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Und als Anna Boje also heimkam, da erzählte Heinke, daß die drei vom Heckenweg mit der kränklichen Mutter abgereist wären. Die Mutter solle eine lange Kur durchmachen. Wann die drei wiederkämen, das hänge vom Befinden der Kranken ab. Ja, sagte Heinke, es wäre nicht unmöglich, daß sie alle ihren Wohnsitz hier aufgäben und der Mutter wegen nach Süddeutschland zögen, irgendwo an den Rhein.
Da preßte Anna die roten Lippen fest zusammen. »So!« ... Nun war sie denn ganz allein. Kein Mensch hatte sie lieb; keiner fragte nach ihr; keiner kümmerte sich um sie. Sie würde nun so allmählich verblühen und verdorren. Sie lachte in wildem, bitterm Schmerz.
So blieb sie in dumpfer Not acht Tage lang.
Aber da kam der neunte September.
Niemals in ihrem Leben vergißt Anna Boje den sonnigen, heißen neunten September. Und wenn sie neunzig Jahre alt wird. Und niemals wird sie glauben, daß da an dem Tag für sie oder einen andern eine Sünde liegt. So dachte sie: Und liegt da Sünde, so ist sie mit schwerem Leid gesühnt. Und liegt da Sünde: die Liebe deckt eine Menge Sünde zu.
Am neunten September, zu ganz ungewohnter Zeit, gleich nach Mittag, standen ihre drei Freunde am Heckenweg und klapperten nach ihrer Weise mit der Pforte. Sie stand am Herd; aber sie hörte es gleich, und kam herausgelaufen.
Sie machten alle drei lange Augen, daß sie Anna Boje glücklich wiedersahen.
»O,« sagten sie, »wie schön, daß wir uns wiedersehen!« Er selbst strahlte vor Freude. Er sah frischer aus, als sonst, wenn er täglich hart arbeitete.
Sie wurde in ihrer übergroßen Freude zutraulich wie bisher nie. Sie riß die Tür ihrer Seele auf. »Ihr seid drei liebe, dumme Narren!« sagte sie und legte sich in süßer Verwirrung in die Knie.
»Knack,« sagte das Knie.
Dann erklärten die drei: Sie müßten nach acht Wochen alle hinter der Mutter herziehen, nach dem Süden, weg von Hilligenlei. Aber so lange sie noch hier wären, wollten sie Anna Boje jeden Tag sehen ... jeden Tag. Ob sie wohl heut nachmittag mit ihnen ins Gehölz ginge?
»Da ist ein Platz,« sagte die Kleine. »Da ist ganz kurzes Gras. Da wollen wir beide miteinander tanzen.«
»Du mußt ganz wenig anziehen,« sagte die Ältere; »denn es ist furchtbar heiß und du sollst tanzen.«
Es war ein stiller, heißer Tag, der neunte September.
Sie fanden richtig den Platz mit dem kurzen Gras, am Waldrand. Ein versteckter Platz, von zwanzigjährigen Tannen umstanden. Und vor dem Eingang lag, wie vor einer halbdunklen Höhle, der helle Sonnenschein.
Und da tanzte sie auf dem kurzen Rasen, erst mit der Kleinen, dann mit der Größeren. Dann bat er sie, daß sie allein tanzte. Dann bat er sie, daß sie so, wie sie dastände, stehen bliebe. Sie tat alles, was er wollte. Er war so lieb und drollig mit seinen Kindern, und bat so freundlich, und seine Augen waren voll Freude und Güte. Ihr wurde unter seinen Augen das Herz wirr und heiß.
Da kam er plötzlich auf sie zu, nach dem Eingang hin, und sagte mit mühsamer Stimme: »Weißt du, daß ich durch dein Kleid deine Glieder sehe?«
Sie sah ihn wirr und weh an: »Es war so heiß,« sagte sie klagend, »und ich wollte tüchtig mit den Kindern tollen ...«
»Weißt du, daß du die Schönste bist im ganzen Land?«
Sie trat zurück gegen die Tannen und sah ihn mit bangen, bittenden Augen an: »Ich darf ja nicht ... ich darf ja nicht.«
Er hörte nicht darauf; er wußte, daß sie ihn lieb hatte. »Alle die Jahre von deiner Kindheit an hast du mich lieb gehabt; ich habe es immer an deinen Augen gesehen.«
»Ich habe es nicht gewußt,« murmelte sie. »Das habe ich nicht gewußt. Bei Gott nicht. Ich habe an dies nicht gedacht.«
Er warb nicht; er redete nur von seiner übergroßen Freude ... »Sieh, so bist du! ... so tapfer ... so klar! ... Du weißt: du bist dreiundzwanzig und dir gehört dein Leib und deine Seele ... voll von Wundern bist du und weißt es nicht ... du schönes, liebes Weib.« Er griff nach ihren Händen.
Sie ließ ihm beide Hände und sah ihn mit verwirrten, wehen Augen an: »Ich,« sagte sie mit schwerem Atem ... »ich werde niemals einen Menschen so lieb haben wie dich.«
Sie gingen im schrägen, heißen Schein der Sonne durch den Wald; die Kinder vor ihnen her; sie mit gebeugtem Haupt; er mit Augen und Worten an ihr hangend.
Als sie in das stille Haus kamen, gingen die Kinder mit dem Mädchen in den Garten. Er legte den Arm um sie und führte sie in seine Stube. »Du ...« sagte sie in großer Not ... »Sag' mir ... ich tu' nichts Böses ... Sag' es mir! ... Ich ... ich kann nicht anders ... Ich hab' es nicht gewußt; aber jetzt ist es so: ich habe dich schon lange über alles lieb gehabt ... O, daß du mich lieb hast! Ich weiß es jetzt, daß ich es gehofft habe. O ... ich war so schrecklich verlassen! ... Kein Mensch hat sich um mich gekümmert ... o wie lieb bist du ...«
Sieben Wochen dauerte die Herrlichkeit; sieben Wochen wurde die Seele Anna Bojes hin- und hergerissen: »Heilige Zeit ... nein: unheilige ... nein: heilige ...« Sieben Wochen in Märchen und Wundern, in übergroßem Leid und übergroßer Lust. Sieben Wochen war Anna Boje ein glückseliges, unglückliches Weib.
Sie bat ihn nicht: »Behalt' mich und laß die andere gehen; ich weiß nicht, wie ich leben soll, wenn du fort bist.« Wenn sie ihn so gebeten hätte, er hätte es wohl getan; denn er erlebte dieselben Wunder, die sie erlebte. Sie bat ihn nicht. Sie hätte es nicht einmal angenommen, wenn er es ihr angeboten hätte. Sie hätte nicht über den Jammer der andern weg in ihr Glück gehen können. Sie wußte, es kommt ein Tag, und er kommt bald, ein schwarzer, schrecklicher: da geht die ganze Herrlichkeit in Scherben: »die heilige ... nein ... die unheilige ... nein ... die heilige ...«
Zu der Zeit sagte die Mutter zu Heinke: »Weißt du, was mit Anna ist? Sie ist so freundlich mit uns und spricht mit uns, wie seit Jahren nicht ...« »Ja,« sagte Heinke ... »ich habe es auch schon gemerkt ... ich weiß nicht, wovon es kommt.« Und die Mädchen in der Stadt, mit denen sie dann und wann zusammenkam, sagten: »Was ist mit Anna Boje? Wie freundlich und fröhlich ist sie! Seht doch, wie schön ist sie!«
Dann kam der Tag. Der Arzt im Süden hatte entschieden, die Frau müßte da unten bleiben, in einem sonnigen Tal; die Luft hier an der Nordsee wäre zu schwer und zu feucht, und zu kalt und zu salzig ... »O,« sagte er und holte tief Atem und sah Anna Boje an: »Die Luft ist hier so frisch und gesund ... und du ... du bist so lieb und schön!«
»Du mußt fort,« sagte sie und Tränen schossen ihr in die Augen ... »mußt mich vergessen ... und ich muß sehen, was aus mir wird.«
Da konnte Anna Boje die Kinder noch fertig zur Reise machen und konnte noch einmal seine heiße, törichte Liebe schmecken und die Verzweiflung sehen, die in seinen Augen stand, und konnte die drei nach dem Zug bringen und konnte ihm die Hand schütteln und mit zusammengebissenen Zähnen sagen: »Grüßt eure Mutter,« und konnte dann allein nach Hause gehen und zu ihrer Seele sagen: »Du siehst ihn niemals wieder.«
Als sie nach Hause kam, war da eine Karte von Kai Jans an sie angekommen. Er berichtete kurz, wie es ihm ginge. Seitwärts stand mit kleinen Buchstaben: »Hast Du Hilligenlei gefunden? Ich habe so 'was ähnliches entdeckt!« Daneben hatte er ein Augenpaar gemalt, die Augensterne mit blauer Tinte.
»Du,« sagte Heinke, »wie merkwürdig, daß er an dich schreibt; er hat bisher immer nur an mich geschrieben. Und was bedeutet das da an der Seite?«
»Er hat wohl eine Liebste, die blaue Augen hat,« sagte Anna.
Da wurde Heinke still und ging in den Garten zum Apfelbaum und weinte.
*
Es kam eine trübe Zeit für das kleine Giebelhaus unter den Kastanien.
Piet trieb auf ferner See, nach Samoa, und hatte seine Hoffnungen und Pläne, die seine Schwester nicht kannte oder nicht teilte. Hett kam nach Kiel in die Kaufmannslehre; acht Wochen später schrieb er seinen ersten heimlichen Brief um Geld an Anna; die schickte ihm von ihrem Ersparten dreißig Mark. Er dankte ihr nicht einmal. Sie dachte: ›Das Los der ältern Schwester fängt schon an; es fängt an zu werden, wie bei Professor Tonner, dessen drei Töchter für die beiden Söhne weltfremd und dumm bleiben, und arm und fleißig sind.‹
Helle Boje, die vor fünfundzwanzig Jahren bei Ringerang aus dem Schuh getanzt war, bekam in dieser Zeit graues Haar und wurde eine Matrone. Sie grämte sich und verhärtete ihr Herz, daß sie ihre beiden Lieblinge nicht bei sich hatte. Mit Anna, die nun wieder ganz verschlossen war, sprach sie wenig. Heinke war ihr mit allem, was sie tat, unleidlich. Sie schalt sie störrisch, träge, unfreundlich. Das Kind, das weiter keine Fehler hatte, als den still verschlossenen Stolz der Mutter und den hohen Geist des Vaters, ertrug die Schelte schwer und weinte oft und heimlich. Wenn sie die Tränen trocknete, besah sie die Ansichtskarten, die Kai Jans von Heidelberg und seiner Umgebung schickte. Die lagen wohlgeordnet in ihrem Gesangbuch.
Zuweilen versuchte Anna sich aufzuraffen. Sie versuchte für sich und ihre Schwester ein Kleid zu machen, wie sie es gelernt hatte; aber die dumpfe, seßhafte Arbeit und die prickelige Kunst lag ihr nicht; sie mußte es wieder auftrennen und der Schneiderin übergeben. Abends in ihrer Kammer versuchte sie heimlich in ihres Vaters Büchern zu lesen. Sie sah mit ruhigem Staunen die erhabenen Bilder, die da vor ihr aufstiegen, und ließ das Buch bald sinken und sah sich in der kleinen, bescheidenen Kammer um und in ihrem dürftigen, hoffnungslosen Leben, und legte das Buch weg und konnte den Weg zur Schönheit nicht finden.
Im Winter wurde sie einmal wieder zu einer Mädchengesellschaft geladen und sie zwang sich hinzugehen.
Es ging da munter genug her. In einer Stube saßen die jüngsten, so bis achtzehn: sie erzählten sich harmlose, törichte Geschichten und lachten dabei, daß einige unter den Tisch sanken. Heinke war unter ihnen.
In der anderen Stube saßen die ältern, so bis achtundzwanzig: die kamen auf das Thema: heiraten. Die über fünfundzwanzig führten das Wort; die jüngeren hörten bedrückt zu.
»Ja, heiraten! Einen ordentlichen Mann haben, das ist das beste.«
»Aber davon gibt es nicht viele.«
Und sie fingen an, die jungen heiratsfähigen Männer durchzusprechen. Und sprachen bitter und verächtlich über sieben, acht, die nicht heirateten, weil sie feige oder bequem oder unfähig waren.
Eine sagte das harte Wort: »Die jungen Männer werden immer mehr Krüppel. Heiraten wird immer seltener.«
»Na!« sagte eine ... »Frieda hat neulich geheiratet, und Gertrud.«
»Ja, Frieda hat zehntausend bar, und Gertrud ... nun, Gertrud war fünfundzwanzig.«
»Den einen trifft's; am andern geht's vorüber.«
»Wenn ich keinen Mann bekomme, weil ich klein und häßlich bin, das kann ich ertragen. Aber daß ich keinen bekomme, weil ich keine vergoldete Nase habe, das ist schändlich. Frieda mit ihren zehntausend? Was hat er davon? Wer will bei einem solchen Gerippe schlafen?«
»Hör' du! Sei nicht so stark!«
»Ach was! ... Sagen nicht die Sozialdemokraten, daß die ganze verfluchte Geldwirtschaft ein Ende haben soll? Das wäre was: wenn wir nach Stärke und Schönheit taxiert würden. Was sagst du, Anna Boje? Dann bekämst du einen Prinzen und ich bekäme einen Baron. Denn ihr könnt nicht leugnen, daß ich grade und stark bin und eine feine Nase habe und daß mein Haar lang und schön ist.« Und sie lachte und griff mit beiden Händen in ihr blondes Haar.
»Na, die meisten von uns heiraten doch! Bei weitem die meisten! Einige wollen auch nicht heiraten, haben keinen Sinn dafür.«
Da lachte eine: »Kinder, ich kann euch eine kostbare Geschichte erzählen. Ihr haltet den Mund, sonst sag' ich euch kein Wort wieder ... Ich und Lene Bruhn waren vorige Woche nach Bindorf gefahren und verpaßten den Zug und wollten zu Fuß nach Hilligenlei zurück. Unterwegs bekamen wir aber Angst und kehrten in der Wirtschaft von Söthbier ein ... ihr wißt, der Alte mit den beiden Töchtern. Na ... die beiden Deerns waren so freundlich und überließen uns ihre Stuben und legten sich anderswo schlafen. Ich schlafe ein; und Lene Bruhn schläft auch ein. So gegen Mitternacht klopft es an mein Fenster und klopft und klopft und fängt an zu schelten: ›Warum läßt du mich nicht ein, Deern? ... Warum nicht? ... Was ist dir in die Krone gefahren? ... Deern, laß mich ein! ... Was ist das? Hast mich immer eingelassen, nun mit einemmal nicht? ... ‹ So geht es eine ganze Stunde lang. Lene Bruhn erlebte ganz dasselbe. Am andern Morgen gehen wir ganz früh in die Küche. Da stehn die beiden am Herd und kochen Kaffee: ›Na,‹ sagt Lene, ›nun sagt mir 'mal eins in aller Welt! Wenn ihr euch 'mal verheiraten könnt, tut ihr das?‹ Da sahen sie uns beide ganz verschämt an und sagten: ›Wir denken nicht an heiraten ... nein ... ich glaube, das tun wir nicht‹ ... Seht, so ist es! ... Heiraten? ... Selbstverständlich will ich heiraten. Das wollen wir alle.«
»Wißt ihr was,« sagte eine andere: »Wenn ihr so gern heiraten wollt, müßt ihr es machen, wie die Tochter vom Sekretär in Tonndorf: sie war nicht hübsch; sie hatte kein Vermögen; aber sie war klug. Sie dachte: ›Wenn du Fräulein bleibst, bleibst du ledig.‹ Da ging sie nach Hamburg und wurde in einem feinen Hause Stubenmädchen, und da gewann sie sich bald einen tüchtigen Gärtner. Ihre Schwester machte es nachher ebenso und bekam einen Bäcker, und von dem Bäcker sechs Kinder, und sie leben von den Semmeln, die morgens übrig bleiben, und sind rund und gesund.«
»Nun lügst du wieder,« sagten sie. »Zuletzt lügst du immer.«
»Ich weiß nicht,« sagte eine: »Es muß ein guter, kluger Mensch sein, sonst kann ich es nicht.«
»Nein, sonst kann man es nicht.«
»Ach was!« sagte eine bitter: »Lieber unglücklich verheiratet, als gar nicht.«
Da gingen die andern dagegen an: »Nein, nein ... denk an die ... und die. Tausendmal lieber ledig.«
»Aber sie hat doch die Kinder, die ihr gehören.«
»Ja ... die Kinder! ...«
»Eine alte Jungfer werden? Nichts zu lieben und nichts zu sorgen?«
»Na? ... Seht Hannah Behrens an! ... Die ist eine glückliche, alte Jungfer! ... Nein, wirklich! ... Die verstellt sich nicht! ... Die ist mit ihren zweiunddreißig ledigen Jahren durch und durch glücklich.«
Sie hoben die Schultern: »Ja,« sagten sie ... »es gibt solche. Die haben eben Buttermilch in den Adern und sollten überhaupt nicht heiraten. Wir sind anders ... Ledig bleiben? Dann lieber tot ... Was sagst du, Anna Boje?«
»Anna Boje ist ruhig. Königin, aber kalt.«
Da war eine Beamtentochter unter ihnen, eine kunstfertige, die ahnte, daß eine heiße Seele in Anna Boje war, und sah sie ernst an. Diese Beamtentochter hatte von Kind an einen außergewöhnlichen Sinn für Linien und Farben und eine köstlich geschickte Hand. Von einer flinken Mutter ermuntert, hatte sie in Kiel die Gewerbeschule besucht, war dann ins Lichtbildnern geraten und war nun mit vierundzwanzig Jahren in einer großen Stadt im Reich wohlbestallte Mitbesitzerin einer Kunsthandlung. Nun war sie zum Besuch in der Heimat, und saß mit stillen, klugen Augen unter den Freundinnen ihrer Kindheit und sah auf Anna Boje.
Anna Boje, welche sie immer gern gehabt hatte, weil sie schlicht und natürlich war, sah sie an und sagte: »Wenn man ein Talent hätte, wie du hast.«
»Ja,« sagten einige: »Wenn man irgendeinen selbständigen Beruf hätte, wie du.«
Die kleine Kunstfertige sah sie an und sagte: »Ja ... ja ...« und weiter nichts.
Eine, die achtundzwanzig Jahre alt war und ein kluges, ernstes Mädchen, und ihren kranken Vater pflegte, brachte die Unterhaltung zu Ende: »Die, welche sagen, daß ihr Beruf ihr Leben ausfüllt, die lügen entweder oder sind von Geburt und Natur zur Ehe nicht geschaffen. Wir andern alle, was hilft uns ein Beruf? Wir wollen nicht für anderer Leute Kinder sorgen, anderer Leute Kinder lehren, anderer Leute Geschäfte betreiben, fremde Kranke pflegen; sondern: wir wollen lieben, besorgen und leiden, und meinetwegen sterben für das, was uns gehört. Das ist für uns Hilligenlei. Da habt ihr's.«
So redeten sie gradeaus von ihrer Not. Es war keine Häßliche unter ihnen. Abgesehen von einer, die etwas wunderlich war, waren es lauter frische, starke und schmucke Mädchen. Nun waren sie eine Weile still ... Dann fingen sie Zwiegespräche an; und wurden nachher wieder froh und lachten.
Als Anna Boje etwas früher als die andern aufbrach, ging die kleine Kunstfertige mit ihr.
»Kannst du nicht noch Lehrerin werden?« fragte sie zaghaft.
»Ich kann nicht,« sagte Anna Boje mühsam ... »ich werde immer gleich zornig. Ich habe gar kein Talent, nicht ein einziges.«
»Du wirst heiraten,« tröstete die Kleine ... »du bist erst vierundzwanzig und bist groß und schön und klug und ordentlich. Wenn du nicht heiratest, wer dann?«
Anna Boje zuckte bitter die Schultern: »Noch hat mich keiner gefragt, kein einziger.«
»Tilde Peters hat recht,« sagte die Kleine: »Ein Beruf macht uns noch nicht glücklich. Wohl, einige, die von Natur so 'was Blasses, Stilles und Schwächliches haben; aber die andern, die gesunderen, die sehnen sich nach Mann und Kindern. Weise Leute sagen freilich, man könne das leicht unterdrücken.«
Da schrie Anna Boje im Zorn auf: »Das unterdrücken? Dann soll ich wohl auch meine Augen eindrücken und meine Brust ...?«
»Es ist eine große Not,« sagte die Kleine zutraulich und leise. »Viele grämen sich so dahin und werden unter vielen Qualen still. Viele stehlen sich das, was sie öffentlich und in Ehren nicht bekommen können, heimlich und in großer Angst. Früher hatten Kirche und bürgerliche Sitte Gewalt und sagten: Duck' dich. Aber was fragen sie jetzt in der großen Stadt nach der Kirche und nach bürgerlicher Sitte? Sie fragen: Wie kann man uns ausschließen von Herd und Kinderwiege? So nehmen sie sich ihr Teil. Was lauter Herzensfreude sein sollte, das wird Unrecht und Jammer. Es ist eine schwere Not für unzählig viele Bürgertöchter.«
Anna Boje sah mit scheuen Augen in das zierliche, dunkle Gesicht: »Was sagen deine Eltern zu solchen Worten?«
Die Kleine hob die Schultern: »Mein Vater sitzt jeden Abend im Domklub und hört Anekdoten und erzählt selbst auch gut. Meine Mutter hat mit achtzehn geheiratet und versteht mich nicht ... Das ist vielleicht das Schlimmste in unserm Unglück, daß wir, die Kinder einer andern Zeit, auch noch Waisen sind.«
Anna Boje brachte die Kleine bis an ihr Elternhaus und ging dann allein durch die dunklen Straßen, ganz verzweifelt.
»Zu Hause bin ich überflüssig ... Talent hab' ich nicht ... Muß ich nun in ein fremdes Haus gehen, Dienerin fremder Leute sein und ihr Glück ansehen? Oder irgendeine schwere, gleichgültige Arbeit tun, ohne eine Hoffnung? Ich muß jetzt gehen ... ich bin vierundzwanzig. Ich kann nicht länger im Hause sein. Heinke soll nicht gehen; sie ist noch zu jung ... ich will gehen.«
Sie ging die Hafenstraße hinunter und kam in immer tiefere Not hinein und holte schwere, böse Gedanken herauf, die da in der dunkeln Tiefe schliefen; die in jeder Seele schlafen. »Wenn ein Brief käme von ihm ... ein Brief mit schwarzem Rand ... sie wäre tot ... Dann wäre ich selig. Ich würde schreien vor übergroßer Seligkeit ... Wie würde ich warten! ... Nun ... nun ... dürften wir uns sehen ... ich hol' sie ab vom Bahnhof ... Wie will ich euch drei glücklich machen ... lachen sollt ihr mir ... ich will so gut und lieb mit euch sein ... Ach, sie lebt und wird gesünder! ... Wenn sie doch stürbe! ... Sie hat zehn Jahre das süße Glück gehabt, zehn lange, süße Jahre ... Nun gib mir zehn! ... gib mir drei! ... ach, gib mir ein Jahr! Dann will ich gern sterben. So gern! Bloß ein Jahr lang Glück ohne Sünde und Angst! ... Wenn sie nun doch stürbe ...«
Sie ging bis zur Schleuse hinunter und blieb stehen und horchte auf das gurgelnde Wasser und auf ihre Gedanken.
»Ich bin schlecht ... so schlecht, daß es am besten wäre, ich ginge ins Wasser. Ich bin ja auch ganz ohne Hoffnung ... wer klagte nach mir? Wer entbehrte mich? Meine Kinder schlafen in meinem Schoß. Niemand weckt sie. Lieben und sorgen, das ist, was ich kann und was ich will; aber niemand ruft mich dazu ... Ich will noch eine Weile warten ... ich will ...« sie sah nach dem langen Haus hinüber; in Rieke Thomsens Stube war noch Licht ... »ich will wissen, ob ich noch irgendeine Hoffnung habe ... Ich habe so gespottet ... früher ... Karten legen!? ... aber wenn einer in solche Not hineinkommt ...«
Sie sah wieder vor sich hin und horchte wieder auf den West, und sah wieder auf, und ging auf den Deich hinauf, horchte, ob die Frau allein wäre, und ging in die Diele und trat in die Stube.
Rieke Thomsen saß in ihrem großen Stuhl und hatte gerade den Kopf gewandt, um über die Bucht zu sehen, ob das Licht erschiene; sie war völliger und größer geworden.
»Na? Anna Boje? ...« sagte sie scharf, und wischte über den Tisch: »Was willst du denn bei mir?« Sie mochte, wie die meisten Leute, die Bojes nicht leiden, weil sie in ihrer Schönheit so hochfahrend aussahen.
»Nun sollen Sie mir die Karten legen ...« sagte Anna Boje munter. »Ich habe immer zu Ihnen kommen wollen; aber ich hatte niemals Zeit.«
»Wenn ihr kommt,« sagte Rieke Thomsen, »dann sagt ihr entweder: ›Rieke, wir wollen deinen Hokuspokus 'mal sehen,‹ und lacht, oder ihr sagt: ›Ich habe immer 'mal kommen wollen, aber ich hatte niemals Zeit.‹ In Wirklichkeit kommt ihr, wenn ihr in irgendeiner Not seid. Alles, was jung ist und Not hat, das hat einmal einen Abend, wo es an meine Kunst glaubt. Ich glaube, es ist kein Mädchen und keine Frau in den letzten dreißig Jahren in Hilligenlei, die nicht bei mir gewesen ist, demütige und hochmütige ... Willst du mir die Karten hergeben ... da oben auf dem Bord ... nein ... weiter nach rechts ... auf der Bibel ... Kannst mir die Bibel auch gleich hergeben ... ich muß noch den Abendsegen lesen.«
Sie mischte die Karten und legte sie gemächlich in vier Reihen übereinander und glitt mit dem Finger darüber ... »Geld ist da nicht viel,« sagte sie langsam ... »aber gutes Brot ... da ist ein blonder Mensch, der denkt an dich ... aber er kann es dir nicht sagen ... da ist ein Hindernis ... Es ist da aber auch noch ein dunkler Herr ... und eine Dame neben ihm ...« Sie sah fragend auf und sah die reife, weiche Frauenschönheit ... »Mehr ist da nicht,« sagte sie.
Mit bebender Stimme sagte Anna Boje: »Wir sind in Sorge um meinen Bruder, der weit weg auf der See ist ... weit weg ... ich ... ich wollte wissen: da ist doch kein Todesfall?«
Rieke Thomsen sah wieder auf und sah den scharfen Schein in den Augen und wußte alles; und ihr gefiel diese schlimme Weibertapferkeit; aber sie schüttelte den Kopf und sagte ehrlich: »Ein Todesfall ist da nicht.«
Da stand Anna Boje auf und legte eine halbe Mark auf den Tisch und ging.
Sie ging nach Hause, schlief und stand auf und lebte so in trübem Sinnen dahin.
›Im Herbst geh' ich von Haus,‹ dachte sie. ›Ich will mir in Hamburg einen Platz in einer Familie suchen; und will sehen, daß Hett auch nach Hamburg kommt, und will auf ihn passen. Auch sehe ich Piet da zuweilen und will seine Freundin sein, bis er heiratet; dann ist es aus.‹
Der Frühling kam mit Macht, ein schöner, sonniger, bunter Frühling.
Pe Ontjes Lau kam nach Hilligenlei. Seine Übersiedelung hatte sich verzögert, da er guten Verdienst, der sich bot, immer noch wieder mitnehmen wollte. Er kam zu Mutter Boje, um Grüße von Piet zu bringen, der noch auf der Goodefroo war und nach Iquique in See gegangen war; er berichtete, daß die Verbesserung, die Piet erfunden hatte, sich gut bewährt hätte, und meinte, daß Piet wohl noch 'mal zum Schiffsbau überginge, wenn sich etwas böte. Dann ging er und kam nicht wieder. Er hatte genug zu tun, das gute, aber kleine Geschäft seines Vaters kennen zu lernen und zu sehen, ob sich etwas daraus machen ließ. Solange er das nicht wußte, wollte er seine Augen von andern Dingen fernhalten.
Anna Boje war nicht zu Hause gewesen. Nachher sah sie ihn selten einmal auf der Straße. Dann grüßte er höflich und ging ohne ein Wort vorüber. Sie sah scheu auf und dachte: ›Er mag mich nicht. Das ist ein Mann ... Aber er mag mich nicht ... Er wird eine Bauerntochter heiraten, die Geld hat.‹
Der Sommer war wunderschön; sie lebte so dumpf dahin. Mutter Boje und Heinke sprachen wenig mit ihr. ›Im Oktober geh' ich nach Hamburg,‹ dachte sie. ›Dann will ich fünftes Rad an einer Staatskarosse werden; oder ich werde Telephonistin oder so was; denn zu andern Dingen bin ich zu dumm.‹
Anna Martens kam einmal mit ihrem Mann und ihrem ersten Kind, das schon gehen konnte; sie war stattlich und sicher; als ein ruhiges, schönes Herdfeuer leuchtete das Glück in ihren Augen. Sie ging hinter Anna Boje her in die Küche und sagte: »Du, was sagst du zu dem großen Steuermann Lau ... das wär' noch ein Mann für dich ... ein stattlicher, ruhiger Mensch.«
»Ach,« sagte Anna Boje kalt und sah nach ihrer Hantierung, »rede keinen Unsinn.«
»Ich dachte es mir,« sagte Anna Martens ... »Er ist dir nicht gut genug ... es soll ein Studierter sein ...«
»O!« sagte Anna Boje und sah die Freundin erstaunt und bitter an: »Wie du dich irrst, Anna Martens! Wenn es ein gesunder und guter und tüchtiger Mensch ist, den ich lieb haben kann: was frage ich da nach Geld oder nach Latein!«
Es war zu der Zeit ein junger Mensch aus guter Familie, ein Bankbeamter, aus Berlin heimgekehrt, um durch die Pflege der Eltern die Gesundheit wiederzufinden, welche durch Nachtschwärmen – er sagte: durch Arbeit – zerrüttet war. Er wurde nach wenig Tagen von Langerweile geplagt und suchte Abenteuer, und da er ein schmucker Junge und ein Weiberkenner war und von starker Leidenschaft, fand er sie. Es wurde bald bekannt, daß mehrere junge Mädchen ihm mehr oder weniger zu Willen waren, obgleich sie wußten, daß an Heiraten nicht zu denken war. Aber die andern jungen Männer, die ehrenwerten, waren entweder träge oder vorsichtig; so verfielen sie in ihrer Not diesem.
Eines Tages sah er Anna Boje auf der Straße, erkannte sie mit Staunen und redete sie gleich an und fragte nach Piet, und machte schon, während er mit ihr sprach, seinen Beschluß fertig: »Ich will mir Anna Boje gewinnen ... wunderbar wird es: die zu lehren, was Liebe ist.«
Er ging so in der Dämmerung am Heckenweg entlang und lockte sie am dritten Tage hinaus. Sie wollte nichts weiter, als daß ein Mensch ihr zeigte, daß sie begehrenswert wäre. Sie traf ihn nicht, ging um die Häuser herum und kam unter die alten Linden des Stadtgartens. Da stand er am Eingange des Baumganges an der Wegkreuzung und wartete auf sie. Es war sehr dunkel.
»Anna Boje?« sagte er, und warb mit einem Lachen um alles.
Da wandte sie sich und stieß ihm die Hände vor die Brust, daß er zurückwich, und ganz empört schalt, und dann stumm wegging.
Sie ging in ihrer Aufregung aus der Stadt hinaus und kam an die drei Stege. Es war ein weicher, schöner Abend. Schräg über den Höhen, auf den dunklen Häusern von Volkmersdorf, ging ruhevoll der Mond auf und gab der Nacht einen weichen Schein. Sie ging langsam dahin, noch ein Zittern in allen Gliedern. »So sehr ich mich danach sehne ... und wenn ich es gewollt hätte, ich hätte es nicht gekonnt. Die andern haben es fertig gebracht; ich kann es nicht! ... Widerlich! ... wie faßte er mich an!«
Schwere, rotbunte Kühe standen im vollen Gras und rissen im langsamen Takt das Gras ab. Unterm zweiten Steg blinkte das Wasser; unterm dritten floß es hörbar zu Tal. Sie kam wieder auf den Gedanken, der sie immer beschäftigte: »Warum muß ich einsam sein, ohne Liebe? Und soll ich immer einsam bleiben?« Sie fing an zu grübeln, daß die Schuld an ihr läge; sie setzte sich in den Kopf, daß sie ein absonderlicher und unausstehlicher Charakter wäre, darum hätte sie auch keine Freunde. Sie mißtraute, daß vielleicht in der Vergangenheit ihrer Eltern etwas läge, daß man sie heimlich verachtete.
Sie kam an den Fuß der Höhen und ging langsam hinauf. Zur Linken und Rechten vom Steg, dicht bei ihr, lagen Roggengarben; weiterhin war das Land schon aufgebrochen, neue Saat zu empfangen. Die Luft war voll von Fruchtbarkeit. Es kam eine solche Bitterkeit über sie, es wurde so finster in ihr, daß sie dachte: ›Wie eklig ist all dies Treiben und Blühen, all dies Früchtebringen ... Wie widerlich ist das ... Ich will nicht blühen und Früchte bringen ... Sie sollen mich begraben, acht Fuß tief, daß ich nicht einmal im Tode nütze ... Sonst könnte noch eine Blume oder ein Baum aus mir sprießen ... wie widerlich ist das.‹
Sie kam bis an die Heide und ging ein wenig hinein; sie schmiegte sich weich an ihre Füße. Unter ihr lag das weite, ebene Land im blauen Schein der Julinacht. Da ging sie ein wenig vom Steg ab und setzte sich müde am Wall hin und kostete das ruhige, weite, heilige Bild und wurde ein wenig stiller und milder. Und ihre Gedanken liefen zu den Stunden jenes wunderbaren, bangen Glücks: »Du warst doch einmal glücklich. Ein guter, kluger, feiner Mann hat dich lieb gehabt. Wie lieb! Wie strahlten seine Augen, wie heiß und schön waren seine Worte. Wie groß war sein Jammer in der Abschiedsstunde. Nicht um alles in der Welt will ich das aus meinem Leben wegwischen.« Und sie fing an, sich die vielen einzelnen Szenen auszumalen, wie es am Heckenweg anfing ... und sann und sann und kam in Träumerei hinein ins Unwirkliche, und kam in Halbschlaf. Die Heide lag weit und dunkel, dahinter in der Tiefe lag das dunkelgraue Land bis an das Meer.
Da kam schräg aus der Heide, von der weiten, grenzenlosen Tiefe her, ein wunderliches Wesen. Es war wie eine schwerfällige, ganz bunte Kuh; die hatte große, wunderschön gewundene Hörner und die Ohren weit wie Tore und große, spiegelnde, feuchte Augen. Die stand vor ihr und sah sie in dumpfem Sinnen an ... Da träumte sie: sie ginge am Heckenweg und verlor ihre Kleidung, Stück für Stück, und als sie alles verloren hatte und ganz nackend war und so weiter ging, standen ihre drei Freunde vom Heckenweg da und weinten um sie, daß sie da so auf dem Wege ginge ... Da kam aus dem Seitenweg von der Stadt her der Bürgermeister, der ihr von Kind an zuwider war, weil er sie immer ansah, als wollte er sagen: Du armselige Lehrerwitwentochter! und der, den sie geschlagen hatte, und sahen sie an und lachten über sie. Dies Lachen erschreckte sie so, daß sie niederfiel und wie tot dalag. Da kam aus einem andern Seitenweg – es war nun mit einemmal nicht der Heckenweg mehr, sondern der Hoheweg, draußen vor der Stadt – von seiner Hütte her, der städtische Abdecker Jochen Wenig und wollte sie anfassen und nach seiner Hütte tragen. Da schrie sie vor Entsetzen auf und erwachte. Und sah sich entsetzt um und fing an, in wirrem Sinn Schulgebete und Bibelsprüche herzusagen und erhob sich schwer.
Da kam ein Mann vom Steig her auf sie zu, schwer atmend und stöhnend und sagte laut: »Nun ... wer liegt hier? ... wer ist das? ... wer quält sich so? ... Du? ... Kind, du bist es?«
»Ich bin es, Onkel Wedderkop,« sagte Anna.
»Kind,« sagte er mitleidig und plötzlich ganz leise: »Was jammerst du so kläglich? Wer hat dir 'was getan? Komm ... komm; wir gehen zusammen. Wein' man nicht so.«
»Ich bin so schrecklich einsam,« sagte sie heiß schluchzend ... »So schrecklich verlassen!«
Er ging eine Weile stumm neben ihr. Dann sagte er: »Sieh', es ist die Sitte, unter der du leidest. Die bürgerliche Sitte ist die große Mörderin, die mordet dir und vielen deiner Schwestern die Jugend ... Sieh' ... wenn wir in natürlichen Zuständen lebten, dann würdest du immer, von den Tagen deiner Kindheit an, von jungen Leuten des andern Geschlechts umgeben gewesen sein. Der eine hätte dir eine Freundlichkeit erwiesen; der andere hätte dich aus der Ferne verehrt; mit dem dritten hättest du fröhlich gespielt. Hier auf der windigen, sonnigen Höhe wäre der Spielplatz der Jugend von Hilligenlei. Seit deinem zwanzigsten Lebensjahre aber hätten drei oder vier oder mehr, die besten in der Landschaft, herzlich und heiß um dich geworben, weil du stark und schön und rein bist. Und so wärst du mit Weinen, Zanken und Vertragen, und Spielen und Küssen allmählich ein Weib geworden.
»So ist es ja bei den Arbeitern und Handwerkerkindern noch. Ein schönes, keusches, fleißiges Arbeiterkind hat Bewerber übergenug. Aber beim Stand der sogenannten gebildeten Leute hat die Sitte die ganze schöne Natur verdreht und verzerrt. Da sagt die Sitte zu dem jungen Mädchen: ›Du darfst nicht mit einem Mann allein gehen ... du darfst nicht »du« zu ihm sagen ... du darfst ihn nicht küssen, wenn du ihn nicht heiratest ... du mußt eine so und so große Aussteuer haben.‹ Und zu dem jungen Mann sagt sie: ›Du darfst nicht ohne Geld heiraten ... Du verdienst nicht genug ... Du mußt deine beste Kraft zu verlorenen Mädchen bringen und später erst heiraten ... Bleibe ledig, so hast du geringere Verantwortung ...‹ Also, wo die bürgerliche Jugend geht und steht, da geht und steht als eine alte, jugendfeindliche Tante die Sitte und verdirbt euch armen Mädchen die beste Lebenszeit, und viele kommen nicht zum Heiraten, und viele kommen zu spät dazu. Du bist nicht verachtet, kleine Deern. Nicht verachtet bist du! Das mußt du nicht glauben. Du bist nur, wie viele tausend andere: ein Opfer der steifen, jugendfeindlichen Sitte.
»Aber wer soll helfen? Der einzelne kann da wenig tun. Ihr Frauen müßt es selbst machen. Das sage ich dir, Anna Boje, liebe Deern, vergiß das nicht: wenn du einmal heiratest und sitzest im Glück in einer gemütlichen Häuslichkeit und hast zu lieben und zu sorgen: dann vergiß deine lieben Schwestern nicht, die in Einsamkeit sitzen, wie du jetzt, die Herd und Liebe haben möchten, ein volles Weiberschicksal, mit Kinderangst und Kinderlachen, und haben es nicht. Arbeite dann in irgendeiner Form für die Jungweibernot, die im Lande ist.«
Sie hatte getreulich zugehört und war über die freundliche Rede stiller geworden. Der Mond stand ruhevoll über der stillen Welt.
»Ich habe vor Jahren etwas getan,« sagte sie leise, »was für eine schwere Sünde gilt; aber ich war so schrecklich verlassen und ganz ohne Hoffnung, und ich hatte ihn über alles lieb. Ich kann mit niemandem darüber sprechen.«
»Ist es nun vorbei?«
»Es ist ganz aus und vorbei; er ist weit weg.«
»War er gut mit dir?«
»So gut! ...« sagte sie ... »aber er konnte mir und sich nicht helfen ... er konnte alte Treue nicht von sich stoßen, und ich konnte nicht über das Unglück einer andern ins Glück hineingehen.«
»Die Natur ist gewaltiger als die Sitte,« sagte er, »Gott sei Dank; und die Liebe ist stärker als der Tod; dafür sei Gott auch Dank.«
»Gott?« sagte sie traurig und leise ... »Als ich ein Kind war, habe ich heiße Angst ausgestanden, daß ich beim Abendgebet eine Person der Dreieinigkeit vernachlässigte ... jetzt kann mir die ganze Dreieinigkeit im Mondschein begegnen. Ich habe gar keinen Glauben ... und das ist traurig.«
»Ja,« sagte er nachdenklich ... »das ist traurig ... Aber darin kann ich dir nicht helfen; da mangelt es bei mir auch. Ich habe auch kein Hilligenlei, kein heilig Land für meine Seele. Den Kirchenglauben kann ich nicht mitmachen und einen andern kann ich nicht finden.«
Sie atmete aber hoch auf und sagte: »Es hat doch gut getan, Onkel Wedderkop. Ich habe mich so lange und so schrecklich gesehnt, ein freundliches und gutes Wort zu hören ...« Und leise und zögernd sagte sie: »Wenn ich aber nicht heirate, so weiß ich nicht, was ich mit meinem Leben mache.«
Da sah er sie ein wenig schelmisch von der Seite an und sagte: »Na ... Antje! ... du bist jetzt vierundzwanzig ... hat der Spiegel dir nicht gesagt, wie du aussiehst? Es mag noch ein Jahr dauern oder zwei oder gar drei ... es kommt noch ein ernster und tüchtiger Mensch und begehrt dich.«
»Ich glaube,« sagte sie wieder mit hohem Atemholen, »es wagt sich keiner an mich heran.«
»Ein Feiger riskiert es nicht,« sagte er lächelnd. »Es nützt ihm auch nichts. Es wird ein ganzer Mann sein, und einer, der seinen Wert kennt. Und daher kommt es, daß du so lange warten mußt.«
Die Straßen von Hilligenlei waren still. Goldgrau lag in ihnen der Mondschein.
»Dann will ich noch eine Zeitlang Vertrauen haben,« sagte sie.
»Ja,« sagte er, »gib es nicht auf! Hoff' auf dein Hilligenlei!«