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Ende August machte Kai Jans sein Abgangsexamen. Drei Tage später kam er nach dem Kastaniengang und nahm Abschied. Anna gab ihm gleichmütig die Hand; Heinke drückte sie ihm rasch und fest und lief dann hinaus und weinte. Kassen Wedderkop wollte ihn bis Hamburg begleiten; dann wollte er allein nach Heidelberg weiterfahren.
An diesem Abend kam eine Depesche von Piet aus Hamburg: »Anna soll kommen ...« Er hatte ihr immer versprochen, sie solle einmal auf seine Kosten Hamburg sehen. Nun hielt er sein Wort.
Da freute sie sich, daß er an sie dachte und daß dies Einerlei ihres Lebens endlich einmal unterbrochen würde, und war zur Überraschung der beiden Hamburgreisenden morgens in aller Frühe auf dem Bahnhof und fuhr mit ihnen. Sie war noch niemals aus Hilligenlei herausgekommen. Wie wunderte sie sich, als sie auf der hohen Bahn durch die große, große Stadt fuhr. Sie stand am Fenster und staunte stumm.
Am Dammtorbahnhof stand Piet. Es war erstaunlich, daß er da stand. Sie hatte ihn bis jetzt immer nur in Hilligenlei gesehen; nun stand er da am fremden Ort unter lauter fremden Menschen und blitzte sie mit seinen Augen an und nickte kurz. Ja, so war er immer, von Kind an, und darum liebte sie ihn so sehr: weil er eine so entschlossene Männlichkeit hatte.
»Na!« sagte Kassen Wedderkop. »Nun geht ihr unterwegs und zeigt Anna Boje Hamburg; heute abend um sieben aber seid ihr in Altona, im Kaiserhof in der Weinstube. Setzt euch so hin, daß ihr in die Bierstube hinuntersehen könnt. Ich komme dann mit zwei alten Freunden, geborenen Hilligenleiern, die mit mir in Ostasien gewesen sind ... Nun macht, daß ihr wegkommt.«
Da nahmen die beiden Anna Boje in die Mitte und gingen mit ihr nach dem Jungfernstieg. Sie zeigten ihr die Post und das Kriegerdenkmal, und an der Alster die gewaltigen Gasthöfe und Bankhäuser. Dann gingen sie mit ihr über den Rödingsmarkt nach dem Hafen und fuhren mit dem Dampfboot nach dem Krahnhöft. Ihr Staunen hatte schon abgenommen; sie sah alles mit ruhigen, wenig verwunderten Augen und dachte: ›Ach ... ach ... was geht mich das alles an? Was soll ich mit all den vielen Menschen und all den großen Dingen? Hätte ich nur einen Menschen, der mir gehörte.‹ Dann und wann, wenn es unbeobachtet geschehen konnte, sah sie ihren Bruder von der Seite an und dachte an ihre Kindheit, und ihr wurde das Herz heiß von Liebe zu ihm und sie grämte sich, daß er immer so kühl und kurz mit ihr war, und sie dachte: ›Kai Jans ist lange nicht so sicher wie er.‹ Er wiederum sah sie auch an, wenn sie es nicht merkte, und dachte: ›Was für ein Wandel! Sie stand barfuß im Watt, das Kleid reichte eben bis zum Knie und ihr kleiner Fuß blutete von einem Muschelschnitt, und nun ist sie ein großes, schönes Mädchen geworden.‹ Kai Jans sah immer nach vorn, ob er im Gewirr der Masten die Goodefroo fände.
Auf der Goodefroo rumorte es von Dampf und Kettenrasseln und Zuruf. Kai Jans ging nach vorn, das Haus und die Back zu besehen. Piet aber und Anna gingen nach achtern. Er beantwortete ihre leise Frage, wo er sich aufhielt, wenn er Wache hätte, und sie stand da lange und sah über das weite Schiff und hinauf nach den Toppen und versuchte, sich mit Hilfe von Bildern, die sie gesehen hatte, vorzustellen, welches Bild der Bruder bei Sonnenschein und bei Sturm vor Augen hätte, und faßte leicht seine Hand, ohne ihn anzusehen, und ging dann mit ihm die Treppe hinunter.
»Siehst du? Hier wohne ich.«
»Junge!« sagte sie mit ehrlichem Erstaunen, »das ist aber ein kleines Loch.«
Er lachte: »Ja, nun denke, daß der große Pe Ontjes hier gewohnt hat, als er zweiter war.«
»Wo ist er jetzt?« fragte sie gleichmütig.
»Er ist hier in Hamburg und geht morgen mit Mannschaft nach Glasgow, um ein Schiff zu holen. Mit dem will er noch zwei Fahrten tun; dann will er nach Hilligenlei ziehen und sehen, ob das Geschäft des Alten sich erweitern läßt.«
»So!« sagte sie. Sie hatte schon in Hilligenlei davon gehört.
»Du hast dich noch gar nicht darüber gewundert,« sagte er, »daß ich so früh zweiter Steuermann geworden bin und auf einem so schönen Schiff.«
»O, du!« sagte sie. »Wie hat unsere Mutter sich gefreut! Und wir alle!«
»Und nun sollst du ihr noch was anderes erzählen!« Und er fing an, in seiner Kiste zu kramen und holte eine Zeitschrift über Schiffsbau heraus, zeigte ihr zuerst das Titelblatt und schlug sie dann auf: »Nun sieh!«
Sie las: »Die Verwendung von Dampfmaschinen oder Motoren auf großen Segelschiffen«, und darunter stand: »von Piet Boje«.
Da schlug sie die Hand vor die Brust und sah ihn mit großen Augen an. »Nein!« sagte sie, »Piet!«
»Ich sage dir,« nickte er, »ich habe mich dabei abgesetzt! Weißt du: nicht bei der Sache selbst – die war mir klar –; aber beim Ausdruck. Man ist so unsicher, wenn man keine höhere Schule besucht hat. Siehst du: darauf hin habe ich die Stelle bekommen! ... Und bei der Gelegenheit habe ich unserm Reeder ... sieh mal ... dies Modell gezeigt ... du kannst es so nicht verstehn ... es zeigt eine Vergrößerung des Laderaumes. Siehst du? Immer wache Augen haben, immer vorwärts! Das liegt so in mir.«
»Aber wer hat dich zuerst auf solche Gedanken gebracht?«
»Ja,« sagte er, »das war der alte Süffel auf der ›Klara‹ ... du erinnerst dich ... der hat mich auf die Spur gebracht.«
»Wo ist der jetzt?«
»Im Hospital in Lissabon verkommen, sagen sie.« Und er breitete die Zeitschrift noch einmal aus und lachte fröhlich. »Hat mir Spaß gemacht, du!« und legte sie wieder hin.
Anna beugte sich über den Tisch und besah die Bilder, die da an die Wand genagelt waren. Ach ... wie eigen! ... da war in dem kleinen, fremden Raum das Bild der Eltern, einst in ihrem jungen Ehstand aufgenommen, und das gemeinsame Bild von Heinke und Hett, als sie so zehn Jahre waren. Und dann ihr Bild, als sie so achtzehn war. Sie hatte ganz verwirrte Augen, weil der Lichtbildner, ein junger Mensch, ihr vorsichtig ans Haar gerührt hatte, ihrem Kopf die Stellung zu geben, die er wünschte. Und da neben ihr? ... Wer war das? Sie erkannte Pe Ontjes Lau, in kurzem, hellblondem Vollbart, sah ihn mißtrauisch und scharf an und wandte sich ab.
Als sie alles gut besehen, auch die Koje begutachtet hatte, gingen sie alle drei wieder von Bord und trieben sich den ganzen Tag umher: auf der Alster, in der Kunsthalle, in den Hauptstraßen.
Als sie dann, gegen Abend, da es warm genug war, vor dem Alsterhaus unter dem Glasdach saßen ... wer kam da? ... Wer war der lange, feine Herr mit dem runden, bartlosen Gesicht und den großen, blanken, freundlichen Augen?
Tjark Dusenschön ... Natürlich!
Er verbeugte sich vor Anna, den Zylinder in der Hand und sagte mit schelmischer Freundlichkeit: »Gestatten die Herrschaften, so setze ich mich ein wenig zu Ihnen ... Ich pflege hier eine Tasse Kaffee zu trinken,« sagte er, »wenn ich ein gutes Geschäft gemacht habe; und da das glücklicherweise häufig vorkommt, so trinke ich hier häufig Kaffee.« Er gab dem Kellner, der besonders eilfertig herankam, den Überrock samt dem weißseidenen Kragenschoner und den Stock, der mit Silber beschlagen war, und setzte sich gemächlich hin. »Ich sah die Herrschaften da sitzen und erkannte sie alle, weil ich Piet erkannte.«
»Warum kommen Sie nie nach Hilligenlei?« fragte Anna mit verhaltenem Zorn. »Ihre Großmutter lebt doch da?«
Tjark sah sie ruhig an und sagte: »Ich habe kein Bedürfnis, Fräulein Boje; und meine Großmutter hat ihr täglich Brot durch ihre Arbeit. Was soll ich also in Hilligenlei? Ja, ließe sich in Hilligenlei ein Geschäft machen! Vergnügungsreisen zu machen, habe ich keine Zeit.«
»Was treibst du denn jetzt?« fragte Kai Jans.
»Ich bin fünf Jahre Kontorvorsteher gewesen; jetzt mache ich Geldgeschäfte.« Er sah sie dabei der Reihe nach an, wie er sie weiland in der Schmiede von Jan Friech Buhmann angesehen hatte.
»Geldgeschäfte?« sagte Anna. »Ich kann mir nichts dabei denken.«
»Ich will es Ihnen kurz erklären, Fräulein Boje,« sagte Tjark höflich, indem er sich ganz zu ihr wandte: »Sehen Sie: da sind Leute, die brauchen für irgendein Unternehmen Geld; da sind aber andere Leute, die haben Geld und wollen es unterbringen. Und keiner weiß vom andern. Sehen Sie? Nun bringe ich diese Leute zusammen. Oberkellner! ... Der Oberkellner will z. B. ein Hotel anfassen, hat aber kein eigenes Kapital. Da kann ich es ihm vielleicht verschaffen ... Tasse Schwarz, Herr Oberkellner!«
Die Kinder von Hilligenlei staunten. Die alte Stiena Dusenschön ließ da vor dem langen Haus ihre Haubenbänder fliegen und erzählte Wunderdinge von Tjark, Tja ... ark ... und siehe: es ist alles Wahrheit. Alles ist Wahrheit! Denn was hat Tjark Dusenschön für einen feinen Anzug an. Und wie ruhig und solide ist der ganze Mann!
»Was machst du denn, Kai?« sagte er.
»Ich geh' nach Heidelberg und dann nach Berlin ... Theologie und neuere Philologie.«
»Theologie! Das freut mich,« sagte Tjark bedächtig. »Das Volk, die Masse, braucht die Geistlichen, ihre natürlichen Führer. Du, eines Arbeiters Sohn, wirst das Volk verstehen ... Und Sie, Fräulein Boje? Noch bei der Mutter?«
»Da ist Arbeit genug,« sagte Anna.
»Wenn Sie sich jemals eine Stellung in Hamburg wünschen sollten, schreiben Sie, bitte; ich habe Beziehungen zu einigen angesehenen Familien und glaube wohl, daß ich Ihnen einen guten Platz verschaffen kann.«
»Ich möchte nun gehen,« sagte Anna ... »Ich bin den ganzen Tag im Gange gewesen; ich will mich ein wenig ausruhen.«
»Ich bleibe noch eine Weile,« sagte Tjark Dusenschön, stand auf und half Anna höflich in die Jacke.
»Ich mag den Menschen nicht sehen,« sagte Anna, als sie unterwegs waren; »es ist alles falsch an ihm: sein ganzes rundes, blankes Gesicht, und seine Großvaterweisheit erst recht.«
Piet und Kai Jans schwiegen; ihnen hatte Tjark Dusenschön doch Respekt gemacht.
Um acht Uhr waren sie in Altona im Kaiserhof, fragten ein wenig schüchtern nach der Weinstube und setzten sich. Als der Kellner kam, bestellten sie das erstemal in ihrem Leben – Piet war der Besteller; sie haben es nie vergessen – eine Flasche Wein, leichtesten Moselwein, und wagten es, sich umzusehen. Als sie merkten, daß alle Gruppen an allen Tischen in gewohnter Unterhaltung blieben, wurden sie sicherer und fingen an, sich behaglich zu fühlen.
Da sah Anna Boje, seitwärts an einem kleinen Tisch, hinter einer Rotweinflasche einen einsamen Gast sitzen, der unbeweglich zu ihrem Tisch herübersah. Er war in grauer, behäbiger Bürgerlichkeit gekleidet, in zweireihigem dunkelm Tuchrock, hatte einen breiten, sehr gewöhnlichen Kopf und die weißen fetten Hände ineinandergelegt auf dem Tisch. Er hatte etwas an sich, daß sie sein Gesicht deutlicher zu sehen suchte. Sie tat sich aber einen Zwang an und sah weg; und sah nach einiger Zeit doch wieder hin. Er glotzte unter schwer herabhängenden Augenwimpern träge und unbeweglich zu ihnen herüber. Es wurde ihr unbehaglich, sie wandte sich ganz ab und lehnte sich schräg gegen den Tisch. Kai Jans hatte sich fröhlich im Raum umgesehen, sah nun Anna an und hob sein Glas. Da sah auch er, an Annas Kopf vorbei, den Fremden und hatte gleich ein Gefühl der Unbehaglichkeit und bog sich, daß er ihn nicht mehr sah, und sagte mit einem tiefen Atemholen: »Nun geht's über die Elbe und ins Leben hinein!« Und er nickte den beiden fröhlich zu und trank.
Da erschien Kassen Wedderkop, etwas schwer hinkend, aber in guter Stimmung; hinter ihm seine beiden Freunde, ein kleiner Roter und ein langer Blonder; alle drei so um Fünfzig und stattliche, wohlerhaltene Männer.
»Was?« sagte der kleine Rote, »mit so jungem Volk sollen wir zusammensitzen?«
»Benimm dich gut!« sagte Kassen Wedderkop, »du hast lange nicht mit so frischer Jugend zusammengesessen. Sieh Anna Boje an! ... War's ein schöner Tag, Kind?«
Der lange Blonde setzte sich neben Anna. Neuer Wein stand auf dem Tisch.
»Habe ich dir mal erzählt,« sagte er zu Wedderkop, »wie ich einmal acht Tage lang mit einer jungen Schönen verkehrt habe? Es ist lange her. Es ist eine Geschichte zum Wein und es ist eine Geschichte, vor einem jungen Mädchen gut zu erzählen.« Er sah Anna Boje freundlich und höflich an: »Wollen Sie es hören? ... Ihr beiden alten Reisegefährten wißt, daß ich meine Kindheit in Hilligenlei, aber meine Jünglingsjahre in Itzehoe verlebt habe. Zwei Kinder waren wir: mein Bruder und ich; eine Schwester hatten wir nicht. Wir kamen nicht aus der Stadt heraus; wir machten den Verkehr mit, den die Eltern hatten; einen sehr ordentlichen und sehr steifen Verkehr; denn unsere Eltern waren sehr korrekte Leute. Junge Mädchen lernten wir nicht anders kennen, als wenn wir auf den Hausbällen in schwarzen Röcken und weißen Handschuhen mit ihnen tanzten, und wenn wir sie auf der Straße im Vorbeigehen höflich grüßten. Wir waren eben Naturen, unsern Eltern ähnlich. So blieb es, bis ich so siebenundzwanzig war und mein Bruder fünfundzwanzig; der war Kaufmann, wie ich.
Da machte er eines Tages aus lauter Langerweile und Neugierde einen kleinen Ausflug zu einem entfernten Vetter, der als Pastor in einem abgelegenen Dorf unserer Landschaft unter einem breiten Strohdach wohnte. Als er sich eben zwischen dem Vetter und der Cousine an den Kaffeetisch gesetzt hatte, kommt da ein großes, schönes Mädchen in die Stube, die Tochter eines benachbarten Landmanns, die zum Besuch da weilte. Nach dem Kaffee hatte er Gelegenheit, eine Stunde lang mit ihr allein durch den Garten zu gehen. Nach acht Tagen war er wieder da. Nach vierzehn Tagen trafen sie sich im Dunkeln an einem dritten Ort. Dann verlobte er sich mit ihr. Bald darauf besuchte sie ihn acht Tage lang in unserm Elternhaus.
Diese acht Tage sind die merkwürdigsten und schönsten meines Lebens gewesen. Wir beiden guten dummen Jungen lernten in den Tagen etwas kennen, etwas, wovon wir nichts gewußt hatten, daß es existierte, daß es so etwas wunderbar Merkwürdiges auf der Welt gäbe. Was war es? Wir lernten ein schönes, junges Mädchen kennen, gesund an Leib und Seele, so schlicht und natürlich, als wäre es erst gestern von Gott geschaffen. Wir kannten von der Schule her, wie viele verschiedene Sorten von Nashörnern in Afrika lebten; und wir hatten gelernt, was eine Oper ist und eine überseeische Handlung, und wie man eine Auster aufmacht. Aber dies Wesen war uns noch nicht vorgekommen. Wir kannten es weder auswendig noch inwendig. Wir lernten es ganz plötzlich kennen.
Ich kann euch nicht sagen, wie wir uns gewundert haben, und wie übervoll von Glück diese acht Tage waren. Mein Bruder und ich haben uns über dies Stück Schöpfung sehr gewundert. Es war Sommerzeit. Sie lag in unserm Garten im Gras, in ihrem losen Kleid, in ihrer ganzen Herrlichkeit. Mein Bruder saß zu ihrem Haupt und ich zu ihren Füßen. Ihr müßt nicht denken, daß es mich quälte, daß sie so herrlich jung und schön und schlicht war und nicht mir gehörte. Das hat mir ganz fern gelegen. Ich habe nichts als Freude gehabt; ich freute mich über sie wie über eine große, schöne Schwester, die mir plötzlich geschenkt war. Ihr müßt auch nicht denken, daß sie die erste Schönheit war, die ich sah; es wächst da manche Schönheit in der Gegend. Sondern es war: daß sie ihre Glieder und ihre Seele so dicht vor unsern Augen und so ganz selbstverständlich und harmlos ausbreitete und gar nicht wußte, was sie uns Neues und Schönes zeigte. Ich wunderte mich über jede Bewegung ihrer Glieder, und fast noch mehr über jedes Wort, das sie sagte. Ihre Glieder waren, wie wenn über einen weichen, jungen Wald leichter Wind hinrauscht, daß es ist, als wenn er atmet und sich dehnt unterm Wind; ihre Worte waren, als wenn eine Linde redet, die in Blüte steht; wir sahen immer auf ihren Mund.
Die acht Tage gingen vorüber. Ich mußte nach Hamburg und ging bald darauf nach China ...« Er sah sinnend vor sich ins Glas ... »Ich weiß nicht,« sagte er, »ob diese acht Tage Ursache gewesen, daß ich einsam geblieben bin. Jedenfalls waren sie die schönsten meines Lebens.« Und er faßte sein Glas und wandte sich Anna Boje zu, grüßte sie mit dem Glas und sagte: »Sie sind schuld, daß ich auf diese Geschichte gekommen bin.« Und trank.
Da nickten auch die andern ihr zu, und Kai Jans sah sie an und sah die leichte Röte in ihrem reinen, schönen Gesicht, und dachte: Wie schön ist sie.
Kassen Wedderkop schenkte neu ein und sie sprachen ein wenig durcheinander und sahen auf die Gäste, die da saßen und ab und zu gingen. Anna wandte sich zu Piet und sagte leise: »Sieh mal den Mann an, den breiten, grauen, schräg hinter mir.« Piet bog sich ein wenig, daß er am Kopf seiner Schwester vorbei sah, und sah hin. Er saß immer noch hinter seiner Rotweinflasche, in derselben breiten, trägen Ruhe, die etwas Unnatürliches hatte, so, als wäre seine Seele zur Zeit nicht in ihm, so, wie ein leeres Haus unheimlich ist; und sah mit seinen glotzenden, unbeweglichen Augen nach ihrem Tisch. Piet wandte sich rasch wieder zur Seite und sagte leise und leicht: »Ein Hamburger Philister und Rotweintrinker. Läßt andre für sich denken und arbeiten. Was geht er uns an?«
»Du!« sagte Wedderkop zu dem kleinen Roten, »sag mir mal eins! Weißt du noch, wie wir drei auf dem russischen Dampfer von Wladiwostok nach San Francisco fuhren? Erinnerst du dich noch der Fahrt? Niemals in meinem Leben habe ich etwas so Wildes und so Großes erlebt: wir fuhren mit schmieriger Maschine, ohne ordentliche Navigation, ohne Ausguckmann, durch schwere, graue Wogen, durch kalte, treibende Nebel, durch tagelange, brausende Schneestürme, immer geradeaus, wir drei Deutschen einsam unter lauter Russen, die vor ihren Heiligenbildern soffen und fluchten. Wir beide, der Lange und ich, waren in einer großartigen Stimmung: als rasten wir die Milchstraße entlang und könnten jeden Augenblick ins Unendliche stürzen. Du aber warst teilnahmlos ... Was fehlte dir damals?«
Der Kleine sah mit klugen, sinnenden Augen auf den Freund, und dann mit munteren auf Anna Boje und sagte: »Ich weiß auch eine Geschichte zum Wein, und für die Ohren eines schönen Mädchens ... Ihr wißt ... ich bin im Pastorat zu Hilligenlei geboren, das heute noch unverändert steht. Mein Vater war ein etwas enger und starrer Mann und konnte sich wenig um uns Kinder bekümmern, da er viel Arbeit hatte. Unsere Mutter ... davon mag ich vor andern Leuten nicht reden ... ich weiß auch nicht, wie groß ihre Schuld war, und wie groß die des Vaters ... genug, sie ging fort ... und ist nun tot ... Es war schlimm für uns Kinder: der Vater steif und hart, die Mutter mit bitterm Hohn auf den Lippen; danach wir mit dem Vater allein. Da kam es dahin, daß ich, der Pastorensohn, unter allen Konfirmanden am meisten über das spottete, was mein Vater von der Kanzel lehrte ... In Hamburg, in der Lehre, blieb ich, was ich war: ein kalter Spötter und ein leerer Alleswisser. Einige Jahre nach der Lehrzeit, als ein Zweiundzwanzigjähriger, ging ich nach Hongkong.
Als ich dort ein oder zwei Jahre gewesen war, wurde ich bei einem jungen Ehepaar eingeführt. Er war ein Engländer; sie eine Hamburger Kaufmannstochter. Sie mochte damals so gegen dreißig sein, gesund, blühend, glückliche Frau und junge Mutter. Sie merkte bald, wie aufgeblasen und verlogen es in mir war, und hatte Mitleid mit mir und fing an, mir zu helfen. Wunderbar, wie sie es verstand. Sie ließ mich spotten und höhnen und prahlen und gab mir fast recht darin; nur daß sie jedes Stück, das ich also in den Schmutz geworfen hatte, wieder aufnahm und seitwärts an einen reinlichen Ort legte, so wie eine Mutter ein altmodisches, steifes Stück Zeug sorgfältig beiseite legt, weil es einst der Stolz der Großmutter gewesen. Da stutzte ich und meine Härte ließ nach.
Sie war an der Seite ihres Mannes weit in der Welt umhergekommen, obgleich sie noch so jung war. In Südamerika hatte sie starres, katholisches Christentum gesehen, in Japan hatte sie an dem Krankenbett eines heidnischen Gelehrten gestanden, in Hongkong verkehrte sie mit einem Katholiken, auf dessen Bücherbord nur lateinische Schriftsteller standen; sie hatte auch viel gelesen: Mark Aurel und Plato kannte sie, und vor allem Goethe. In stillen, milden Gesprächen, nie angreifend, immer, immer zurückweichend, zeigte sie mir das, was der feste, heilige Grund ihrer Seele war: das demütige Verehren des Geheimnisses, das hinter der Welt und der Seele ist. Da wurde meine Natur rein von all dem Falschen, das sich in ihr eingenistet hatte; sie klärte sich, und ich wurde ein schlichter und stiller Mensch.
Es konnte nicht anders kommen, als daß ich mich heiß in sie verliebte. Ich meinte, ich könnte fern von ihrer Schönheit, Klugheit und Güte nicht leben. Eines Tages kam ich zur Erkenntnis, daß ich fort müßte, wenn ich nicht zugrunde gehen wollte ... Da ging ich.
Das Gehen wurde mir dadurch ein wenig leichter, daß ich eine große, heimliche Hoffnung in mir trug. Nämlich, wenn ich in ihrem Hause Gast war, hatte ich die Gewohnheit – die ich haben durfte – daß ich die Bilder, die da in der Stube hingen und lagen, betrachtete. Da kam ich immer wieder zu dem Bilde der jüngern Schwester, die, einundzwanzig Jahr alt, bei den Eltern in Hamburg lebte, und ihr ungewöhnlich ähnlich war. Da dachte ich: Du reist nach Hamburg und heiratest die Schwester, ihr Ebenbild.
Ich nahm also Urlaub und kam nach Hamburg und kam mit dem Gruß der fernen Tochter in ihr Elternhaus und sah die Schwester. Sie war ganz wie die, welche ich so heiß liebte. Körperlich ihr gleich und in ihren braunen Augen spielte derselbe freundliche Schelm. Sie war auch klug wie jene und sie hatte auch Mark Aurel verstanden und Goethe; sie war auch freundlich ... Aber es fehlte ihr etwas ... eins ... es fehlte ihrer Seele die Tiefe, die stille, schwarzblaue Tiefe: die Ehrfurcht vor den ewigen Geheimnissen ... Sie konnte über Religion lachen ...«
Er sah in Gedanken vor sich hin ... »Ich konnte sie nicht heiraten,« sagte er. »Ich dachte immer an jene andere, die in Hongkong im Glück saß ... und ich denke noch an sie ... Jene zwei Hongkonger Jahre sind die glücklichsten in meinem Leben gewesen ...« Er hob den Kopf und sah Anna Boje an und sagte freundlich: »Sie sind schuld, daß ich die Geschichte erzählt habe. Ihre ruhigen, klaren Augen sagen: Erzähl' ein wenig Wahrheit. Sie erinnern mich an jene Augen, obgleich die Ihren hell sind ... Jene verlangte auch Wahrheit ...« und er hob sein Glas und grüßte sie und trank.
Als sie alle getrunken hatten, sahen sie in Gedanken vor sich hin. Das rötliche Licht fiel von oben her auf sie; leiser, blauer Dunst lag um sie; das Haar Anna Bojes war hell und leuchtete. Der Kellner sah mit stillem, blassem Gesicht auf die freundliche, kleine Tafelrunde, in der nun schon der zweite Graukopf mit so bedeutsamem Kopfnicken das Wort führte. Der Fremde saß an derselben Stelle, das Glas vor sich, die Hände ineinander um das Glas, und sah mit runden, grauen Augen seelenlos stier auf die alten und jungen Kinder von Hilligenlei. Die forderten neuen Wein und tranken fröhlich. Und Kai Jans hob sein Glas und sah mit den schelmischen Augen seines Vaters auf Anna. »Du, Anna Boje! Auf unser Wohl! Im Mai komme ich wieder!«
Anna Boje sah ihn freundlich an und lachte auf.
Da sagte der Lange, der einst in Itzehoe im Garten zu den Füßen der Landmannstochter gesessen hatte, während sein Bruder zu ihren Häupten saß: » Deine Geschichte, Wedderkop, hat auf der andern Seite der Alster gespielt, gar nicht weit von hier ... ich kenne sie.«
»Ich glaube nicht, daß du sie kennst,« sagte Wedderkop, »aber ihr könnt sie gern erfahren; sie ist kurz, und sie ist eine Geschichte beim Wein und für feine Mädchenohren ... Als ich damals mit euch beiden über San Francisco nach Hause kam, fand ich einfacher Junge die Beachtung eines unserer ersten Kaufleute. Ich lernte ihn im Kontor meines Chefs kennen und gefiel ihm und wurde in sein schönes Haus geladen, da jenseits der Alster. Dort habe ich durch fünf Wochen schöne Stunden verlebt.
Er war ein tüchtiger Kaufmann; er steht noch heute als kühler, vorsichtiger Geschäftsmann in gutem Ruf. Aber bei aller Geschäftstüchtigkeit und Geschäftsklugheit vergaß er nie den innern, idealen Sinn des kaufmännischen Berufs. Er sprach mit starker Bitterkeit über die Kaufleute, welche meinen, ihr Lebenszweck wäre, Geld über Geld zu verdienen; und sprach mit klugen und köstlichen Worten von dem wahren Königstum des andern Kaufmanns, welcher sorgt, daß auf der Erde kein Gut verkommt, sondern daß die Güter der Erde zu allgemeinem Nutzen über den ganzen Erdball hin- und hergeschoben und verteilt werden, daß sie an rechter Stelle den Menschen nützen, die Not abhalten und die Lebensfreude erhöhen. Er ging manches Stündlein seiner freien Zeit mit mir durch seinen schönen Garten und weitete mir Herz und Auge mit solchen Gedanken.
Und seht! Wenn wir so gingen: dann ging seine jüngste Tochter fast immer neben uns ... Und wenn sie einmal nicht da war, rief er sie oft, daß sie mit uns ginge. Ich weiß nicht, ob er uns mit einer heimlichen, guten Absicht zusammenführte. Daß er mich sehr gern hatte, das weiß ich wohl. Genug: Sie war jung und schön, und trug ihr feines, schlichtes Kleid wie eine junge Birke ihre Krone. Und der Garten war voll von edlen Blumen und Bäumen; und das Haus war voll von altem Reichtum und voll von Güte. Fünf Wochen vergingen so.
Da kam die Frau des Hauses heim, die die verheirateten Kinder besucht hatte. Sie war ganz anders als der Mann und sein jüngstes Kind. Sie durfte es vor den beiden nicht offen zeigen; aber sie war inwendig hochmütig und herrschsüchtig. Sie mochte mich nicht, und sorgte, daß ich nicht wieder kam.
Da ging ich wieder nach China und blieb fünfzehn Jahre dort ... Warum ich ledig geblieben bin, weiß ich nicht ... Weil ich an das schöne Kind dachte, in seinem feinen, schlichten Kleid, mit dem ich neben dem klugen, gütigen Mann durch den schönen Garten gegangen war? Ich wollte ja wohl nicht hinuntersteigen ... Als ich fünfzehn Jahre drüben gewesen war, traf mich auf einem Weg ins innere Land eine koreanische Kugel. Ich ging nach Hamburg zurück, brachte mein kleines Kapital bei einigen Freunden unter und zog nach Hilligenlei. Und spinne nun die Gedanken weiter, die jener einst im schönen, sonnigen Garten mit mir beredet hat, die Gedanken vom klugen, königlichen Kaufmann; und noch heute freut mich am meisten jede kleine Aufmerksamkeit und Anerkennung, die jener mir schickt; er ist nun ein alter Mann ... Von seinem Kind weiß ich nichts ...« Er hob sein Glas und sah Anna Boje an, und grüßte sie und trank.
»Aber nun!« sagte der Lange, »möchte ich wahrhaftig wissen, was die Jugend zu den drei Junggesellen sagt!«
»Sag' du, Piet!« sagte Kassen Wedderkop, »was sagst du?«
»Sie waren alle drei, wie wir Seeleute sind,« sagte Piet mit Lachen. »Zur See oder in China: das ist gleich. Wären Sie hier in Hamburg gewesen, so hätten Sie alle drei geheiratet.«
Da zürnten die drei und stritten dagegen und sagten: »Er will uns herunterreißen. Das ist nicht wahr. Wir wollen nicht mit ihm anstoßen.«
»Nun, sag' du deinen Spruch, Anna! Sag' ihn frei heraus! Sind wir um nichts und wieder nichts ledig geblieben?«
»Mir scheint,« sagte Anna Boje gnädig, »Sie begehrten alle drei das Feinste, was Sie sahen. Als Sie das nicht bekommen konnten, blieben Sie ledig. Ein junges Mädchen kann das verstehen und muß es achten. Sie sind alle drei ehrenwerte Junggesellen.«
Da freuten sich die drei und lachten laut und grüßten sie.
»Aber nun!« sagte der Lange, »nun kommt der dritte! Den habe ich schon immer mit Mißtrauen beobachtet; aber man sieht nicht genug von seinen Augen; sie liegen zu tief ... Nun sag' du deinen Spruch.«
»Ich denke wie Anna Boje,« sagte Kai Jans, und seine Augen strahlten von Leben und Güte: »Sie haben etwas Reines, etwas Heiliges haben wollen. Darum sind Sie nun ledig. Und Sie haben recht getan; denn nun sind Sie reine Leute geblieben.«
Da sahen die drei unsicher vor sich nieder in ihre Gläser ...
Aber dann hob der Lange sein Gesicht und sagte ernst: »Ich mag nicht, daß die Jugend in einem so schweren Irrtum bleibt: Wir haben einmal in unserer Jugend das Heilige gesehen; aber das hat uns leider nicht abhalten können, nachher Sünder zu werden.«
Da erschrak Kai Jans und sein Gesicht veränderte sich. Er starrte finster und blaß vor sich hin und wollte aufstehen.
Da erhob sich auch der Fremde, die dunkeln leeren Augen auf ihn gerichtet.
Aber Kai Jans setzte sich wieder und starrte wieder dumpf auf den Tisch.
»Wir wollen nun gehen,« sagte Wedderkop bedrückt ... »Wollt ihr noch ein wenig bleiben?«
»Wir bleiben noch ein wenig,« sagte Piet ruhig.
Aber als sie noch nicht draußen waren, schlug Kai Jans mit der Hand schwer auf den Tisch und rief in hellem Hohn: »Seht ihr? ... So steht es! ... Hilligenlei? ...« und lachte laut und bitter auf.
In dem Augenblick – er lachte noch – trat der Fremde an den Tisch und setzte sich ihm gegenüber und sagte mit träger Stimme und die Augen mühsam zu Kai Jans erhebend: »Ich hörte die Geschichten der Alten, und wußte schon, wohin die Sache lief.«
Anna Boje sah mit raschem, scheuem Blick auf ihn, und sah, daß seine Augen ganz stockig und talgig waren. Das Herz schlug ihr vor Bangigkeit bis an den Hals; sie wollte sich zu Piet wenden, konnte es aber nicht.
Kai Jans lehnte sich schwerfällig nach vorn: »Wissen Sie,« sagte er, »ich bin so ein Mensch ... ich habe von Kindheit an alles so furchtbar ernst genommen ... so ernst, wissen Sie ... ich glaube, ich sage richtiger ... heilig ... ich bin früher mal ... um die ganze Welt gefahren ... dahinter her ... ich meinte immer, die Welt müßte heilig sein ... In der letzten Zeit aber ist mir so ...,« er lachte wieder schwer ... »Und nun kommen die Alten mit ihren Geschichten ... die Alten müssen es doch wissen ... Mir wird so wunderlich zu Mut ... Ich glaube ... mir ist seit einiger Zeit der Gedanke gekommen ... daß alles ... ganz gleichgültig ist ... ganz gleichgültig. Wer sind Sie denn?«
Anna wandte sich ängstlich zu Piet und sagte: »Wollen wir gehen?«
»Ich möchte noch ein wenig warten,« sagte Piet rasch und sah sich um.
»Auf wen denn?«
»Ich traf gestern Pe Ontjes,« sagte er kleinlaut »und erzählte ihm, daß du kämst; da versprach er mir, daß er auf eine Stunde kommen wollte. Viel Zeit hat er nicht. Aber ich hätte doch gedacht, daß er gekommen wäre.«
Sie fuhr auf und sagte bitter: »Das hätte ich dir vorher sagen können, daß er nicht kommt.«
In dem Augenblick sprang Kai Jans auf und schlug auf den Tisch und sagte laut: »Wißt ihr was? Ihr beide, ihr Bojes! Sucht ihr Hilligenlei! Ja! ... sucht ihr es! Sagt es auch den andern: dem großen Pe Ontjes Lau und der kleinen Heinke ... die wird noch schöner als du, Antje! Sagt es auch Tjark Dusenschön, dem Narr gewordenen Königskind! Was soll ich mich immer plagen? Sucht ihr Hilligenlei, hört ihr? Ich ... ich will mir ein anderes Land besehen.«
Anna stand mit blassem Gesicht auf: »Komm,« sagte sie, »es ist schrecklich, er ist betrunken. Die Leute sehen auf uns ... komm, Piet.«
Der Fremde stand neben Kai Jans. »Gehen Sie ein Stück mit mir?« sagte er.
Der Kellner kam und half Anna in die Jacke.
»Was ist das für ein Mensch?« fragte Piet, und zeigte nach den beiden, die nach dem Gang zu gingen. »Der Graue da!«
»Wir wissen nicht, wer es ist,« sagte der Kellner; »er sitzt hier zuweilen und trinkt eine Flasche Rotwein und bringt es immer fertig, daß er sich an eine Gesellschaft heranmacht ... besonders hat er es auf junge Leute abgesehen. Und dann ist es jedesmal aus mit der Freude,« und er sah in ihre finsteren, verstörten Gesichter.
»Der Lump,« sagte Piet. »Was ist er denn?«
Anna schluchzte in Scham und heißer Angst auf: »Geh hinter Kai Jans her ... O, wie schäme ich mich vor den Leuten.«
»Ich hinter ihm her?« sagte Piet höhnisch. »Laß ihn laufen, wohin er will! Es ist ja gut, daß er endlich mit der Dummheit aufhört. Hilligenlei suchen?! Verrückt ist der Mensch! Wir sollten Hilligenlei suchen?! Wir?!« Er faßte ihre Hand und ging mit ihr hinaus.
An ihrem Gasthof nahm er Abschied von ihr.
Sie ging hinauf und entkleidete sich und legte sich hin und schlief ein und hatte bald einen wunderlichen Traum. Sie hörte ganz klar und hellklingend ihren Namen rufen: »Anna Boje?!« Sie erkannte gleich an der Stimme, daß es Gott war, der sie anrief und sagte: »Ja, Herr? ...« »Kai Jans hat es aufgegeben, Hilligenlei zu suchen,« sagte Gott; »nun müßt ihr es suchen. Du weißt: einer aus eurer Stadt soll es suchen und finden ...« »Ach, Herrgott!« sagte sie. »Wir Bojekinder finden es niemals, und Pe Ontjes Lau hat lange nicht genug gelernt ...« »Was soll ich denn nun tun?« sagte Gott ... »Ach, Herr!« sagte sie, »Kai Jans wird wieder anfangen, es zu suchen, darauf kannst du dich ganz gewiß verlassen. Glaubst du, daß er auch nur ein Jahr lang mit dem gleichgültigen, glotzigen Grauen geht? Der fängt bald wieder Feuer. Das sitzt nun einmal in ihm. Und wenn er wieder anfängt, es zu suchen: so habe ich eine junge Schwester, die heißt Heinke, und ist schöner und heiliger als ich, die wird ihm helfen, daß er es findet.« Da hob Gott den Finger und sagte: »Du sollst es auch suchen ...« Da erschrak sie wieder: »Herr!« sagte sie. » Ich kann es nicht. Ich bin ein so unruhiges, unglückliches Menschenkind!« Da drohte ihr Gott ernst und verschwand.
Am andern Morgen fuhr sie nach Hilligenlei zurück. Ihre Seele war unruhig und verwirrt.