machtlos, hier irgendeine Hilfe zu bringen. Sie arbeitete den ganzen Tag an der Strickmaschine, damit sie die zwölfhundert Mark Schulden abtrüge. Was Piet zu dem Zweck von seinem kleinen Verdienst sandte, brachte sie, bei Mark und Groschen sorgfältig in Papier gewickelt, selbst auf die Sparkasse, damit es für die Steuermannsschule da wäre, und freute sich auf die Stunde, da er endlich wiederkommen würde.

So wurde es wieder einmal Herbst, ein schöner Herbst, mit frischem Wind und heller Sonne. Und die Sonne schien schräg durch das Türfenster auf die halbdunkle kleine Diele. Da kam wieder einmal der Briefträger. Und diesmal hatte er ein Paket.

Ein Paket! Sie wußten nachher gar nicht, wie sie alle Mann zusammen in die Diele gelangt waren. Die kleine Diele wurde ordentlich hell von den vier hellen Köpfen. Dann gingen sie mit dem Paket in die Stube.

Heinke, die immer wach und doch ruhig war, hatte den Meißel schon in der Hand und brach das Holz auf, und nahm die kleinen chinesischen Schachteln und Kästchen heraus, die, sorgfältig in ein fremdes, faseriges Stroh verpackt, nebeneinander standen. Auf jedem Stück stand der Name des Besitzers.

»Sieh mal, Mutter, das ist für dich!«

Helle Boje setzte sich auf ihren Stuhl an der Maschine und fuhr mit zitternder Hand über das blanke, schwarze Holz. »Das hat er gekauft,« sagte sie leise. »Das hat er in der Hand gehabt.« Die Augen waren plötzlich voller Tränen. Anna sah still und mit verschlossenem Gesicht auf die zierliche Arbeit in ihrer Hand und dachte heimlich mit weichem Herzen an den Bruder, den sie sehr liebte. Heinke hatte ihr Gesangbuch, in dem sie gelernt hatte, beiseite geschoben und hatte ihre Kette von Jettperlen vom Hals genommen und in ihren Kasten gelegt, und betrachtete nun die Wirkung und lobte mit freundlichen Worten den fernen Bruder: »Es ist zu nett von ihm, Mutter. Du, Mutter ... das sage ich dir ... dies bekommt Hett aber nicht.«

Hett schielte nach den anderen, ob sie etwas Besseres bekommen hätten als er. Als er sah, daß da vorläufig nichts zu machen war, ging er hinaus zum Spielen.

Helle Boje hielt den Brief in der Hand; konnte aber wegen der Tränen, die in den Augen standen, nicht lesen.

»Mutter, lies vor.«

»Ich kann nicht, Kind ... lies du vor.«

Da las Heinke.

»Liebe Mutter! Gleich als wir von Wladiwostok hier in Hongkong angekommen sind, habe ich dies für Euch gekauft. Ich wollte es Euch selbst geben, aber nun habe ich gedacht, ich wollte Hilligenlei nicht eher wiedersehen, als bis ich auf die Steuermannsschule gehen kann. Das ist noch ein Jahr. Denn ich verdiene hier mehr. Ich weiß nicht, ob Kai Jans mit mir auf ein anderes Schiff geht. Wir haben nämlich abgemustert und suchen einen schneidigen Segler. Wenn er wieder mit mir will, ist es mir recht; denn er ist wirklich ein guter Junge; aber es ist nicht nötig. Ich glaube aber, er bleibt bei mir, weil er einen haben muß, mit dem er allerlei schnacken kann, was er doch vor den alten Matrosen nicht darf. Er ist ein wunderliches Kraut.

Liebe Anna! Du kannst in Deinen Kasten die Stopfnadeln hineintun. Du mußt gewiß viele Strümpfe stopfen für die beiden Kleinen! Herrjeh, was sage ich da: Heinke wird schon ein langes Mädchen sein und Hett ist elf Jahre alt. Als ich den Kasten für Dich kaufte, wollte der Chinese mich betrügen, weil er vor meinen achtzehn Jahren keinen Respekt hatte. Aber er hatte nicht gesehen, daß unser Segelmacher hinter mir stand, der schlug ihn an die Ohren, daß er auf die Matte flog. Das ist hier so.

Ich habe mir einen neuen Anzug kaufen müssen; denn der alte war auf und alle, und ich war auch ganz herausgewachsen. Ich habe aber doch noch fünfundsiebzig Mark in der Kiste; die kommen bald nach diesem Paket bei Euch an. Fünfzig Mark sollst Du auf die Sparkasse bringen für die Steuermannsschule; aber fünfundzwanzig sollst du von Vaters Schuld abtragen, wenn Ihr gesund seid und das Geld entbehren könnt. Liebe Anna, sei eine gute Tochter und sorge dafür, daß Mutter nicht den ganzen Tag an der Maschine sitzt. Wenn ich gesund bleibe, kann ich Vaters Schulden in fünf Jahren abtragen. Darum braucht sie sich nicht krumm und schief zu sitzen.

Liebe Mutter, Du brauchst dir keine Sorge zu machen wegen der Strümpfe; ich kann meine Strümpfe eben so gut stopfen, wie Anna. Ich sage Dir, an meinen Hemden und Hosen fehlt kein Knopf. Immer adrett, das ist das allererste. Und dann aufgepaßt! Und zum dritten immer unzufrieden! Immer mehr lernen und weiter wollen. Du kannst glauben, daß ich luchse. Auf unserm alten Schiff war ein junger Amerikaner an Bord. Der will sich bloß mal die Welt besehen, sagt er, und umsonst; nachher will er werden, was er mag; sein Vater ist Pastor. Dem habe ich viel abgeluchst. Ducken ist nicht. Frisch und sicher muß man sein. Das steht mir gut, kannst Du glauben. Kai Jans kann das nicht; der ist immer so scheu ... so wie der Zweijährige von Nachbar Märtens ... weißt Du noch, Anna, auf dem Vorland? Wir liefen einen halben Tag hinter ihm her. Du wolltest mal auf ihm reiten, aber wir kriegten ihn nicht.

Liebe Mutter! Ich habe mir das so zurecht gedacht, daß ich immer auf Segelschiffen fahren will. Viele Leute meinen, sie kommen aus der Mode; aber der Alte sagte zum Steuermann: ›Sie sollen sehen, Steuermann, die großen Segler werden für Rohfracht und weiten Weg immer das billigste sein.‹ Neulich fuhr ein schöner neuer amerikanischer Segler an uns vorbei. Ich sage Dir, das war ein Staat! Obgleich er nicht mehr Tuch hatte, als wir, kam er weiter als wir. Der Steuermann schimpfte, der Kapitän tat, als wenn er nichts sähe. Ich aber luchste hinüber, woran das wohl lag. In Vancouver und San Francisco bin ich den ganzen Tag auf der Werft herumgelaufen; ich sage Dir, das ist ein Spaß; so eine Werft, das ist für mich schon mehr Hilligenlei, heilig Land.

Ich glaube, Kai Jans ist auf See gegangen, um es zu finden. Er macht immer, wenn er an Land geht, einen langen Hals, geht durch die Menschen und durch alle Straßen und macht große Augen, und sagt nichts. Aber neulich in Vancouver, wo wir zwanzig Tage lagen und viel Freiheit hatten, ist er mit einem alten wunderlichen Matrosen, der dort von Bord ging, durch die Stadt drei Tage lang bis oben auf das Gebirge gefahren. Als wir dann im Schlepptau wieder aus dem Hafen fuhren, vergaß er Arbeit und alles, sah nach dem Gebirge hinüber und sagte mit einemmal zu mir: ›Du, da hinter den Bergen, da ist ein großartiges Land. Das ist so weit und groß und rein, als wenn es heilig wäre. Da werde ich mich später einmal ansiedeln, glaube ich.‹ Na, das Ende vom Liede war, daß er vom Steuermann einen Schiester bekam. Er ist mit keinem Menschen bekannt geworden, so lange wir von Hilligenlei fort sind, als bloß mit mir und mit dem alten Wunderlichen. Sonst ist er immer allein und hört zu und macht seine Augen. Sie mögen ihn aber doch leiden, weil er ein guter Kerl ist, immer hilfsbereit, und, als der Steward so krank lag, mit einemmal weinte.

Liebe Mutter! Wenn ich wiederkomme, werdet Ihr Euch wundern, daß ich so groß und braun bin. Und Hände, sage ich Euch! Nun bleibt gesund und behaltet lieb Euren treuen Sohn und Bruder Piet Boje.«

Sie lasen den Brief jeder für sich wenigstens dreimal und sprachen über alles und saßen inzwischen wieder still und nachdenklich. Dann kam Hett herein und ging zu Bett. Dann gingen auch Anna und Heinke; Anna in ihrer Art, unfreundlich, ohne Gutenachtgruß; Heinke ruhig und schlichtfreundlich.

Helle Boje saß noch eine Stunde lang an der Maschine. Eintönig und nüchtern klang das klipp, klapp des Hebels in der kleinen, niedrigen Stube. Dann ging sie in die Schlafstube. Sie trat an die Betten ihrer Kinder, beugte sich über die Gesichter, zuerst über Hetts, und sah im Licht der halbdunkeln Lampe das schöne Gesicht ihres Jüngsten und sah den schweren, üppigen Zug; dann über Heinkes Gesicht und sah das ruhevolle, klare Gesicht mit dem freien Zug um den starken, schönen Mund und sah lange in Gedanken darauf nieder. Sie ging auch nach der Kammer hinüber, wo Anna schlief und sah auf sie nieder und sah, daß die Zeit nicht mehr fern war, daß sie ein Weib würde. Ein starkes und mit schwerem Blut. So wie sie.

Sie ging nach der andern Kammer zurück und setzte sich auf den Rand ihres eignen Bettes und dachte an die Unterhaltung, die sie mehr als einmal mit ihrem Mann gehabt hatte: »Wenn unsere Kinder nicht das Glück haben, daß sie früh genug in gute Hände kommen, dann wird leicht schwere Not über sie kommen.« Sie faltete die Hände und fing an, heiß für ihre Kinder zu beten. Allmählich, wie ihr Gebet matter wurde, während sie noch so saß, kamen ihre Gedanken, ruhiger nun und leichter, zu ihrem Helden, ihrem Tapfern in der weiten, weiten Ferne: wie er wohl aussähe und auf welchem andern Schiff er jetzt wohl fahre. Und sie kam ja wohl in Schlaf und Traum hinein und sah im Traum sein Schiff, ein schönes, schlankes Schiff, mit zwei Masten, die seltsam schräg nach vorn standen. Es wurde aber das Schiff von einer schweren Dünung hin- und hergeworfen, wie zwecklos, wie von unsinnigen Kinderhänden; und es war ihr, als wenn das Deck verwüstet und zerbrochen wäre, und sie dachte: da ist kein Hilligenlei. So stand sie am Ufer, in großer Sorge, und sah nach dem Schiff und sah es ganz deutlich. Wie deutlich sie es sah! Da ... da trieb es, und schwankte und tanzte in haushoher Dünung.


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