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Fünfundzwanzigstes Kapitel

So begann nun Kai Jans, in der blau gekalkten Kammer im langen Haus, mit Zittern und Bangen, in den Evangelien zu suchen, wo Hilligenlei wäre.

An jedem Nachmittag kam sie in ihrem fußfreien, dunkelblauen Wollkleid und klopfte ans Fenster. Dann sah er verwirrt von den Büchern auf mit einem Gesicht, als wenn da ein unglaubliches Wesen aus dem Hafenpriel gekrochen wäre und die Stirn gegen das Fenster drückte. Dann ging er mit ihr und war schweigsam. Selbst wenn er neben ihr ging, war er bei der Arbeit.

Wenn sie ihn fragte, wie es vorwärts ginge, schüttelte er den Kopf und sagte: »Mein Freund hat mir alle wichtigen Bücher geschickt, die über den Gegenstand erschienen sind; es sind fast lauter Bücher von deutschen Universitätslehrern. Die meisten kenne ich schon ... Es ist ein buntes und schweres Unternehmen; ich kann mir nicht denken, daß etwas Sicheres herauskommt. Aber ich bin dir doch dankbar, daß du mich zu dieser Arbeit gebracht hast. Wenn ich die alte, heilige Königsquelle auch nicht wieder zum frischen Sprudeln bringe – sie ist zu tief versunken und verschüttet – so ist es schon eine Freude, in dem heiligen Hain zu arbeiten, der im Laufe der Zeit rund um sie gewachsen ist.«

»Siehst du?« sagte sie. »Ja, Heinke Boje!« Und sie nahm seinen Arm und erzählte ihm von ihrer Kindheit, als sie ihm Blumen hatte bringen wollen und hatte es nicht gewagt. »Nun habe ich dir ein feines Blümlein gebracht.« Und dann erzählte sie von ihrem Tun und Treiben.

Aber sie sagte kein Wort davon, daß sie den ganzen Sommer hindurch an jedem Abend auf eines Mannes Schoß gesessen hatte, und daß sie an jedem zweiten Morgen, nach der Weise der Bojekinder auf dem Rand ihres Bettes sitzend, einen Brief von diesem Mann mit heißen Wangen und strahlenden Augen las. Davon sagte sie nichts.

So ging es durch drei Wochen.

Als sie im Anfang der vierten Woche an einem schönen, hellen Septembertag den Deich hinauf kam und ans Fenster klopfen wollte, fand sie ihn nicht wie sonst in den Büchern vergraben, sondern er stand und sah mit sonderbar ruhigen Augen ins Meer hinaus. Er kam gleich heraus mit frischeren Bewegungen, und sagte mit einem Ausdruck von Erregung, indem er ihren Arm umfaßte: »Du ... Es wird deutlich ... Es ist kein Zweifel. Ich kann dir nicht sagen, wie wunderlich mir zumute ist. Es wird immer klarer: es ist ein wunderbar tiefes, reines und tapferes Menschenleben. Es ist rührend vom Anfang bis zum Ende: in seinem Glauben, in seiner Güte, in seinem stolzen Siegenwollen und nicht Siegenkönnen, in seinem Irren und in seinem Untergang. Ich glaube, er geht in keinem Punkt über Menschenmaß hinaus. Es ist ein Drama, und Engel erleben kein Drama. Komm, wir gehen bis ans Meer. Ich will versuchen, ob ich dir etwas davon erzählen kann. Du mußt mich fragen, wenn dich etwas verwundert: so wird mir alles klarer. Ach du, Heinke Boje! Sieh, ich habe ja keinen Menschen, mit dem ich hierüber reden kann.«

Da fing er an und sie hörte genau zu. Oft stockte er und merkte, daß da noch eine Lücke war. Oft machten ihre einfachen, natürlichen Fragen ihn stutzig und zeigten ihm, daß er über eine Stelle zu rasch hinweggeurteilt hatte.

So trieben sie es tagelang. Ihr war alles neu und verwunderlich, was er erzählte, und sie staunte sehr und war froh.

»Ich will noch nichts hinschreiben,« sagte er, »ich will es noch immer wieder, und ganz nüchtern und ruhig, überlegen. Ich will ihn ganz schlicht nach den Urkunden darstellen, und da, wo diese versagen, will ich vorsichtig nur die notwendigsten und kürzesten Verbindungslinien ziehen. Es soll kein Wort da stehen, das nicht dreimal überlegt wäre.«

Im Anfang September versuchte er, mit der schriftlichen Aufzeichnung zu beginnen; aber es zeigten sich überall Schwierigkeiten. Er mußte gleich wieder tagelang in den Urkunden und in den Büchern der Forscher suchen. So ging es wieder durch Wochen. Er schrieb noch immer nichts nieder.

Das Wetter wurde regnerisch und er machte die Gänge auf dem Deich allein. Sie kam abends, und fand ihn still und gedankenvoll. Während sie noch da war, kam sein Vater von der Arbeit, aß nach seiner Gewohnheit in der Küche, auf dem Herd sitzend, und kam dann herein, zündete die kleine Pfeife an und setzte sich zu ihnen.

Dann saß Kai Jans da, noch in Gedanken versunken und hörte nur halb, was der Vater von Menschen und Menschenschicksal erzählte, und sah dabei auf das schöne, ernste Frauenantlitz. So sitzt der Mann nach heißer Tagesarbeit am stillen, ruhigen Waldsee und freut sich seines schönen, tiefen Spiegels und hört über sich die alte, hohe Eiche im Winde reden von allem, was sie gesehen hat.

Das junge Weib aber sah ihn an und dachte in stillem Sinnen: ›Was für ein ernster, ruhiger Mensch ist er jetzt! Er wird mir nun immer lieber. Wenn ich den andern nicht so lieb hätte, wäre ich in schrecklicher Not, daß dieser mich nicht verlangt. Über die Maßen schön muß es sein, von ihm geliebt zu werden. Aber nun ist es so, daß er mein Freund ist, und ich bin glücklich.‹

Je weiter er in das wunderbare Menschenleben eindrang, desto schwerer wurden die Entschlüsse und desto schwerer seine Seele. Tagelanges, trübes Regenwetter kam hinzu. Es quälten ihn schwere Sorgen: wie er mit seiner Arbeit viele gute Menschen vor den Kopf stoßen würde, und wie vielleicht von Natur Rohe, die bisher vor dem ewigen Gottessohn eine heimliche Furcht gehabt hatten, nun ohne Furcht ganz ins Böse geraten würden.

Zuweilen, besonders in der Nacht, wenn die mühselige, unsichere Arbeit und ihre Sorgen ihn weckten ... Regen und Wind schlugen schwer gegen das Fenster ... packte ihn wildes Mißtrauen und heiße Angst: »Du irrst, du irrst! Er war doch ein ewiges himmlisches Wunderwesen. Weh dir, du machst dich ewiger Sünde schuldig.« Und mitten in der Nacht hieß es: »Komm, steh auf! Die beiden Größten deines Volkes stehen vor der Tür und wollen mit dir reden ... Siehst du, was macht Vater Luther für ein zorniges Gesicht: ›Gehst du in deinem Glauben über mich hinweg wie über eine Treppenstufe?‹ ... »Ja, das tu ich!« ... »Sieh, wer steht da hinter Martin Luther? Der Alte von Weimar ist da! Er spottet über dich: ›Ach, gib dir keine Mühe! Du schmilzt nicht zusammen, was nicht zusammenpaßt: Christentum und deutsches Wesen.‹« ... »Das tu ich doch

Dann, wenn der graue sonnenlose Morgen kam, fürchtete er sich vor seiner Arbeit, warf die Feder weg und ging hinaus. Und auf dem Deich, über den der trübe Wind schwerfällig ging und der Regen in schrägen Schwaden flog, stritt er den Streit weiter, und redete mit Gott: »Du weißt, daß ich dich und das heilige Land gesucht habe von meiner Kindheit an, und daß du mir damit Not gemacht hast über alle Maßen. Wo ist die Fröhlichkeit der Jugend gewesen? ... Du weißt, wie es mich alle Jahre gequält hat, daß die Kirche die Helden, die Dichter und Forscher meines Volkes seit zweihundert Jahren beschimpft: sie glaubten nicht an den Heiland und wären keine Christen, und wären von dir verworfen. Soll ich das ertragen? ... Du weißt, wie es mich alle Jahre gequält hat, daß alle Vorwärtsstrebenden in meinem Volk: die Arbeiter, die Seeleute, die Kaufleute, die Gelehrten, die Künstler, alles, was sich den Wind um die Ohren wehen läßt, was frisch und stark ist, mit dem Kirchenglauben zerfallen ist, und ohne Glauben, das heißt ohne fröhliche Gewißheit, dasteht im harten Menschendasein. Soll ich das ertragen? ... Du weißt: daß ich dich ebenso lieb habe wie die, welche den alten Glauben noch haben, und daß ich nicht niederreißen will und daran keine Lust habe, sondern ich habe Lust am Bauen; und will bauen, so gut ich Armer kann, auf dem alten, heiligen Grund, ein neues Haus des Glaubens, und wär' es auch nur eine Blockhütte zuerst, daß die schlichten und ernsten und kindlichen Menschen in meinem Volk darin wohnen und fröhlich sind. Darum wage ich, was ich wage. Und redest du dagegen, so höre ich nicht.«

Wenn er danach heimkam, hatte er wieder Mut bekommen, daß er weitere Aufzeichnungen machte, Schritt für Schritt, vorsichtig, dem Lebensweg des heiligen Helden nachgehend. Abends aber saß er an der Eiche und am schönen, tiefen Waldsee und sagte nichts von dem, was allein eine Sache zwischen Gott und seiner Seele war.

Und endlich kam ein heller, sonniger Septembermorgen, ein Freitag, ein Tag, an dem man rings im Land die Sichel blinken sah und der schöne Weizen gebunden und aufgestellt wurde: da hatte er die Aufzeichnungen zu Ende geführt, sah auch einen Weg, einen hellen und hohen, hinein in die Zukunft der Menschheit. Nun konnte er anfangen, das Ganze als etwas Lebendiges niederzuschreiben. Da atmete er hoch auf.

*

Und als sie kam, reckte er sich und lachte und sagte: »Wie ist mir leicht, und wie bin ich fröhlich! Alle Gespenster sind weg!«

Sie sah ihn mit glücklichen Augen an: »Du siehst aus wie ein junger Bauer, der in dieser Zeit in aller Frühe vor seine Tür tritt und nach dem Kornfeld hinübersieht, das er schlagen will.«

»Und du?« sagte er, und seine Augen strahlten. »Was ist aus dir geworden? Jetzt ... jetzt habe ich wieder Augen, zu sehen wie einst in meinen Berliner Studententagen.«

Da erschrak sie und schwieg.

»Komm,« sagte er, »wir wollen einen langen, langen Weg zusammen machen. Ganz allein ... Was erschrickst du, Kind? Es kann dich nicht wundern, da ich dich so anseh' ... Sieh: mir ist das Leben jetzt hell geworden.«

»Du darfst mich so nicht ansehen,« sagte sie.

Er nahm ihren Arm und ging dicht neben ihr und lachte fröhlich. »Warum darf ich nicht? Du bist nun nicht mehr im Traum zwischen Kind und Weib. Du bist ein ganzes Weib geworden in diesem Jahr. Und was für eins!«

Sie legte ihre beiden Hände um seine Hände und bat ihn mit verhaltener Angst: »Lieber guter Junge ... bitte, bitte, rede nicht so mit mir!«

Aber er sah die Angst nicht. Er sah nur die Freundlichkeit und die Liebe, die in ihren schönen Augen stand, und küßte ihr die haltenden Hände und lachte übermütig und besah die Hand, und küßte sie und redete aus überseligem Herzen: »Ich habe sieben Jahre lang im Sorgenberg gesessen und gegrübelt; da kam das schönste Mädchen im Land und schlug mit klingender Stimme gegen den Berg. Da sprang ich auf und ich sah die Welt und die Sonne und Gottes Reich.« Er faßte ihre beiden Schultern und sah ihr ins Gesicht und sagte: »Sieh mich an ... Sieh mich an! ... Wie schön bist du!«

Sie schrie auf in Not: »Kai, lieber Junge! ... Rede nicht so! ... Ich kann es dir nicht sagen!«

Aber seine ganze Seele klang so überlaut von fröhlichem Jubel. Er hörte nicht die Angst in ihrer Stimme. »Komm, wir wollen auf den stillen Feldwegen nach den Höhen hinaufgehen. Heute nichts als Heil und Freude! Und morgen will ich anfangen, ein Lied vom Heiland zu singen, wie es noch keiner sang.«

»Du lieber Mensch ... Komm, laß uns umkehren ... ich ... ich will dir etwas erzählen.«

»Du hast bisher immer erzählt, und ich war stumm ... Ein stummer, langweiliger Liebster war ich. Du hast nichts von mir gehabt, du armes, armes Menschenkind. Hab' ich dir jemals gesagt, wie schön dein Gang ist? Du gehst wie eine junge Königin, die gesegnet ist. Hab' ich dir jemals gesagt, wie schön du deine Schultern trägst? Als säße auf jeder Schulter eine Taube, die du im Gehen wiegen müßtest. Hab' ich dir jemals gesagt, wie schön dein Haar ist? Ich habe es niemals lose gesehen. Wunderbar muß es sein, wenn es über deine weißen Schultern fällt. Du ... du wirst einen Liebsten haben, der sich deiner freut und kein Träumer ist.« Alle Härte und alle Verschlossenheit war aus seinem Gesicht gewichen und aller Kummer. So wie in einem schönen Garten ein lang verschlossenes, stilles Haus die gereinigten Fenster öffnet und aus der weit geöffneten Tür springt ein Haufe schöner Kinder lachend in den schönen Garten, so blitzte aus den lieben, vertrauten Augen Klugheit und Schönheit; Liebe und Güte stürmten auf sie ein, daß sie ihre Augen nicht abwenden konnte.

»Du bist ganz anders,« murmelte sie erschüttert. »Rede nicht so mit mir! Kai! Bitte, bitte! Nicht so!«

»Ich bin ja derselbe, Heinke, der ich immer gewesen bin,« sagte er mit weicher, mitleidiger Stimme und streichelte ihre Hände: »Ich bin nur lange krank und mühselig gewesen und du hast mit mir leiden müssen. Aber nun bin ich gesund geworden. Erschrick nicht, Liebe du, wenn es so stürmisch hervorbricht.«

»Du lieber Mensch,« sagte sie, »du lieber Mensch!« Und sie legte ihre Hände vors Gesicht und jammerte in ihrer Seele: ›Ich kann es ihm nicht sagen ... ich kann es nicht! Dies ist der erste glückliche Tag in seinem Leben!‹

»Lach mich an, du! Ist dies nicht ein Märchen? Ich armer, kleiner Arbeiterjunge geh' am Deich und das schönste Mädchen im Land geht neben mir. Wohin? Wohin? ... Sieh, wir gehen den grünen Weg, und in einer halben Stunde sind wir auf den Höhen. Menschen sind hier nicht. Wir wollen stundenlang beieinander sein. Ich will eine Stelle am Wald suchen, und will vor dir knien und will dich ansehen, weiter nichts, bloß immer dich ansehen, stundenlang. Eine größere Freude gibt es nicht. Was hast du für ein feines, weißes Gesicht! O, du feines, weißes holsteinisches Mädchen!«

Sie wollte ihn bitten: ›Kai, ich kann nicht ... ich kann nicht! Ich bin eines anderen Braut. Ich habe einen anderen über alles lieb.‹ Aber sie sagte es nicht. Sie konnte es nicht sagen. Seine Augen strahlten so selig und seine Stimme bebte von dem Pochen seines Herzens ... ›So laß ihn den einen Tag glücklich sein ... der arme Mensch! ... Wie köstlich ist er in seiner Freude und wie heiß in seiner Liebe. Die Hände soll er haben ... beide Hände ... mehr nicht ... das andre will ich wehren. Die Hände soll er haben, beide Hände!‹ So ging sie mit erschrecktem, unruhigem Herzen, auf grünen Graswegen, neben ihm durch die fruchtbare, weite, einsame Marsch. Die Sonne schien heiß und stach sehr.

Er war glücklich wie ein Junge. Er lachte, und spielte mit ihren Händen, und ließ sie los und pflückte Blumen, die am Grabenrand standen, und befestigte sie in ihrem Haar und an ihrer Brust und steckte ihr weiße Marienblümchen rund in den Gürtel. Sie ließ es sich gefallen und stand vor ihm und dachte bald in Angst: ›Was für ein Jammer,‹ und dachte bald in süßer Freude: ›Was für ein lieber Mensch. Die Hände soll er haben, beide Hände.‹ Und sie schmiegte ihre beiden Hände in die seinen und dachte: ›Mehr nicht.‹

Eine Stunde später waren sie in tiefster Einsamkeit des Waldes. Sie saß am Rande eines alten, verfallenen Walles, noch mit all ihren Blumen geschmückt, und er kniete vor ihr und hatte seine Arme um ihren Leib gelegt und sah in überschwenglichem Glück zu ihr auf und bat wieder und wieder: »Gib den Mund her.« Und sie beugte sich wieder und wieder und küßte ihn und er redete wie von Sinnen. Allzu plötzlich wurde vor seinen armen Augen alle Herrlichkeit der Welt ausgebreitet, eine Klarheit und strahlende Hoffnung für sich und alle Menschen, und ein schönes, reines Weib.

Über den Wald von Osten her kamen Wolken gezogen. Durch die schwüle Luft fielen die ersten Tropfen schwer und hörbar auf das Laub der Waldbäume.

»Ich kann mich nicht satt an dir sehen. Ich steh' nicht wieder auf. Ich bin so ruhig und so glücklich; zum erstenmal bin ich ganz voll Glück und Frieden ... Was kannst du küssen! Das ist dir angeboren; ich aber muß es von dir lernen.«

»Nun nicht mehr, Kai, nicht mehr! Du lieber Mensch, heute nicht mehr! Morgen ... Ach, morgen! ...«

»Heute und morgen und alle Tage! Ich bin der seligste Mann im Land. Ich habe oft darüber nachgedacht, warum wohl alle anderen so fröhlich wären und so ruhevoll und so harmlos, und ich allein hatte immer Not: Geldnot, Familiennot, Grübelnot. Aber nun ist es mir recht so: so bin ich nun um so seliger und dankbarer, nun ich ins Glück hineinkomme ... Ich war immer fromm, du, das kannst du glauben, von meiner Kindheit an. Ich verehrte immer demütig, was geheimnisvoll über der Welt waltet: aber ich war niemals so fromm wie heute, da ich den Geheimnisvollen im Schönsten seiner Natur erkenne ... Sieh: Nun kann ich das Leben des Heilands erzählen! Aus der Erde wuchs er! Und wurde der Schönste unter den Menschenkindern. Schöner als du.«

Sie saß und hielt seine beiden Hände, die in ihrem Schoß lagen, und sah ihn an. Wie über das gestrandete, schräg liegende Schiff Welle auf Welle braust, bis es ganz zerrissen und versunken ist: so brach seine süße Liebe her über sie. ›Er hat ja alte Rechte. Er war mein Freund von meiner Kindheit an. Ich habe mich geirrt. Ich habe gemeint, er wäre ein Träumer und hätte mich nicht lieb. Ich habe nicht gewußt, wie lieb ich ihn heimlich hatte. Niemals hat er dies neue, wunderschöne Wesen gezeigt. Wie schön ist sein hartes Gesicht und wie schön sind seine klugen Augen ... Weh mir ... was fang' ich an? Was tu' ich?‹ »Laß mich, Kai ... Laß mich ... Kai! Küsse mich nicht mehr.«

»Gib her den Mund. Ich kann diese Nacht nicht schlafen, wenn ich es ein einziges Mal versäumt habe.«

»Es fängt an zu regnen, Kai ... Wir müssen nach Haus.«

»Laß es regnen, Heinke! Laß es regnen. Lauter Segen auf dein liebes, blondes Haar.«

Da beugte sie sich mit heißer Gebärde zu ihm herab und küßte und küßte ihn und zermarterte sich das Herz. ›O, wenn der andere dies Schreckliche wüßte und sähe. All seine liebe, reine Jugend hat er mir in die Hände gegeben, und ich sitze hier so bei einem andern ... O, ich unseliges Menschenkind ... Ich ... ich muß jenen lassen und zu diesem übergehen. Ich habe nicht gewußt, daß ich ihn so lieb habe ... Nein! Nein! Ich kann den anderen nicht lassen; er würde mich verachten und hassen und daran würde ich zugrunde gehn. Ich unseliger Mensch, wie lieb sind seine Augen. Die sind schuld daran. Ich will nicht mehr hineinsehen.‹ Sie warf die Hände vor die Augen und stöhnte heiß auf. »Küß mich nicht mehr ... Es regnet so schwer. Komm ... lieber Kai, ich darf nicht mehr ...«

Er sprang auf und setzte sich neben sie und legte die Arme fest um sie. »Laß es regnen, gib her deinen Mund. Warum ist er so rot und küßt so heiß? Wunderbar ist dein Mund und unsagbar süß sind deine Augen. Merkwürdig, daß deine Wangen nicht glühn.«

»Du mußt sie küssen, Kai; dann glühen sie auch. Komm, Mensch du; du Lieber!« Und sie wandte sich ganz zu ihm und küßte ihn immerzu, auf die Wangen und den Mund; und sie machte ihr Haar, das heruntergesunken war, ganz los, und streichelte ihn mit den weichen Wellen, in welche die schweren Regentropfen fielen. Ihr Atem ging schwer und ihr Leib zitterte. ›Ich muß tun, was ich tu',‹ dachte sie. ›Gott sei mir gnädig. Morgen will ich es ihm sagen. Dies ist ein Tag voll Lachen und Weinen, Küssen und Zähneknirschen. Meine Mutter hat recht, als sie sagte: Ihr Bojekinder müßt alle durch schweres Leid, weil ihr so heiße und stolze Herzen habt.‹ »Komm her, Kai, heute sollst du satt werden, komm her ... So ... Nun küsse immerzu. Lieb und rein sind deine Küsse.«

Ein schwerer, weicher Sommerregen fiel hernieder und durchnäßte das leichte Kleid, daß es sich an Schultern und Brust und Leib legte. Er strich mit leiser Hand darüber hin, und rühmte in heißen, scheuen Worten die stolze Schönheit ihrer Glieder und küßte das nasse Kleid. So saßen sie beieinander, unter jungen Buchen, am Waldrand. Er ein glücklicher Mann, sie mit zerrissenem Gewissen, bis die Dämmerung kam.

Da standen sie auf und gingen den Weg hinab, der von den Hügeln und Waldhöhen schräg in die Niederung führt. Dann mündet er in die Straße, welche nach Hilligenlei führt. Es ist ein uralter Weg. Was ist da alles schon entlang gezogen! Nun wanderten ihn diese beiden Menschen. Er redete von dem andern Tag, wie selig er werden würde; sie schwieg von dem andern Tag, wie jammervoll er werden würde.

Sie kam nach Haus und in ihre Kammer und zog sich mit fliegenden Händen um und rang dabei ihre Hände; und warf sich über ihr Bett und starrte ins Dunkle. Ihre Mutter kam herein und sagte, daß sie zu Anna hinüberginge und den Abend dort bleiben würde. Sie antwortete nicht.

Sie sagte laut, wieder und wieder, und wußte nicht, daß sie es sagte: ›Was soll ich nun tun?‹ Einmal meinte sie eine Weile, es wäre klar: Kai Jans hätte das ältere Anrecht. Aber dann sah sie den andern, allein und traurig, lebenslang im Herzen das bittere Gefühl: ›Was dir das Heiligste war, hat dich betrogen ... ‹ Dann dachte sie sich wieder aus, daß sie an Kai Jans schriebe: ›Ich kann nicht; ich bin eines anderen Braut;‹ dann hörte sie seinen Jammer wie einen Schrei herausbrechen.

Sie wußte sich keinen Rat und fing an, im Hause umherzugehen, als suchte sie irgendwo einen Raum, wo die schwere Not jenseits der Schwelle bliebe, und kam zuletzt, sie wußte nicht wie, in die Giebelstube.

Da fiel sie plötzlich, wie von einer starken Macht niedergedrückt, am Tisch in die Knie, an der Stelle, wo sie immer beieinander gewesen waren, zuerst über den Bildern, dann sie auf seinem Schoß. Da kamen endlich die Tränen. Sie weinte laut auf und streichelte die Decke des Tisches und die Lehne des Stuhles und küßte sie und redete auf ihn ein: »Du mein lieber Vertrauter ... Du Lieber, Guter, hör doch ... Ich kann ja nicht leben, wenn ich dich traurig und allein weiß. Du lieber Junge, wie rasch und fest ergriffst du mich. Wieviel Vertrauen hattest du! Wieviel Güte! Du fragtest nicht, wie steht es um Leib und Seele? Du trautest mir nur Gutes zu. Deine ganze reine Jugend legtest du mir vor die Füße ... Du ... O komm doch ... ich möchte dir so gern zeigen, wie lieb ich dich habe.«

So weinte und streichelte sie und wurde ruhiger. Und das Weinen wurde stiller und sie wurde ganz klar inwendig, und machte Licht und ging nach seinem Schreibtisch und schrieb einen kurzen Brief an Kai Jans. Sie erzählte ihm, wie sie sich verlobt hätte, und wie sie ihm es nicht hätte sagen können. Nun aber müsse sie es sagen, und zugleich, daß sie ihren Verlobten nicht lassen könnte; er würde an Bitterkeit zugrunde gehn, sie selbst an schlechtem Gewissen. »Ich kann nicht, Kai! ... Ich bin allein im Hause; ich bitte Dich, komm zu mir, daß ich Dich tröste. Sei stark! Sei stark! Ich kann Deine Verzweiflung nicht ansehn.«

Eine halbe Stunde später, als sie mit klopfendem Herzen in der untern Stube am Tisch stand und auf jeden Schritt horchte, der draußen auf der Straße ging, kam er.

»Kai!« sagte sie und streckte flehend die Hand nach ihm aus ... »Ich konnte nicht anders sein, als ich war ... heute. Du warst so glücklich und so stürmisch; deine Liebe kam so plötzlich und war so süß. Vergib mir, Kai! O, sei stark ... ich kann und kann ihn nicht verlassen.«

Er war bleich wie der Tod und konnte kein Wort sagen.

Da sank sie auf den Stuhl und lehnte die Arme auf den Tisch und weinte bitterlich. »Armer, lieber Junge. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Sieh mich nicht so verzweifelt an. Was ist das für ein Jammer!«

Er setzte sich ihr gegenüber und fragte sie mit mutloser Stimme: wie sie den andern näher kennen gelernt hätte, wie lange sie miteinander verkehrt hätten, wie vertraut sie miteinander wären, und dergleichen mehr. Beide Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet, die Arme grade, mit überströmenden Augen zu ihm hinübersehend, beantwortete sie kurz, wie vor einem Richter, jede seiner Fragen. Zuletzt sagte sie unter heißen Tränen: »Es ist unmöglich, daß ich von ihm lasse: ich würde ihn auf einen finstern Weg bringen, und dadurch würde auch ich ganz unglücklich. Sein ganzes Herz hängt an mir und meins an seinem. Ich habe dich auch sehr lieb, sehr; schrecklich lieb habe ich dich ... ich habe es nicht gewußt ... so nicht ... Das muß ich unterdrücken.«

»Dann bin ich nun fertig,« sagte er. »Es ist mein Schicksal. Da kann man nicht dagegen angehen. Es kommt bloß darauf an,« sagte er, »was ich nun noch aus mir mache.«

Da schrie sie auf, entsetzt von seinem trostlosen Jammer. Sie sank am Stuhl nieder und streckte die Hände nach ihm aus: »Ich bettle dich an: sei stark. Ich habe dich so lieb. Sei mein lieber Freund. Kai! Vielleicht kommt einmal eine schwere Not über mich oder über meine Kinder ... wer soll mir dann helfen? Du Lieber ... du wendest dich nicht im Zorn von mir; ... das kann ich nicht ertragen.«

Er beugte sich zu ihr und streichelte ihr Haar: »Ich bin dir nicht böse, gar nicht. Wir haben uns nicht vergangen, du nicht und ich nicht. Es ist unser Schicksal. Sei nicht bange. Ich bin ein Mann. Ich will wohl sehen, daß ich den Kopf oben behalte, ich habe ja noch einen alten Vater und habe deine liebe Freundschaft ... So ... so ... wein' nicht so ... Nun laß mich gehen.«

Sie hielt seine Hände und weinte sehr. »Ich will diese ganze Nacht denken, was ich dir Liebes tun will. All mein Lebtag will ich immer denken, wie ich dir eine Freude mache. Ich wäre ja so gern deine Frau geworden, so gern. Er weiß, wie gut und lieb du bist; ich habe ihm viel von dir erzählt; ich will es auch meinen Kindern erzählen ... Hab Mitleid mit mir, Kai, und sei stark, und vernichte nicht mein und sein Leben.«

Er sah auf sie nieder und streichelte ihr wortlos das schöne, helle Haar, immer wieder, mit einem Ausdruck in den Augen, als wollt' er sagen: ›Wie fremd und heilig ist das.‹

Dann ging er.

Er ging nach Hause in die kleine blaugekalkte Kammer, die man von der Küche aus erreicht, in der er von Kind an geschlafen hatte, und legte sich aufs Bett und lag lange unbeweglich und ohne Bewußtsein. Er erwachte davon, daß eine gute, ernste Stimme laut und deutlich, wie in Verwunderung, sagte: »Dachtest du, du könntest das Leben des Heilands lachend erzählen?«

Da schlug er die Hände vors Gesicht und weinte.

*

Am andern Tage bat er sie in einem kurzen Brief, daß sie vorläufig nicht zu ihm kommen möge, da er ihren Anblick nicht ertragen könnte. Er würde die Arbeit vollenden und dann fortgehen. Sein alter Freund hätte ihm geschrieben, daß er Ende nächsten Monats nach Kapstadt ginge. Wahrscheinlich ginge er mit hinaus. Es würde ihn aber freuen, wenn er ihren Liebsten kennen lerne.

Nach acht Tagen kam Peter Volquardsen aus der Heimat zurück, erfuhr alles von Heinke und ging in der Dämmerung zu Kai Jans und sprach mit ihm über alles. Er erzählte, wie er, von guten und klugen Eltern behütet, eine stille, friedliche Kindheit gehabt hätte; wie er dann die Bekanntschaft eines feinen und treuen Mannes gemacht hätte, wie da schon die Kunst mit lieblichem, reinem Angesicht in sein Leben getreten wäre; wie er immer geordnete Verhältnisse und immer den nötigen Rat gehabt hätte; seine Mutter hätte ihn in den innersten und feinsten Angelegenheiten heimlich und klug geleitet, sein Vater und seine älteren Brüder in allen äußeren Dingen. Ohne schwere Not und Zweifel, links und rechts von seinem Weg die gütigen Gaben der Kunst, wäre er so dahingegangen, als durch einen schönen, wenn auch ernsten Garten. Und hätte eines Tags auf diesem Wege das Köstlichste gefunden, mehr als alle Kunst: Heinke Boje. So erzählte er mit klugen, ruhigen Worten und faßte den Arm von Kai Jans. Und zuletzt sagte er: »Ich weiß, daß Ihr Leben anders war.«

Da fing Kai Jans an, von seinem eigenen Leben zu erzählen. Er erzählte mit stiller, ruhiger Stimme: wie seine erste Erinnerung gewesen, daß seine kleine Mutter kein Geld im Hause gehabt hätte, wie sie englische Romane gelesen hätte, und wie die einzigen Bilder, die er gesehen, Berliner Modebilder gewesen wären, und die häßlichen Gemälde in der Kirche. Er erzählte von dem Tag, da seine älteste Schwester nach Hause gekommen wäre und vor der Mutter auf den Knien gelegen hätte und von der Zeit, da er bei Heine Wulk im Windbeuteln Unterricht gehabt hätte. Er kam dann auf den Jammer auf der Klara und auf das elende, wirre Lernen auf der Goodefroo, als die Hand wund war, und er oft gedacht hatte: ›Spring über Bord, du bist zu nichts nütze.‹ Dann kam die Lateinschule, das Gefühl der schlecht sitzenden Kleidung und der schweren Stiefel; das mühselige Stundengeben, das Gefühl, dein Vater ist ein wunderlicher, unklarer Mann; dann die armselige Studentenzeit. Ach, Studentenzeit! Dies verstohlene, hungrige Starren in das große, bunte Leben; dies dumpfe Treiben im Strom der großen Menge; das einzige Erfreuliche: die Freundschaft mit dem Jungen aus dem reichen Hause und ein Blick in freundliche Mädchenaugen. Dann, als er ein Mann wurde, kam das schwere, wunderliche Grübeln. Es legte sich auf seine Seele, wie bleierne Wolken auf ein Land. Es war ein schweres und ängstliches Dunkel und lange wollte es nicht Licht werden. Endlich aber, als das Dunkel grausig wurde, wurde es Licht ... Ja ... und als es Licht wurde: da sah er die Treue und die Schönheit, die neben ihm herging. Er kannte sie von Kind an. Er hatte ein Recht an ihr: er hatte ihrer Seele und ihrem Charakter allerlei Gutes getan. Er meinte, sie gehöre ihm ... wie lieb und schön ist sie ... wie lieb und schön!

So redete zuerst jeder von dem Seinen. Dann sprachen sie über große, ernste Dinge, und es zeigte sich, daß da, bei aller Verschiedenheit der Begabung und des Lebensweges, viel Übereinstimmung war. Und sie gingen mit dem Gefühl auseinander, daß sie Freunde werden könnten.

Nach acht Tagen kam Heinke Boje doch zu ihm. Schüchtern, mit unsäglich lieber Gebärde bat sie ihn, ein Stück Weges mit ihr zu gehen. Er erzählte ihr auf ihre Frage, daß er nun die Darstellung des Heilandslebens angefangen, und daß es mühselig vorwärts ginge; in ungefähr fünf Wochen hoffe er fertig zu sein.

Er veranlaßte sie aber bald, wieder umzukehren. Sie merkte, daß er mit Mühe sprach und blaß war und immer vor sich hin sah.

Da fragte sie ihn mit leiser, bebender Stimme: »Magst du nicht mit mir gehn?«

»Ich kann es nicht!« sagte er und atmete schwer. »Es geht über meine Kraft. Ich kann dein Gesicht nicht ansehen und das Spiel deiner Glieder. Es ist zu schwer.«

Da jammerte sie auf: »Ich armes, unseliges Menschenkind.«

»Es wird anders werden,« sagte er, »wenn Jahre vergangen sind. Aber jetzt bitte ich dich: komm nicht wieder. Ich will noch einmal zu dir kommen, ehe ich weggeh'.«

Sie weinte heiß auf: »Ich wollte so gern, daß du mich lieb behieltest, bis wir beide älter und still geworden sind. Wenn ich dann Hand in Hand mit dir sitzen könnte. Ich kann es nicht ertragen, daß du mir fremd und gram bist.«

»Wie sollte ich dir gram sein?« sagte er. »Hast du dich an mir vergangen? Du bist die Liebe und Treue selber. Ich besitze nichts Schöneres als deine Freundschaft; du kannst glauben, daß ich sie festhalte. Aber jetzt muß ich weggehn, und muß wegbleiben, bis ich stark geworden bin. Nun geh! Sei nicht bange um mich.«

Er gab ihr die Hand und sie ging weinend.

Sechs Wochen arbeitete er nun Tag für Tag; er hörte nichts von ihr. Aber wenn er täglich um vier Uhr den Deich entlang ging, sah er rechts über der Stadt, seitlich der Volkmershöhe, eine einsame Gestalt stehen. Dann stand er still; und sie sahen zueinander herüber. Aber sie wagten nicht, die Hand zum Gruß zu rühren.

Mitte Oktober, an einem schönen Abend, da eine frische, kalte Herbstluft wehte und die goldene Abendsonne die letzten Blätter der Kastanien in Farbenglut tauchte: da kam Heinke Boje von Volkmersdorf zurück und hatte ihn nicht gesehen und kam in ihre Kammer. Da lag da auf ihrem Bett ein Brief, in dem er mit kurzen, lieben Worten Abschied nahm. Daneben lag eine saubere Handschrift, darauf stand in seinen starken und vornehmen Buchstaben, die sie so sehr liebte:

»Das Leben des Heilands, nach deutschen Forschungen dargestellt: die Grundlage deutscher Wiedergeburt.«


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