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Fünftes Kapitel

Schon am ersten März hatte Pe Ontjes Lau seinen ganzen Kram in Ordnung. Eine neue Kiste brauchte er nicht; er nahm die seines Vaters, welche die letzten sechzehn Jahre für den Schweinebestand des Lauschen Hauses als Schrotkiste gedient hatte. Er malte sie selbst braun an, kaufte ein neues Vorhängeschloß und verstaute alles aufs beste. Den Schlüssel in der Tasche saß er mit gelangweiltem Gesicht auf der Schulbank. Am Tage nach Sonntag Palmarum sollte er in Hamburg an Bord des Dreimasters »Goodefroo« gehn.

Man sollte denken, daß er ohne Sorgen davonging. Aber dieses war nicht so. Wenn er den Blick zur Seite wandte, dann saß da Tjark Dusenschön, lang, dünn, mit unruhigen Schultern und freundlich gleißenden Augen. Der wurde am Sonntag Palmarum auch konfirmiert, und der hatte seinen Kram nicht in Ordnung. Der wußte überhaupt nicht, was er werden wollte. Pe Ontjes Lau hatte freilich einst gesagt: »Ich will mich nicht mehr um Tjark Dusenschön kümmern.« Aber kann ein Mensch das durchsetzen? Muß man sich nicht um ihn kümmern? Muß man nicht bald zu ihm sagen: »Lach nicht so süßlich, Mensch« ... bald: »Lüg doch nicht« ... bald: »Mensch, woher hast du die Mütze und woher das Halstuch?« Man muß Tjark Dusenschön entweder totschlagen oder sich Sorgen um ihn machen.

In der Schmiede gab es schwere Verhandlungen. Jan Friech Buhmann war ratlos und schwer bedrückt. »Er taugt zu nichts,« sagte er, »er ist zu faul.« Pe Ontjes war ratlos und zornig: »Er ist so faul wie du,« sagte er, »aber er hat noch einen Fehler dazu; er ist großartig. Übergeschnappt ist er.« Scheinhold, der Geselle, war ratlos und wirr; er plinkte allerdings verdächtig dabei mit den Augen: »Wir müssen ihn in die Welt laufen lassen,« sagte er, »so wie er da ist. Er findet, glaube ich, ein neues Handwerk, so zwischen Seiltanzen und Grobschmied. Dann haben wieder viele Leute Arbeit.«

Tjark Dusenschön saß in der Mitte auf dem Amboß in einem Anzug, der von verschiedenen Gebern stammte, und in grauen Strümpfen. Um den langen Hals hatte er ein rotes Tuch mit lang herabhängenden Enden, und auf dem runden Kopfe eine alte verschossene Primanermütze. Die Pantoffeln waren auf die Erde gefallen. Er schlenkerte mit den Füßen und krümmte die Zehen, und sah sie alle mit großen, freundlich blinkenden Augen an. Kai Jans saß seitwärts am Schraubstock auf der Nagelkiste, fühlte sich zu jung und unerfahren, um in einer so großen Sache mitzureden, und sah stumm und aufmerksam immer auf den, der das Wort hatte.

»Seine Großmutter ist übrigens beim Pastor gewesen,« sagte Jan Friech.

»Deine Großmutter?« sagte Pe Ontjes, »Ach, du liebe Zeit! Stiena Dusenschön! Das hätte ich sehen mögen! Natürlich so ...« Er schwenkte zierlich Schultern und Arme und lächelte. »Der Pastor sollte ihr sagen, was du werden solltest?«

Tjark Dusenschön war gar nicht beleidigt; er sah auf seine Füße und ließ die Zehen miteinander Verstecken und Greifen spielen. »Sie hat den Pastor gefragt, ob es nicht möglich wäre, daß ich irgendwo an einem Fürstenhof Verwendung fände, so als Vorreiter oder Hofrat oder so was.«

»Na?« sagte Pe Ontjes, und in seiner Stimme klang Hohn und Hochachtung und Unsicherheit durcheinander. »Was hat der Pastor gesagt?«

Tjark zog die Augenbrauen hoch. »Der Andrang ist groß,« sagte er.

»Verrückt!« sagte Pe Ontjes erleichtert.

»Es muß etwas sein,« sagte Jan Friech, »wo er sich fein kleiden kann, und wo er mit feinen Leuten Umgang hat.«

»Teer, Mutt und so was darf nicht vorkommen,« sagte Pe Ontjes höhnisch, »und dann: er muß es weit bringen können.«

Scheinhold, der Geselle, riß an seinen Augen wie der Ewerführer am Großsegel, wenn er drei Tage lang in Windstille gelegen. »Wenn ich was sagen darf ... dann muß er Schreiber beim Bürgermeister werden.«

Da rief Jan Friech überlaut: »Zu Daniel Peters! ... Zu seinem natürlichen Vater! ... Das Kind gehört zu seinem Vater! Allerdings! Kinder, wir haben es! Er muß Schreiber bei Daniel Peters werden.« Er legte die große rußige Hand über die Augen und tat, als schaue er in eine strahlende Landschaft. »Ich sehe seinen Lebensweg deutlich vor mir,« sagte er.

Pe Ontjes sah voll Widerwillen auf das aufgeregte Wesen von Jan Friech. »Denk lieber darüber nach,« sagte er, »was wir denn nun tun müssen.«

»Er muß hingehen und sich verstellen,« sagte Scheinhold, der Geselle. »›Vorstellen‹ nennt man das. Aber wir wissen ja noch gar nicht, ob er will.«

»Wer?« sagte Pe Ontjes, »Tjark Dusenschön? ... Ob er will? ... Das fehlt noch gerade, daß wir ihn fragen. Der wird das, was wir bestimmen.«

»Ich kann mich doch nicht vorstellen,« sagte Tjark kläglich. »In diesem Aufzug! Und Stiefel habe ich überhaupt nicht. Und der Herr Bürgermeister ist ein feiner Mann.«

Sie sahen alle trübselig vor sich hin. Zuletzt hob wieder Scheinhold, der Geselle, den angegrauten Kopf und sagte: »Wenn ich denn was sagen soll ... In unserm Schuppen steht die alte Vollkutsche von Vollmacht Nissen ... wenn wir nun so'n Stück vierzig Lose verkauften, das Los zu 'ner Mark ... und verlosten sie. Dann hätten wir das Geld für Anzug und Stiefel.«

»Sehr gut!« sagte Jan Friech. »Sehr gut,« und nickte, ohne aufzusehen, fortwährend mit dem Kopfe.

Pe Ontjes sah mißmutig drein. »Sie ist zu alt,« sagte er. »So lange ich denken kann, steht sie schon in dem dunklen Schuppen. Aber wir können ja mal hingehen und sie besehen.«

Jan Friech und sein Geselle sahen sich mit einem großen Blick an. »Was sollen wir hingehen?« sagte Jan Friech. »Die Kutsche ist da ... und damit gut.«

»Man kann immer behaupten,« sagte Scheinhold mit gesenktem Kopf, »daß da im Schuppen eine Vollkutsche steht.«

»Sie stammt von Vollmacht Nissen,« sagte Jan Friech. »Als der Bankrott machen wollte, ließ er mir die Kutsche, daß ich mich damit bezahlt mache. Aber ich mochte sie nicht verkaufen.«

»Du konntest sie nicht verkaufen,« sagte Pe Ontjes. »Ich will sie sehen, sonst will ich von der Verlosung nichts wissen.«

»Vierzig Lose,« sagte Tjark rasch und heiß, »das Los eine Mark: dafür kann ich alles bekommen und ein Paar Stehkragen.«

Jan Friech jammerte auf: »Tjark verwechselt immer Netto und Brutto. Ich habe doch eine Hypothek auf dem alten Wrack ... wollte sagen, auf der Kutsche. Vierzig Mark für Tjark und vierzig für mich, zusammen achtzig. Nun redet nicht lange und macht die Sache fertig ...« Er legte seine große Hand auf Pe Ontjes' Knie: »Bedenk,« sagte er, »was soll Tjark Dusenschön werden?«

Da beruhigte Pe Ontjes sich, da er auch keinen andern Rat wußte, und sie machten sich also alle an die Arbeit, legten in einem alten Schreibbuch ein Verzeichnis der Losinhaber an und schnitten aus Pappe achtzig Lose. Dann wurde Scheinhold unterwegs geschickt: er solle zu den Bauern rund um Hilligenlei gehen und sagen: Es handle sich darum, den Enkel einer armen Witwe in einen ordentlichen Lebensberuf hinein zu bringen. Wenn er nach dem Zustand der Kutsche gefragt würde, sollte er sich »mit Vorsicht äußern«. Es war sehr peinlich, daß von den Anwesenden keiner ein Los kaufte. Kai Jans hatte kein Geld; Pe Ontjes sagte, er wolle in ein so muffiges Unternehmen kein Kapital stecken; Jan Friech sagte, er täte als Besitzer der Kutsche mehr als alle andern; kein Mensch könne verlangen, daß er auch noch Bargeld zusetze; Bäckermeister Nissen, der gerade vorüberging und hereingerufen wurde, wollte wohl ein Los nehmen; er wollte aber nur dann bezahlen, wenn sein Los gewönne. Das wurde mit drei gegen zwei Stimmen abgelehnt. Aber Scheinhold, der Geselle, nahm ein Los und bezahlte es bar.

Dann machte Scheinhold sich auf. Im kleinen Trab, bald gegen, bald mit dem harten Märzwind, lief er rund um Hilligenlei, vier Tage lang; kam jeden Abend nüchtern nach Haus und hatte am Abend des vierten Tages richtig die achtzig Mark in der Tasche. Jan Friech bekam vierzig. Mit den andern vierzig in der Tasche und Tjark Dusenschön auf Pantoffeln zur Seite, ging Pe Ontjes zu Schneider Lammann und bestellte den Anzug und sagte ausdrücklich, daß der Anzug für diesen hier neben ihm stehenden Tjark Dusenschön wäre; denn Schneider Lammann hatte den Ruf, daß er alle Anzüge etwas nach seiner eignen Figur mache. Er war kurz und säbelbeinig.

Dann berieten sie, wie sie die Sache beim Bürgermeister machen sollten. Es war keine Kleinigkeit, dem großen und schönen Daniel Peters etwas richtig zu machen. Zuletzt sagte Scheinhold, daß er auch dies übernehmen wolle; man solle ihm nur drei Tage Zeit lassen.

Pe Ontjes drängte sehr, daß die Sache zum Ende und ins reine käme; denn wenn im Frühling das Wetter warm wurde, war kein Verlaß mehr, weder auf Jan Friech noch auf Scheinhold. Über Jan Friech kam dann eine unbezwingliche Neigung zu Angelrute und Duttnetz, und über Scheinhold zur Kümmelflasche und Wanderung. Den Winter über arbeitete er bei Jan Friech in der Hafenstraße von Hilligenlei, war kinderlieb und hilfreich. Im Sommer aber gehörte er zu den Tausenden, welche die langen, kahlen, hellgrauen Landstraßen von Schleswig-Holstein, von Hamburg bis Kolbing, auf- und niederwandern, schlapp, faul, betrunken.

Drei Tage lang ging Scheinhold, der Geselle, wie im Traum einher. Pe Ontjes und Kai Jans fürchteten schon, daß das Unheil bei ihm ausbräche; denn die Witterung fing an, warm zu werden. Sie paßten auf ihn, so gut sie konnten; sogar in der Schulpause rannten sie nach der Schmiede, ob er noch da wäre. Am dritten Tag fanden sie ihn nicht. Da hörte Kai Jans, der eine besonders große Angst um ihn hatte, daß aus der Kammer hinterm Blasebalg, wo er hauste, ein eintöniges Gemurmel hervordrang. Jan Friech kam auch, und sie öffneten leise die Tür. Da stand er da, den Rücken ihnen zugewandt, und knickte wie ein strammes Federmesser ein und sagte gegen die Wand an: »Hochzuverehrender, hochgebietender Herr Bürgermeister, Ritter Pepe ... Dieser Jüngling, der hier neben mir steht, ist der Enkel der ehrlichen Witfrau Stiena Dusenschön, von Mutter wegen aus hohem Hause, dazu von einem gelehrten, unbekannten Vater, wie eine Postkarte bewiesen hat, welche Pe Ontjes Lau leider verschmissen hat. Es ist derowegen kein Wunder, daß der Jüngling sein Streben auf hohe Ziele gestellt hat, nämlich: unter Ew. Hochwohlgeboren die edle Kunst des Schönschreibens und des Stils zu erlernen. Meine geringe Person wird Ew. Hochwohlgeboren ganz unbekannt sein: ich bin Geselle bei Jan Friech Buhmann in der Hafenstraße, namens Adalbert, Heinrich, Reinhold van der Beeke, von den kleinen Kindern der Hafenstraße Scheinhold genannt, weil sie des R's nicht mächtig sind.«

Jan Friech Buhmann machte die Tür leise wieder zu, setzte sich ganz verwirrt auf den Amboß und sagte nach einigem Schweigen: »Dieser Mensch ist unter allen Menschen, die Gott gemacht hat, eine wunderbare Schöpfung für sich: ein Kinderfreund, ein Säufer, ein Gelehrter, und ein Mann mit einem großartigen und schönen Namen. Wie ist sein Name? Ich habe nie gewußt, daß er einen so großartigen Namen hat. Aber das ist klar: die Sache Tjark Dusenschöns ist in den besten Händen. Dieser Ansprache kann Daniel Peters nicht widerstehen.«

Gleich nach Mittag machten sie sich auf; nachher sollte die Verlosung vor sich gehen. Scheinhold in dem schwarzen Abendmahlsrock von Jan Friech, der ihm bis über die Knie reichte, die Ärmel unten umgeschlagen, voran; halb links hinter ihm Tjark Dusenschön in seinem neuen, schönen Anzug, in blanken Stiefeln, schwarzem Rundhut und blauem Schlips; hinterher die ganze Klappjagd aus der Hafenstraße, alle in Holzpantoffeln; Pe Ontjes und Kai Jans in einiger Entfernung. Tjark Dusenschön sah sich zuweilen mit strahlenden Augen um und sagte: »Ihr müßt vor der Tür stehen bleiben.«

Die beiden kamen richtig in die Amtsstube und fanden Daniel Peters an seinem Schreibtisch sitzend. Wie er immer tat, wenn Besuch kam, selbst wenn es Kinder waren, erhob er sich, daß seine ganze herbe Größe und Schönheit sichtbar würden, strich seinen mächtigen, seidenweichen Schnurrbart und hörte stehend, was Scheinhold, der Geselle, ihm vortrug. Es war seine stete Klage, daß der Sinn für Autorität und Wohlanständigkeit in unsern Tagen zugrunde ginge. Hier war beides. Mit einem gnädigen Kopfnicken wurden sie entlassen.

Niemals hat über den Marktplatz von Hilligenlei solch wildes Pantoffelgeklapper geschallt, obgleich drei Süderlohs ihre Pantoffeln in die Hände nahmen und auf Strümpfen dahinrasten. Niemals hat eine feierlichere Sitzung in der Schmiede von Jan Friech Buhmann stattgefunden, als da sie nun die Verlosung vornahmen. Niemals hat Tjark Dusenschön so mit blanken Augen im Mittelpunkte seiner Freunde gesessen, als da er die Lose schüttelte, die in dem alten, schwarzen, abgründigen Schlapphut von Jan Friech lagen. Niemals hat die Schmiede so verdutzte Gesichter gesehen, als da Scheinhold, Scheinhold, der Geselle, und niemand anders, die Kutsche gewann.

Es gab eine gräßliche Bestürzung.

Pe Ontjes biß sich auf die Lippen und sah finster vor sich nieder. Scheinhold saß erschüttert auf der Schiebkarre und hörte nicht, daß Tjark Dusenschön leise zu ihm sagte: »Du, nun könnten wir die Kutsche noch einmal verlosen ... Ich habe noch allerlei Bedürfnisse.« Jan Friech saß am Amboß, paffte stark aus seiner kurzen Pfeife und redete von Tücke des Schicksals. Plötzlich erhob sich Pe Ontjes, sah gar nicht auf und sagte: »Na, ich geh' ja davon in die Welt ... Adieu, alle miteinander! Ich will in meinem ganzen Leben nichts mehr mit euch zu schaffen haben.«

Damit ging er. Tjark Dusenschön ging auch.

Kai Jans wollte auch gehen. Da der Meister und sein Geselle aber mit so stillen Gesichtern dasaßen, blieb er noch und sagte bedrückt: »Ihr solltet jetzt anfangen zu arbeiten. Peter Thebens will seinen Pflug gern wieder haben. Fangt man an!«

Jan Friech Buhmann erhob sich vom Amboß, stieß das verstaubte Fenster auf, das nach dem Hafen hinaus ging, und holte tief Atem und sagte: »Eine merkwürdig warme Luft ... Mach Feuer, Scheinhold, wir wollen den Pflug fertig machen! ... Sieh da ... Hinnerk Iwert geht zum Aalfang ... fängt nichts ... ist zu dumm ...«

Scheinhold, der immer noch auf der Schiebkarre saß, hatte den Kopf gehoben und die Luft gewittert: »Merkwürdig warm,« sagte er. Dann schwieg er eine Weile. Dann schüttelte er schwerfällig den Kopf: »Ich komm' da nicht drüber weg,« sagte er. »Ich habe ein zu feines Gewissen. Sie werden alle sagen, ich habe beim Losen betrogen.« Er stand mit steifen Gliedern auf und öffnete die große Tür und sah die Hafenstraße entlang.

Kai Jans sah ängstlich von einem zum andern, trat neben Scheinhold an die Tür und sagte wieder wie beiläufig: »Ihr solltet nun man anfangen zu arbeiten. Mach doch jetzt Feuer, Scheinhold.«

Jan Friech hatte versucht, das Pflugeisen abzuschrauben, mußte aber durchaus einen andern Schraubenschlüssel holen und kam wieder am Fenster vorbei: »Nun sitzt Karl Martens da auch ... mit seinem Krautnetz ... fängt auch nichts ... zu dumm dazu! ... Es ist eine großartig warme Luft. Die Aale laufen.«

»O,« sagte Scheinhold. »Geht doch, Meister, fangt Aale.«

Jan Friech drehte sich um und sagte verächtlich: »Meinst du, daß ich nicht weiß, was die Glocke geschlagen hat? Du willst zum dicken Bütt hinauf und dich besaufen!«

Kai Jans wollte aufspringen und Pe Ontjes holen, fürchtete aber, daß er zu spät wiederkäme, und blieb stehen und sah mit starren, bangen Augen auf Scheinhold. Er kannte ihn von seiner Kindheit an und hatte ihn lieb.

»Ich zu Bütt?« sagte Scheinhold, »mit nichten!« Er saß eine Weile still. Dann fiel er wieder in sich zusammen und sagte klagend: »Wenn mein Gewissen nicht so fein wäre ... aber ich kann da nicht darüber hin. Man soll nicht sagen, daß ich ein Betrüger bin.«

Jan Friech trat vom Fenster zurück und sagte: »Ich will doch mal sehen, ob mein Netz in Ordnung ist;« und ging in den Hof hinaus.

»Du,« sagte Scheinhold mit schwerer Stimme ... »ich ... zum Arbeiten habe ich keine Lust heute ... Ich will mal zum Sattler gehen, ob er mir den Leibriemen geflickt hat.«

»Du,« sagte Kai Jans und faßte ihn am Arm und sah ihn bittend an: »Ich bitte dich, geh doch nicht zu Bütt.«

»Bewahre,« sagte er, »wie kommst du darauf? Aber ich muß doch zum Sattler, das kannst du doch begreifen! ... Und meinst du, daß einer arbeiten mag, wenn er einen so faulen Meister hat?«

»Und meinst du,« sagte Jan Friech durchs Fenster, »daß einer arbeiten mag, wenn er einen so saufigen Gesellen hat? ... Es ist weder zu viel noch zu wenig Wasser. Gerade die richtige Höhe! Ich geh' nach dem Hafen.«

»Hu ... all das Wasser!« sagte Scheinhold und schüttelte sich. »All das Wasser!« Und er hob die zitternde Hand, die Finger gegeneinander gekrümmt, als hätte er ein kleines Glas darin, und lächelte glücklich.

Da drängte sich Kai Jans mit Angst und Hast an ihn, suchte seine Augen und sagte eilig und dringlich, wie zu einem Schlafenden: »Du, Scheinhold ... du! ... Kennst du die Geschichte vom Schmied von Barlt?«

»Kenne ich nicht,« sagte Scheinhold und stierte die Straße hinauf. Seine Augen waren wie von schmutzigem Glas.

»Der war ein Schmied, wie du bist, und wurde von einem tollen Hund ins Bein gebissen. Der Hund war ganz toll und die Wunde war ganz tief ... Weißt du, was er da tat? Der Schmied von Barlt? Er machte die Tür zu und arbeitete drei Tage lang. Die ganze Schmiede war voll von blankem Feuer, und große gelbe Funken flogen aus dem Schornstein.«

»Ich mag heute keine Geschichte hören, lütt Jung,« sagte Scheinhold mitleidig und erhob sich, als hätte er tausend Pfund auf jeder Schulter und ging auf die Straße.

Kai Jans sah sich nach Jan Friech um, ob der ihm helfen könnte; aber der ging eben mit seinem Netz über den Hof und rauchte mächtig. Da lief er neben Scheinhold her auf die Straße und sah zu ihm auf und redete heiß und eifrig: »Am dritten Tag hörte das Hämmern und Glühen auf. Da schrie der Schmied, als wenn ein wilder Stier schreit.«

»Lütt Jung,« lallte Scheinhold, »ich mag deine Geschichte nicht; ich mag sie ganz und gar nicht.«

»Da wagte es zuletzt sein lieber Bruder. Der war ebenso groß und stark wie er, und war ein Zimmermann. Der schlug mit der Axt die Tür ein. Und da ... da lagen alle Zangen und Hämmer und Feilen und Kohlen ... alles lag in der Ecke zusammengeschmissen und der Schmied stand am Herd und schäumte und riß an großen Stangen und Ketten. Mit denen hatte er sich zwischen Herd und Amboß festgekettet. Als sein Bruder ihn so sah, sagte er: ›Gut gegen gut, mein lieber Bruder‹ und erschlug ihn mit der Axt, daß er sich nicht länger quäle.«

Da stieß Scheinhold den Jungen roh von sich, daß er zur Seite taumelte und hart auf die Steine fiel. Der dicke Bütt stand mit seinem schönen, schneeweißen Haar vor seiner Tür und lachte laut: »Recht so!« sagte er. »Gib es ihm! Nun komm!«

Da stolperte Scheinhold über die Schwelle.

Kai Jans erhob sich und ging, blaß wie ein Geist, ohne Atem, die Straße hinunter und wollte ja wohl nach Haus ... Da kam Pe Ontjes aus seiner Haustür und sagte von weitem: »Ich habe vorhin die Tür zum Schuppen aufgebrochen: die Kutsche hat gar keine Räder mehr. Und das Leder ist auch weg; das hat der Mensch sich unter die Pantoffeln genagelt. Es ist nichts da als der Holzkasten und die Achsen. Und daß Scheinhold das Los bekam, ist sicher ein Betrug von Tjark Dusenschön. Sie sind alle miteinander Lumpen. Ich bin froh, daß ich morgen davon geh'.« Er kam näher; und nun sah er Kai Jans' Gesicht und erschrak so, daß er mit beiden Händen nach vorne griff: »Jung,« sagte er, »was fehlt dir?«

Kai Jans atmete einmal, zweimal heiß und wild und brach dann mit wehem Aufschrei in die Knie.

Pe Ontjes nahm ihn mit seinen starken Armen hoch und brachte ihn nach dem langen Haus hinauf zu seiner Mutter. Da lag er auf dem Fußboden, wimmerte und war wie sinnlos. Pe Ontjes erzählte, was alles geschehen war; es kam auch die alte Zachariesche und erzählte, wie Scheinhold ihn niedergestoßen und wie der alte Bütt gelacht hatte. Da sagte die Mutter traurig: »Dann kann ich mir wohl denken, was mit ihm ist. Er hat mich früher, als er noch kleiner war, in seinen ersten Schuljahren, oft gefragt, ob es wirklich wahr wäre, daß es schlechte Menschen gäbe. Er konnte das nicht begreifen und ich armes Mensch konnte es ihm nicht klar machen. Nun hat er mit einemmal einen ganzen Berg Böses gesehen, eines aufs andere aufgestapelt. Das hat ihn so wirr gemacht.«

»Es ist schade,« sagte Pe Ontjes, »daß er nicht mit mir hinausgeht. Er muß in die Welt hinaus, daß er sie kapiert. So geht es nicht.«


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